Michael May, Arne Schäfer (Hrsg.): Theorien für die Soziale Arbeit
Rezensiert von Prof. Dr. Wilfried Hosemann, 19.02.2019
Michael May, Arne Schäfer (Hrsg.): Theorien für die Soziale Arbeit. Nomos Verlagsgesellschaft (Baden-Baden) 2018. 218 Seiten. ISBN 978-3-8487-4939-3. 24,90 EUR.
Thema
Theorien der Sozialen Arbeit sind in Zeiten gesellschaftlicher Veränderungen von besonderer Bedeutung, da sie das Selbstverständnis und die Außendarstellung der Sozialen Arbeit betreffen. Die Vermittlung an die Studierenden ist folgenreich für ihr zukünftiges Klientel und ihr professionelles Selbstverständnis. Mehr Bedeutung geht kaum. Vor diesem Hintergrund verspricht der Klappentext die „aktuell bedeutsamsten Theorien der Sozialen Arbeit“ vorzustellen, den Diskurs zu systematisieren und „Perspektiven der Theorieentwicklung zur Diskussion“ zu stellen. Mehr Anspruch wird selten erhoben.
Herausgeber
Michael May, Professor (habil.), verantwortlich für die Studiengangsleitung Sozialraumentwicklung, und Arne Schäfer, Professor für Soziale Arbeit in Bildungs-, Entwicklungs- und Sozialisationsprozessen, sind Kollegen an der Hochschule Rhein Main, Fachbereich Sozialwesen.
Aufbau
Die Struktur des Buches besteht aus drei Ebenen:
- Texte der Herausgeber,
- Gesamtübersicht und
- Einzelbeiträge zu verschiedenen Theorien.
Die Texte werden nicht nach dem Schema über, für und Theorie der Sozialen Arbeit unterschieden. An die Autoren der Einzelbeiträge wurde ein Fragenkatalog übermittelt. Die Themen entsprechen einem Fragenkanon, den Staub-Bernasconi seit vielen Jahren einsetzt:
- Überblick über die Theorie,
- Was hat Sie dazu gebracht, die Theoriebildung in diese Richtung voranzutreiben?,
- Wie werden Gegenstand und Aufgaben der Sozialen Arbeit in dieser Theorie bestimmt?,
- Wie werden die Adressat_innen theoretisiert?,
- Welche Relevanz hat die Theorie für die Bestimmung des Theorie-Praxis-Verhältnisses?
Die Autor_innen halten sich unterschiedlich an diese Vorgaben. Das Buch enthält keine Autorenhinweise.
Die Deutsche Nationalbibliothek bietet Einblick in das vollständige Inhaltsverzeichnis mit vier Abschnitten./p>
Zu I.
Michael May und Arne Schäfer: Zur Bedeutung von Theorien für die Soziale Arbeit: Eine Begründung
Die Autoren starten ihren Beitrag mit der zentralen Frage: „Was macht den Kern der Sozialen Arbeit aus?“ und verweisen darauf, dass Theorien diesen „Kern herausarbeiten und möglichst genau beschreiben“ wollen (9). Dabei ist mit Kontroversen zu rechnen. Zunächst wird die Diskussion um das Verhältnis von Theorie und Empirie aufgegriffen und betont: Theorien der Sozialen Arbeit sollten „die von ihnen behandelten Sachverhalte möglichst zutreffend beschreiben“ (11). Im Anschluss an Füssenhäuser werden Dimensionen der Theorien Sozialer Arbeit bestimmt und deren Bedeutung für die Praxis interpretiert. „Theoretisches Wissen hilft also, eingeschliffene Deutungsmuster zu irritieren, Situationsdefinitionen reflektierter, differenzierter und analytischer vorzunehmen, um dadurch zu einer bewussteren Praxis zu gelangen“ (16). Um die Funktion von Theorien genauer zu bestimmen, wird gefragt, ob sie als 'Werkzeug' oder 'Landkarte' zu verstehen sind. Die Position der Autoren ist, dass mit der Werkzeug-Metapher die Bedeutung von Theorie 'nur unzureichend ausgedrückt' ist – da der instrumentelle Charakter zu stark hervorgehoben wird gegenüber der Eigensinnigkeit der Personen und der Komplexität der Situationen. Im Vergleich dazu hat die Landkarten-Metapher den Vorteil, die 'orientierende Funktion wissenschaftlicher Theorien' stärker zu betonen (19/20) – was mit Hilfe von Winkler (1988) verdeutlicht wird. Der Schlussabschnitt ist dem Überblick über die nachfolgenden Texte gewidmet und hier wird als die Zielsetzung des Buches genannt: „Die vorliegende Publikation will Studierende dabei unterstützen, Schneisen ins Dickicht der Theorie zu schlagen“ (22).
Zu II.
