Kilian Mehl (Hrsg.): Erfahrungsorientierte Therapie
Rezensiert von Prof. Dr. Dr. Hans-Peter Heekerens, 27.12.2018

Kilian Mehl (Hrsg.): Erfahrungsorientierte Therapie. Integrative Psychotherapie und moderne Psychosomatik. Springer (Berlin) 2017. 181 Seiten. ISBN 978-3-662-54544-7. 26,99 EUR.
Einleitung
„Der Neurotiker ist nämlich, wie Helmut Schulze überzeugend dartut, ein Spezial- und Extremfall des Homo consumens. Vielen Neurosen liegt eine Störung der Selbstwert-Einschätzung des Patienten zugrunde, die ihrerseits ihre Ursache meist in seinem Versagen vor Konfliktsituationen hat. Zu solchem Versagen neigt der moderne Zivilisationsmensch um so mehr, je weniger Erfahrung er im Meistern von Umweltsituationen hat, die ihm nicht schablonenhaft vorgegeben sind, sondern individuelles und schöpferisches Handeln von ihm verlangen. Er hat nie erfahren, daß ein Hindernis, das man mutig angeht, sich meist als nicht gar so groß erweist, wie es vorher geschienen hatte.
Was liegt nun näher, als den Neurotiker aus seiner verfahrenen Konfliktsituation, seiner passiven Konsumenten-Haltung und seiner Selbstwert-Unterschätzung dadurch herauszureißen, daß man ihn in eine ihm neue, in hohem Maße allgemein erregende Grenzsituation bringt, in der er sich in einer für den Therapeuten voraussagbaren, für den Patienten selbst aber durchaus überraschenden Weise bewährt? Dies ist, in grob vereinfachter Form dargestellt, das Prinzip der von Helmut Schulze angewandten Grenz-Situations-Therapie.“
Viele Erlebnispädagog(inn)en werden sich beim Lesen des obigen Textes sagen: „Kommt mir irgendwie bekannt vor.“ Und dann fragen: „Und vom wem stammt das?“ Manche ferner: „Wer ist denn dieser Helmut Schulze?“ Nun, das obige Zitat stammt von Konrad Lorenz und findet sich (auf S. VIII) in seinem Vorwort zu Helmut Schulzes „Das Prinzip Handeln in der Psychotherapie. Ein Beitrag zur Verhaltensanalyse und Verhaltenstherapie der Neurosen“ (Stuttgart: Enke, 1971; zitiert nach der 2. Aufl. 1975).
Helmut Schulze, den Werner Michl (2018) völlig zu Recht den „Wegbereitern der Erlebnistherapie“ zurechnet, war ein Baden-Badener Arzt und Psychotherapeut, der bei der Behandlung von Angststörungen als „Ergänzungstherapie“ zur Psychotherapie seine „Grenzsituationstherapie“, die er als einen „verhaltenstherapeutischen Behandlungsansatz“ ansah zur Anwendung brachte: Patient(inn)en mit Angststörungen wurden – ganz im Sinne der verhaltenstherapeutischen Reizfrontationstherapie – in Situationen gebracht, in denen Angst aktiviert wurde und gemindert bzw. gelöscht werden konnte. Das „Arrangieren“ solcher Grenzsituationen bestand hauptsächlich darin, dass er, Besitzer eines Pilotenscheins, mit den Patient(inn)en in kleinen, möglichst offenen Motor- und Segelflugzeugen flog; er nennt aber auch andere Möglichkeiten, um Grenzsituationen „herzustellen“: Schwimmen, Radfahren, Bergsteigen (er war begeisterter Bergsteiger) u.a.m..
Helmut Schulze ist ein frühes, heute meist vergessenes Beispiel dafür, dass im Rahmen ärztlichen Handelns erlebnistherapeutische Mittel eingesetzt werden (können). Man mag in diesem Kontext auch von „erlebnistherapeutischen“ Mitteln sprechen.