Michael Winkler: Stationen der Diskussion: Eine historisch-systematische Betrachtung der Vielfalt und Wandelbarkeit von Theorien der Sozialen Arbeit
Am Ende des 1. Kapitels (Theorien) wird das Programm des Beitrages so beschrieben: „Der Weg von der Sozialpädagogik, die das Verhältnis von Gesellschaft und Subjekt als ein pädagogisches Problem begreift, hin zu einer Sozialen Arbeit, die in ihrer Theorie sich diesem Problem verweigert, markiert den Spannungsbogen, auf dem die fünf Stationen theoretischer Vergewisserung eingetragen sind, um die es im Folgenden geht“ (34). Vorher gibt es aber noch „Eine methodische Zwischenbemerkung“ (34) die zwei Vorentscheidungen des Autors erklärt, (a) die Aufmerksamkeit richtet sich auf Problemstellungen, die auch als solche der Pädagogik verstanden werden können und (b) auf die Stationen, die „… selbst mit Impulsen der systematisierten Reflexion zu tun haben,…“ (36). Die fünf Stationen sind:
- Die Einführung des Begriffs Sozialpädagogik,
- Die Sattelzeit,
- Umbruchszeit,
- Jahrhundert der Sozialpädagogik,
- Die Gegenwart.
Winklers Analyse der Gegenwart betont, dass der Soziale Sektor für die „Reproduktion der Gesellschaft unverzichtbar geworden ist“ und „Dementsprechend stellen sich die inneren Strategien im Feld dar: Sozialmanagement und Case-Management zeichnen sich als Formen der Steuerung und der Technik des Umgangs mit Betroffenen ab, von Praxis wird kaum mehr gesprochen“ (53). Am Schluss der Station Gegenwart werden von Winkler zwei Dilemmata aufgezeigt: 1. Es setzt sich zunehmend ein Denken und Handeln durch, „… das sich einerseits auf die Errichtung dürftiger Strukturen richtet, in welchen die Akteure dann selbst zurecht kommen sollen... Auf der subjektiven Seite aber setzen sich Handlungsformen durch, die mit Störungen und deren Behebung zu tun haben. Inklusion wird zu einer Formel“ (54). Zum 2. Dilemma heißt es. Die Soziale Arbeit „diskutiert sich selbst durchaus wissenschaftlich“, aber: „Zugespitzt könnte man auch sagen: Die Frage nach der Subjektivität als der einer Bewältigung alltäglicher Lebenssituationen ist verschwunden“ (54).
Zu III.
Silvia Staub-Bernasconi: Soziale Probleme, Soziale Arbeit und Systemisches Paradigma. Auf dem Weg zur Sozialen Arbeit als kritische Profession
Die Ziele ihres Beitrages umschreibt die Autorin so: Im 1. Abschnitt sollen drei zentrale metatheoretische Grundentscheidungen vorgestellt werden, im 2. das Menschen- und Gesellschaftsbild skizziert werden, dass dem von ihr vertretenem Systemischen Paradigma Sozialer Arbeit zugrunde liegt, im 3. werden zwei wissenschaftliche Gesellschaften kritisiert, die sich auf Soziale Probleme als Forschungsfeld beziehen, im 4. wird eine eigene Theorie Sozialer Probleme begründet und im 5. „Abschnitt werden die wichtigsten Themen der Profession, u.a. ihr Mandat, geklärt und die Vorstellung problembezogener Arbeitsweisen/Methoden eingeführt“ (61).
Entsprechend diesem Programm werden zunächst die Vorstellung von „Welt“ geklärt und „Beispiele für atomistische, holistische und systemische Positionen in den Basisdisziplinen“ gegeben (63). Zu ihrem Menschenbild heißt es: „Es setzt allerdings die Bereitschaft voraus, die falsche Vorstellung vom ‚mathematisch-naturwissenschaftlichen Erklären‘ und ‚geisteswissenschaftlichen Verstehen‘ von Erzeugnissen des menschlichen Geistes zu überwinden, die je nach Fall ‚entleibte Menschen‘ oder ‚geistlose menschliche Körper‘ hervorbringt“ (67). Soziale Probleme entstehen auf der Ebene von Individuen, vielfältiger Interaktionskontexte und 'sozialer Systeme, der Struktur von Gesellschaft' (77/78). Der Weg zur kritischen Professionalität soll über das Triplemandat, die Eingrenzung der Adressatinnen und Adressaten sowie der professionellen Arbeitsweisen gefunden werden, um dann eine „Ausweitung von disziplinärem Wissen und professionellen Antworten auf die zunehmend internationale, multikulturelle Zusammensetzung der Adressatinnen und Adressaten Sozialer Arbeit“ (82) zu schaffen.
Michael Klassen: Systemische Soziale Arbeit
Klassen stellt aus der Perspektive von Staub-Bernasconi Interpretationen der Systemtheorien von Bunge und Luhmann gegenüber und wendet dieses Schema auch beim 'Gegenstand und Aufgabe der Sozialen Arbeit' an (93). Seine Zusammenfassung der Luhmann-Schule: Soziale Arbeit bedeutet Hilfe, „… in deren Rahmen nur diejenigen Probleme wahrgenommen werden, die im Rahmen der organisierten Routinen gelöst oder an die vorhandenen Lösungsansätze angeschlossen werden können“ (95). Bei der 'Theoretisierung der Adressaten_innen der Sozalen Arbeit' werden wieder Interpretationen über Luhmann denen über Bunge gegenübergestellt. Bei Bunge sind Klienten Menschen, die…„Kontrolle über die Aufrechterhaltung ihrer Möglichkeiten der Bedürfnisbefriedigung im Rahmen sozialer Normen verloren haben und damit unter sozialen Problemen leiden“ (96). Am Beispiel der Migration sollen die Unterschiede der Ansätze für die Praxis verdeutlicht werden. So sieht Klassen das Luhmannsche Konzept: „… wo Menschen keine Mitglieder sozialer Systeme sind, kann auch von Integration keine Rede sein“ (98) und die Luhmann-Schule „… verzichtet vollständig auf die Bewertung der Sozialen Probleme der Migrant_innen…“ (101). Währenddessen: Im Lichte des Bungeschen Ansatzes geschieht die Soziale Arbeit mit Migrant_innen „… aufgrund von sozialarbeiterischem Wissen über Soziale Probleme und deren Lösungsmöglichkeiten“ (101). Klassens Fazit: „Den Mächtigen dieser Welt, den Politikern und Wirtschaftsführern, erlaubt der Luhmannsche Ansatz, die Ökonomisierung Sozialer Arbeit zu rechtfertigen und weiter voranzutreiben, sodass durch die ‚Quantifizierung der Geldzahlungen‘ (Luhmann, 1975, S. 141) nicht nur alle Hilfe vergleichbar gemacht, sondern auch motivationale und moralische Begründungen völlig aufgegeben werden können“ (102).
Fabian Kessl: Macht- und diskursanalytische Perspektiven
Kessl orientiert sich an Diskursanalysen (Foucault) und will durch Dechiffrierung und Identifizierung der Logiken von Praktiken eine theorie-systematische Bestimmung Sozialer Arbeit leisten, die den Focus auf der Dimension des Politischen hat (116). Vereinfachte Gegenüberstellungen wie >Gemeinwesenbezug versus Pädagogisierung< oder >Einzelfallbezug versus politische Einmischung< weist er als ungenügend zurück. Kessl formuliert aus machtanalytischer Perspektive: „…der Gegenstand >Soziale Arbeit< lässt sich als gleichzeitige Ermöglichung subjektiver Autonomie und als deren Regulation systematisch fassen“ (120). Zudem macht er klar, „…dass der/die Akteur_in nicht mehr als ‚schlechthin Erstes‘ …“ angenommen werden kann. Weiter: „Der oder die Adressat_in kann z.B. nicht als Quelle der gegebenen und eindeutigen Bedürfnisse oder Interessen angenommen werden, auf die Soziale Arbeit reagieren sollte“ (122). Wir haben zu prüfen, wie Ereignisse zu solchen wurden (123). Dazu brauchen wir eine kritische – theoriegestützte – Distanz um herauszufinden: „… welche Machtwirkungen, welche Deutungs- und Denkmuster wann wie Einfluss gewonnen haben, und wie Alternativen dazu aussehen könnten“ (123).
Holger Ziegler: Der Capabilities Ansatz (und andere Elemente einer materialistisch-emanzipatorischen Theorie Sozialer Arbeit)
Der Autor will zwei wesentliche Bausteine einer materialistisch-emanzipatorischen Theorie der Sozialen Arbeit skizzieren: eine Bestimmung des Gegenstandes der Sozialen Arbeit – Entfremdung – und eine Ausdifferenzierung von Maßstäben und Kriterien dieses Gegenstandes. Dazu nutzt er den von Sen und Nussbaum vorgelegten Capabilities Ansatz (CA). Die Rede von sozialen Problemen verweist unweigerlich auf normative Standards, also sollte eine Theorie der Sozialen Arbeit in der Lage sein, zu zeigen, was an Lebensführungen „problematisier- oder zumindest kritisierbar sein soll“ (130). Dazu braucht es Maßstäbe des Guten und des Gelingenden (131). „Indem die Kategorie der Entfremdung die Frage nach einem gelingendem Selbstverhältnis (als Verhältnis zu den eigenen Tätigkeiten) verknüpft mit der nach einer gelingenden Bezugnahme auf andere und anderes, im Horizont der jeweiligen Möglichkeiten stellt, sich diese Verhältnisse >zu eigen< zu machen, ist sie aber konstitutiv mit der Frage nach einem guten Leben verbunden“ (135). Der Capabilities Ansatz (CA) liefert normative Maßstäbe, die einer begründungstheoretischen Prüfung standhalten und ist anschlussfähig an die Lebensaspekte, die mit dem Begriff Entfremdung umrissen werden und für die Soziale Arbeit von grundlegender Bedeutung sind. Versteht man allerdings den CA „… als einen Theorieansatz für die Soziale Arbeit, kann er an diesem Anspruch nur scheitern“ (138). „Wenn sich die Soziale Arbeit auf den CA bezieht, geht es weniger um die Frage, ob sich eine >capabilities-orientierte Soziale Arbeit< formulieren lässt, sondern ob es möglich ist, strapazierfähige Kriterien zur Evaluation einer emanzipatorischen Sozialen Arbeit zu begründen“ (142).
Cornelia Füssenhäuser: Lebensweltorientierung und Lebensbewältigung
Die Autorin hat die Aufgabe übernommen zwei Theorien der Sozialen Arbeit in ihren Kernpunkten zu rekonstruieren. Die lebensweltorientierte Soziale Arbeit „… orientiert sich an den Adressaten_innen Sozialer Arbeit, an den Selbstdeutungen ihrer Verhältnisse sowie ihren lebensweltlichen Anstrengungen, räumliche, zeitliche und soziale Bezüge zu gestalten“ (147). „Eine bewältigungsorientierte Soziale Arbeit zielt darauf, Menschen in kritischen Lebenslagen so zu unterstützen, dass sie Anerkennung erfahren, psychosoziale Handlungsfähigkeit und soziale Orientierung (wieder)erlangen und (neue) soziale Bezüge aufbauen können (Böhnisch, 2012,2016a)“ (147). Über die Kapitel: Entwicklungslinien der Lebensweltorientierung und Lebensbewältigung, Gegenstand und Aufgabe Sozialer Arbeit, Adressat-innen, Relevanz der Lebensweltorientierung und Lebensbewältigung für die Bestimmung des Theorie-Praxis-Verhältnisses führt Füssenhäuser zum Abschluss die „Gemeinsamkeiten und Differenzen von Lebensweltorientierung und Lebensbewältigung“ auf. Beide Theorien sind in den letzten Jahrzehnten ausgearbeitet worden, fachlich und politisch relevant und anerkannt sowie über empirische Forschungsarbeiten in ihrer Wirksamkeit reflektiert (165). Lebensweltorientierung: „…fragt nach den Möglichkeiten im Gegebenen, nach Voraussetzungen in den Menschen, einen zunehmend gelingenden Alltag realisieren zu können“ (165). „Dagegen fokussiert die Lebensbewältigung, aufgrund ihrer Verortung in der Individualpsychologie, stärker auf die Entgrenzung des Subjektes, auf dessen Betroffenheit und Hilflosigkeit: Soziale Arbeit, so Böhnisch (2016c), hat es in der Mehrzahl der Situationen mit ‚massiven Selbstwert- und Anerkennungsstörungen‘ (ebd. S. 12) zu tun“ (165). Sie will in die „Tiefenschichten lebensweltlicher Ausdrucksmuster vorstoßen“ – die Lebensweltorientierung richtet sich eher an „Alltäglichkeit in ihrer Pragmatik und ihren Routinen“ aus (166).
Magret Dörr: Psychoanalytische Soziale Arbeit
Für Dörr liegt das Besondere, welches den Beinamen pyschoanalytisch rechtfertigt, im konstitutiven Moment einer Praxis, in der es mit den Adressaten_innen gelingt, „… den gemeinsam erzeugten Inszenierungen mit ihren Übertragungen und Gegenübertragungen ‚Gehör‘ zu schenken“ (188). Es kommt darauf an, eine Einstellung zur Wahrheitssuche einzunehmen, …„die das dialektische Spannungsverhältnis von Sprache, Interaktion und Lebenspraxis zu berücksichtigen weiß“ (188). Die Autorin wirft zunächst einen Blick auf die Anfänge der Psychoanalytischen Bewegung (mit dem Schlüsselbegriff 'sozialer Ort' von Bernfeld) und geht dann auf die Psychoanalytische Pädagogik nach dem 2. Weltkrieg ein, insbesondere auf A. Lorenzer und das 'szenische Verstehen' (179). Der umfangreichste Abschnitt ist der Diskussion um den Wissenschaftscharakter einer Psychoanalytischen (Sozial)Pädagogik gewidmet (180). Dazu wird u.a. der Gegenstand und die Aufgabe der Psychoanalytischen Sozialen Arbeit beschrieben, zu der insbesondere Burkhard Müller betont hat, dass es nicht nur um das szenische Verstehen geht, sondern um die Notwendigkeit der Aufklärung über Bedingungen und Grenzen sozialpädagogischer Prozesse und sozialarbeiterischen Handelns (183). Zur Frage, wie Adressat_innen theoretisiert werden, führt Dörr aus: „Sowohl ein >diagnostisches Fallverstehen< als auch das daraus resultierende methodische Handeln zielt auf das Verbinden der formalen äußeren Strukturen (einschließlich der Verwaltung) mit den inneren Erfahrungsstrukturen der Klientel (biografische Sinndimension)“ (187). Menschen werden mit Lösungen, mit denen sie und/oder ihre soziale Nahwelt nicht mehr zurechtkommen, zum >Fall< für die Soziale Arbeit. „Daraus ergibt sich eine radikale Subjektorientierung, die sich einer einseitigen Opferorientierung entgegenstellt“ (186). Zum Theorie-Praxis Verhältnis der Psychoanalytischen Sozialen Arbeit heißt es, dass an gängigen Professionalisierungsdiskursen zu kritisieren ist, dass die affektiven Handlungselemente ausgeblendet werden (189). Aus psychoanalytisch orientierter Sozialer Arbeit gehört „… zur professionellen Kompetenz auch die Fähigkeit, die affektiven Handlungselemente und deren Bedeutung nicht bloß bei anderen, sondern auch bei sich selbst wahrzunehmen“ (189).
Zu IV.
Michael May und Arne Schäfer: Aktueller Stand der Diskussion und Perspektiven für die Zukunft der Theorien Sozialer Arbeit
Die Autoren fassen die Beiträge des Bandes unter den Perspektiven 'Gegenstand und Aufgaben der Sozialen Arbeit', 'Adressatinnen und Adressaten' und 'Theorie-Praxis-Verhältnis' zusammen und wollen so den „Gebrauchswert von Theoriearbeit“ (200) verbessern, über das „Verhältnis von Zusammenhang und Kontinuität“ (Negt/Kluge) hinausgehen und: „Zugleich wollen wir damit ‚dogmatischen‘ Tendenzen entgegenwirken und zu einem eigenständigen kritischen Weiterdenken anregen“ (200). Den Abschluss des Buches bildet ihr Kapitel: „Ausblick: Theorie der Sozialen Arbeit: disziplinär – interdisziplinär – transdisziplinär?“ (208). Hier wird zunächst wieder auf die Differenz von Sozialpädagogik vs. Sozialarbeit eingegangen, dann wird eine Auseinandersetzung mit der Standortbestimmung der Sozialen Arbeit von Thole (2012) geboten, um den Band mit den Hinweisen zu beenden, dass Theorie auch weiterhin die „… nicht unmittelbar gegenwärtigen Handlungsvoraussetzungen in den Blick nehmen“ muss (214) und einen utopischen Gehalt haben sollte (215).
Diskussion
Die Grundlagen für die Diskussion liegen in der Struktur, den Inhalten und der Art der Argumentation, die im Buch zum Tragen kommen. Die Texte sind qualitativ so unterschiedlich, dass die Beiträge einzeln diskutiert werden müssen. Bei den hochgesteckten Ansprüchen liegen eine Reihe von Fragen nahe:
- Entspricht die präsentierte Theorielandschaft der aktuell diskutierten und das Buch den selbstgesteckten Zielen?
- Welche Perspektiven bietet der gewählte Theorieausschnitt auf die Lage, die Probleme und die Herausforderungen der Sozialen Arbeit?
- Nicht zuletzt: Bücher, die verschiedene Theorien der Sozialen Arbeit interpretieren, schaffen eine herausragende Chance zu wechselseitigem Verständnis unterschiedlicher Positionen beizutragen. Wie ist das Buch von May und Schäfer vor diesem Hintergrund einzuschätzen?
May/Schäfer bekennen sich zur „Karten-Metapher“ als angemessene Interpretation von Theorie. Das ist erstaunlich. Denn das Bild von den Karten verdeutlicht: Wir können niemals mit Karten 1:1 leben, da müsste das Land unter der Karte stecken und wir hätten nicht zu lösende Probleme der räumlichen und zeitlichen Repräsentation. In einer Beratung ist es ausgeschlossen sich 1:1 informieren zu lassen, weil die Ratgebenden in der Regel nur 40 Stunden arbeiten. Wer sich da in einer Familie alles 1:1 erzählen lassen will, kommt nicht weit. Also brauchen wir Karten, die auf ausgewählten und angeregten Unterschieden aufbauen (siehe Bateson 1981). Die gilt es zu reflektieren. Die Kartenmetapher gehört daher zu der ausgiebig diskutierten Grundlage des konstruktivistisch-systemischen Ansatzes. Dass die „Karten-Metapher“ am Schluss des Beitrages von May/Schäfer genutzt wird, um auf die Verantwortung der Praktiker vor Ort hinzuweisen (S. 21: „… indem sie die Autonomie der praktisch Tätigen unterstreicht.“), entspricht weder ihrem wissenschaftlichen Diskurs, noch angemessenem Stil oder der Verbesserung der Rezeption von Theorien.
Winkler: Für einen Beitrag (a) in diesem Umfeld und (b) mit dem Anspruch einer historisch-systematischen Betrachtung, ist die Literaturliste und der Umgang mit Kollegen erstaunlich. Lediglich ein Beleg ist von 2011, alle anderen sind deutlich älter. Die Reflexionsstation 'Gegenwart' kommt ohne deutschsprachigen Literaturhinweise aus. Böhnisch wird mit einem Text von 1982 erwähnt, die Mitautorin Füssenhäuser stellt dagegen heraus, dass für Böhnisch die 'Pädagogik zum Mittel der Wahl wird', der gesellschaftlichen bedingten Dauerkrise zu begegnen (in diesem Band S. 157). Sie würdigt seinen pädagogisch orientierten Ansatz 'Lebensbewältigung' ausführlich und führt 14 Veröffentlichungen auf, davon zehn ab 2012.
Winklers Sprache bei seinen Zusammenfassungen fällt ebenso auf. Bei der Beschreibung der zweiten Station der Sozialpädagogik (Sattelzeit) zwischen 1890 bis 1914 heißt es: „Gesellschaftliche Erziehung erzeugt eine Bestialität des Sozialen, weil sie den Menschen die Subjektivität verweigert, der moralisch begründetes Handeln erst entspringen kann“ (44). Für das Jahrhundert der Pädagogik fasst er zusammen: „Grundlegende konzeptionelle Überlegungen werden selten, am Ende verschwindet bemerkenswerterweise im Erfolg des sozialpolitischen Denkens das pädagogische Moment … Damit werden zugleich Vorstellungen von Emanzipation und Mündigkeit suspendiert,…“ (51). Für die Gegenwart gilt: „Pädagogik wird nun inhaltlich getilgt, die Erziehungswissenschaft als Bezugsdisziplin aufgegeben.“ „Vermutlich geht es um Trivialeres: Die leitenden Angehörigen des sozialen Systems möchten auf Augenhöhe mit den Vertretern der anderen gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Akteure verkehren“ (53). Am Ende des Abschnitts steht: „Zugespitz könnte man sagen: Die Frage nach der Subjektivität als der einer Bewältigung alltäglicher Lebenssituationen ist verschwunden“ (54). Wie das zur sogenannten Therapeutisierung der Sozialen Arbeit passen soll, wird leider nicht erklärt. Der Kern seiner Botschaft steht schon in der Einleitung: Ein „auf Befreiung und Individualisierung gerichtetes Denken“ hat die Pädagogik abgeschafft (33). Symptomatisch sei, von Sozialer Arbeit zu sprechen und nicht zu sehen, dass der Begriff Arbeit kontaminiert ist: „Um mehr als kapitalistische Lohnarbeit geht es da bekanntlich nicht“ (33). In der Schlussbemerkung wird der Sozialen Arbeit bescheinigt: „Sie weiß nicht mehr, was sie tut… “ und könne „…schneller von anderen Professionen und Disziplinen verdrängt werden, als ihr selbst lieb sein mag“ (55).
Woran liegt das? Weil die Soziale Arbeit, gerade wenn sie sich als kritische versteht, affirmativ wirkt und das kapitalistische System stützt („Sie gibt Impulse,…, die dazu führen, dass das kapitalistische Ausbeutungssystem erhalten bleibt“, 55) und das emanzipatorische Denken der Pädagogik keine Rolle mehr spielt. Wer, wie der Autor der Rezension, in den 70iger Jahren in Berlin Sozialpädagogik studiert hat, ist von der Schlussfolgerung nicht überrascht, dass kritische Theorien die Position des Kapitalismus nur stärken, weil sie ihm die Möglichkeit der Nachsteuerung eröffnen. Das war gängiges Wissen auf vielen Flugblättern. Verblüffend ist, dass dies für die 'emanzipatorische Dimension von Pädagogik' nicht gelten soll (55). Wer den Beitrag von Winkler ernst nimmt, braucht eigentlich nicht weiter zu lesen, um verschiedene Theorien der Sozialen Arbeit zur Kenntnis zu nehmen.
Der Beitrag von Staub-Bernasconi sprengt die Möglichkeiten einer Rezension in diesem Rahmen. Er steckt so voller frei gewählter Voraussetzungen, Behauptungen, nicht nachvollziehbarer Übergänge und Zusammenfassungen, dass er sich einer Rezension entzieht. Wer auf 6 Seiten die philosophischen Grundlagen der „Welt“ erläutert (61), plus Ontologie (Atomismus, Holismus, philosophischer Systemismus), Erkenntnistheorie und einer Definition von Wahrheit, reduziert Komplexität über die Maßen und immunisiert sich gegenüber Nachfragen. Staub-Bernasconi schafft einen 'dichten und zugleich frei schwebenden Text' aus persönlichen Interpretationen und internen Verweisungen. Am Schluss der Passage – „2. Grundzüge des systemphilosophisch begründeten Paradigmas als Grundlage für die Soziale Arbeit als Disziplin“ – heißt es:
„Während sich die Intuitionistinnen und Intuitionisten nicht um die Theorie-Daten-Beziehung kümmern; die Konstruktivistinnen und Konstruktivisten davon ausgehen, dass es keine solche gibt; die Pragmatistinnen und Pragmatisten sich damit zufriedengeben ‚if it works‘, die Konsenstheoretikerinnen und Konsenstheoretiker sich auf die Analyse von Kommunikation/Diskursen konzentrieren und auf zwanglose Zustimmung hoffen, gehen Vertreterinnen und Vertreter eines erkenntnistheoretischen und wissenschaftlichen Realismus davon aus, dass Wahrheit die Frage nach der Beziehung zwischen Theorie, theoretischen Aussagen und Fakten stellt“ (66).
Staub-Bernasconi beschreibt einen „konstruktivistischen Turn“ der Wahrnehmung der sozialen Probleme in der Sozialen Arbeit und fasst die Folgen so zusammen:
„Da es keine objektiv überprüfbaren Wahrheitskriterien gibt, ist es unerheblich, ob es sich um reale, ideologisch missdeutete oder geleugnete Probleme handelt. Somit werden die Adressatinnen und Adressaten mit ihren Problemen und Leiden quasi ‚theoretisch enteignet‘ und verlieren dabei ihren Anspruch auf Hilfe oder Unterstützung, sofern sich niemand in der Öffentlichkeit erfolgreich für sie anwaltschaftlich ein- und durchsetzt“ (74).
Die Autorin stellt zu ihrem Leitbegriff 'soziale Probleme' zwei wissenschaftliche Gesellschaften vor, nimmt aber keinen Bezug zur Fachdiskussion in der Sozialen Arbeit, z.B. zu Böhnisch/Schröer (2013), Soziale Arbeit: eine problemorientierte Einführung. Der Ansatz von Staub-Bernasconi firmierte früher unter dem Titel ontologischer Systemismus, dann Zürcher Schule, jetzt wird ein Systemisches Paradigma der Sozialen Arbeit draus. Vor dem Hintergrund der systemisch-konstruktivistischen Praxen und Theorien der Sozialen Arbeit ist dieser Anspruch – zumal ohne Verweis auf diese – als übergriffig zu kennzeichnen. Die wichtigen Aspekte zur Entwicklung der Sozialen Arbeit, die Staub-Bernasconi mit dem Konzept des Tripelmandates (81) und der Betonung der internationalen Verflechtungen vertritt, gehen leider unter.
Klassen arbeitet als Professor für Theorien und Geschichte der Sozialen Arbeit ebenso wie die Herausgeber an der Hochschule Rhein Main im Fachbereich Sozialwesen. Er ist Staub-Bernasconi Schüler und seit seiner Dissertation bei ihr als ein ausgewiesener Gegner des systemisch-konstruktivistischen Ansatzes in der Sozialen Arbeit bekannt. Was ihn legitimiert – entsprechend der Überschrift – diesen Ansatz zu vertreten, ist nicht nachvollziehbar. Als Vertreter der systemischen Perspektive der Sozialen Arbeit werden von ihm Baecker, Bommes & Scherr, Eugster, Hillebrand, Fuchs, Merten, Kleve und Ritscher genannt und als Vertreter Luhmanns zusammengefasst (93). Die unterschiedlichen Ansätze und Zielsetzungen ihrer Arbeiten spielen keine Rolle. Erstaunlich bei dieser Bandbreite ist, warum nicht auch Hafen, Hohm, Herwig-Lempp, Kraus, Krieger, Lambers, Maaß, Milowiz, Winkelmann, Wirth u.a. aufgeführt werden. Vielleicht weil dann die fachliche Anerkennung und die Bedeutung dieses Ansatzes deutlich würden und folgendes Fazit ausgeschlossen wäre?
„Die Luhmannsche Systemtheorie z.B. erlaubt einigen Sozialarbeiter_innen, jede Rechenschaft für die Folgen ihres eigenen professionellen Handelns zu vermeiden und die Mitverantwortung für misslungene Intervention auf die autopoietisch geschlossenen sozialen und psychischen Systeme zu verschieben. Sie gestattet ferner, die moralischen Verpflichtungen gegenüber Klientel und Gesellschaft – den ethischen Berufskodex inklusive – unberücksichtigt zu lassen und sich jeglicher Auseinandersetzung mit Macht- und Herrschaftsfragen zu entziehen“ (102).
Diese Aussage ignoriert die theoretischen Grundlagen und den Stand der Diskussionen völlig (siehe z.B. Kraus/Krieger: Macht in der Sozialen Arbeit, 4. Auflage, oder Krieger/Barra, Systemisch-Kritisch? Zur Kritischen Systemtheorie und zur systemisch-kritischen Praxis der Sozialen Arbeit).
Mit dem Beitrag von Fabian Kessl beginnt der Teil des Buches, der sich auf den aktuellen Stand der wissenschaftlichen Fachdebatte einlässt. Er bietet ein Theorieangebot aus 'über' und 'für' die Soziale Arbeit an und ein herausragendes Bollwerk gegen die willkürlichen und reflexionsfreien Setzungen von Klienten als Ausgangs- und Endpunkt Sozialer Arbeit. Kessls abschließender Hinweis unter Bezug auf Adorno: „Eine Theorie, die sich als Handlungsanweisung präsentiert, ist keine solche…“ (123), kann als vehementes Plädoyer gegen simplifiziernde Handlungsanweisungen gelesen werden, die sich als Theorien geben.
Zieglers Beitrag weist einen Weg auf, die Handlungsfähigkeit der Sozialen Arbeit zu begründen und zu erweitern. Soziale Arbeit muss soziale Situationen bewerten und einstufen, um Zuständigkeit beanspruchen zu können. Dafür ist es erforderlich, normative Grundlagen zu bestimmen und auszuweisen. Sie muss ihre Vorstellungen zu gelingendem und integriertem Leben entsprechend wissenschaftlichen Diskursen und öffentlichkeitsfähig begründen können. Dies ermöglicht Zieglers Ansatz. Die Gegenstandsbestimmung der Sozialen Arbeit über Entfremdung kann in einer positiven Lesart als soziale Freiheit bestimmt werden, für die der CA Hinweise und Kriterien bietet, die im Rahmen Sozialer Arbeit operationalisiert werden können.
Füssenhäuser bietet eine dichte und präzise Zusammenfassungen der Theorien der Lebensweltorientierung und der Lebensbewährung und erlaubt so eine ertragreiche Zusammenschau. Sie verweist darauf, dass der Begriff der sozialen Gerechtigkeit als normativer Rahmen in beiden Konzepten zentral ist (167) und gesellschaftliche Integrationsdefizite sowie gesellschaftliche Teilhabe thematisiert werden. Welche strukturellen Potenziale die beiden Theorien haben, über die Klientenperspektiven – und auch über die berechtigten Interessen einer Gruppe, den sogenannten identitätspolitischen Fragen – hinaus, die sozialen Fragen aufzunehmen, die alle am Gemeinwesen Beteiligten betreffen, wird leider nicht systematisch diskutiert. Die Themen soziale Gerechtigkeit und sozialer Nutzen betreffen die Nicht-Adressaten der Sozialen Arbeit ebenso wie weit entfernt (bzw. noch nicht) lebende Gruppen und die Umwelt – und diese Perspektiven gewinnen in der öffentlichen Debatte an Gewicht.
Dörr argumentiert, dass neben Theorie-Wissen und tiefen-hermeneutischer Kompetenz die „Fähigkeit zum selbstreflexiven Umgang mit Emotionen“ (189) eine wesentliche Bedingung für die Ausgestaltung von (sozial-)pädagogischen Beziehungen ist. Ohne Zweifel eine grundlegende Perspektive, die immer wieder re-aktualisiert gehört. Zweifel kommen bei der Subjektorientierung (186) auf, auch wenn von ihr aus konsequent die sozialen Verhältnisse adressiert werden. Denn die Fortsetzung zu folgenden Positionen: radikal subjektiv für Kinder, Frauen, Flüchtlinge, geht nicht mit sozialer Gerechtigkeit weiter, sondern mit: radikal subjektiv für Steuerzahler, Natur, Internetnutzer. Auch hier werden gesellschaftliche Verhältnisse adressiert.
May/Schäfer: Für den Stand der Diskussion und die „Zukunft der Theorien Sozialer Arbeit“ stellen sie gleich zu Beginn heraus, wie wichtig es wäre, „… wenn die verschiedenen Ansätze in einen kritischen Diskurs miteinander kämen, …“ (199), denn die Theoriebildung würde ja vor allem durch „… wechselseitige solidarische Kritik und Gegenkritik vorangetrieben“ (199) und weiter zum Nebeneinander der Theoriebildung: „Es ließe sich fast von Ignoranz sprechen, mit der sie in einzelnen ‚Schulen‘ betrieben wurde und wird“ (199). Dass sind ja klare Ansagen und daher: Wie sieht es mit ihrer Umsetzung im vorliegenden Buch aus? Auf H. Lambers, „Theorien der Sozialen Arbeit – Ein Kompendium und Vergleich“ (4. Auflage), wird an keiner einzigen Stelle verwiesen. Es werden auch keine anderen Bücher zu Theorien der Sozialen Arbeit erwähnt oder die Auswahl der Theorien in Bezug auf andere Autoren diskutiert – es gibt nur einen Hinweis (200) auf die ausführliche Darstellung des Theoriediskurses bei May (2008). Immerhin schon zehn Jahre her. Gemacht wird, was beklagt wird. Vergleichbare Publikationen aus dem Jahr 2018 zeigen eine bedeutend andere Theorielandschaft, siehe Sandermann/Neumann, Grundkurs Theorien der Sozialen Arbeit, Engelke/Borrmann/Spatscheck, Theorien der Sozialen Arbeit, sowie Hammerschmidt/Aner/Weber, Zeitgenössische Theorien der Sozialen Arbeit, oder das genannte Buch von Lambers.
Der Umgang mit den systemtheoretisch-konstruktivistischen Theorien entspricht in keiner Weise den oben aufgeführten Zielen. Wie soll das zum anzustrebenden erhellen von 'Blindstellen' (199) passen: Diesen Ansatz nicht darzustellen, sondern einem bekannten Kritiker zu überlassen und die Sprachregelung von Staub-Bernasconi begründungsfrei zu übernehmen, mit der Konsequenz, dass der Beitrag von Klassen inhaltlich umgedeutet werden muss (206). Wenn es aber darauf ankommt die Position von Thole zu kritisieren, wird von 'vielen Ansätzen' geschrieben, „… die eine Theorie Sozialer Arbeit im Anschluss an die Luhmannsche Systemtheorie zu entwickeln bestrebt sind,…“ (211).
Es bleiben auch andere Fragen ungeklärt. Wie sieht es mit der 'unzweifelhaften Notwendigkeit' (214) aus, dass Theorien die Handlungsvoraussetzungen in den Blick nehmen sollen? Theorieentwicklung wird ausschließlich auf die Entwicklung von Theorie ausgerichtet, im konkreten Fall wird nur auf einen Text von Thole aus dem Jahr 2012 Bezug genommen. Was bleibt dann von der Landkarten-Metapher übrig? Sicher, die Karte ist nicht die Landschaft, aber warum ist die Landschaft und ihre Veränderungen keine Diskussion wert? Wo doch die Karte-Landschaft-Beziehung von größter Bedeutung ist, wie auch Staub-Bernasconi immer wieder betont, und für deren Interpretation andere Autoren Beiträge zu einer integrierten 'Real- und Theoriegeschichte' leisten (Hammerschmidt/Aner/Weber, Zeitgenössische Theorien Sozialer Arbeit). Bei May/Schäfer bleibt wenig übrig von der Landschaft und deren Zukunft: Die vielfältigen Beziehungen zur Globalsierung werden nicht ernsthaft in den Blick genommen, die Folgen der Digitalisierung bleiben unerwähnt, es gibt bezogen auf Deutschland keinen Ost-West Konflikt und die europäische Union oder Entwicklung ist auch keine Rede wert. Dass sich Studierende von einem solchen Theoriediskurs nicht angezogen fühlen, verwundert nicht.
Fazit
Eine Schneise in das Dickicht der Theorie zu schlagen sieht anders aus. Nur von Füssenhäuser werden wissenschaftliche Theorien der Sozialen Arbeit vorgestellt und von Kessl, Ziegler und Dörr vergleichbare Beiträge geleistet. Bei den anderen Kapiteln des Buches entsprechen Auswahl, Inhalt und Argumentationsweisen nur begrenzt dem aktuellen Stand der Theoriediskussion der Sozialen Arbeit. Überdies ist die Okkupation des „systemischen Paradigmas“ und „systemischer Sozialer Arbeit“ für ein systemtheoretisches-ontologisches Konzept fachwissenschaftlich unhaltbar und entwertet eine erfolgreiche Praxis. Dieses Lehrbuch informiert Studierende der Sozialen Arbeit nicht hinreichend, nicht angemessen und verwischt die Bedeutung von wissenschaftlich fundierten Argumenten.
Rezension von
Prof. Dr. Wilfried Hosemann
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Zitiervorschlag
Wilfried Hosemann. Rezension vom 19.02.2019 zu:
Michael May, Arne Schäfer (Hrsg.): Theorien für die Soziale Arbeit. Nomos Verlagsgesellschaft
(Baden-Baden) 2018.
ISBN 978-3-8487-4939-3.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/24772.php, Datum des Zugriffs 12.10.2024.
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