Thema
Und damit sind wir beim zentralen Thema des vorliegenden Buches: „Im vorliegenden Buch wird in die Theorie und Praxis sowie Forschungslage der erfahrungsorientierten Therapie [EOT] eingeführt, die einen integrativen und am Prinzip des Lebendigen sowie an neurobiologischen Grundlagen ausgerichteten Ansatz verfolgt. Erfahrungsräume und Aktivitäten in- wie outdoor werden von professionellen Therapeuten genutzt, um für den Patienten in einem geschützten Rahmen korrigierende Erfahrungen zu bewirken.“ (Mehl, S. VI)
Mit dem Begriff „korrigierende Erfahrung“ spielt Kilian Mehl ohne Zweifel an auf ein in der orthodoxen Psychoanalyse lange Zeit umstrittenes Konzept: das der corrective emotional experience (ausf. Kächele, 2005). Franz Alexander und Thomas French haben es 1946 in den Diskurs über die psychoanalytische Behandlungstechnik eingebracht und damit zunächst weitgehende Ablehnung erfahren – wegen der Betonung der emotionalen Erfahrung der Klient(inn)en als Motor der psychoanalytischen Therapie. Vor dem Zweiten Weltkrieg wurden die zwei Psychoanalytiker, die das schon damals taten, Otto Rank und Sándor Ferenczi noch aus der psychoanalytischen Bewegung ausgeschlossen. Was die genannten Vier als Forderung erhoben, kann man plakativ so formulieren: Erleben statt reden!
Herausgeber
Kilian Mehl, Mediziner und Psychotherapeut, ist seit 1993 Ärztlicher Direktor der „Klinik Wollmarshöhe“, eines Fachkrankenhauses für psychosomatische Medizin, sowie Leiter des 2007 gegründeten und an die Klinik angeschlossenen Instituts für Erfahrungslernens (infer).
Er ist Ko-Autor einer Wirksamkeitsstudie zur erlebnispädagogischen Methode „Hochseilgarten“ (Mehl & Wolf, 2008; Wolf & Mehl, 2011), die es als einzige (ich lasse mich da gern korriegieren) geschafft hat, dann auch in einer renommierten internationalen Zeitschrift veröffentlicht zu werden. Wenn die meisten Erlebnispädagog(inn)en diese Studie nicht kennen, so hat das neben mangelndem Interesse an Wirksamkeitsforschung auch damit zu tun, dass es sich in beiden Fällen um Zeitschriften für Klinische Psychologie / Psychotherapie handelt.
Der therapeutische Hochseilgarten in der „Klinik Wollmarshöhe“ wurde in den 1990ern eröffnet; später kamen andere EOT-Methoden dazu: Niedrigseilgarten, Therapeutisches Bogenschießen, Expedition, Medizinreise u.a.m.
Autor(inn)en
- Wilhelm Loos ist derzeit Leitender Internist und Kardiologe an der „Klinik Wollmarshöhe“.
- Ulrich Lakemann ist seit 1994 Professor für Sozialwissenschaften an der FH Jena, FB Sozialwesen mit Lehrschwerpunkten (auch) in Erlebnispädagogik und Forschungsmethoden. Er hat immer wieder zur Erlebnispädagogik publiziert; 2018 hat er für das „Handbuch Erlebnispädagogik“ den Beitrag „Erlebnispädagogik in therapeutischen Ansätzen“ geliefert und im socialnet Lexikon das Stichwort „Erlebnispädagogik“ bearbeitet.
- Thomas Lukowski, Facharzt für Psychiatrie und Psychiatrie, ist vielleicht manchem bekannt als Autor des Buches „Klettern in der Therapie“ (München: Reinhardt, 2017), wofür er auch von der fachsportlichen Seite her qualifiziert ist.
- Karl-Heinz Schäfer, Psychologischer Psychotherapeut in eigener Praxis mit Ausbildungen in Gesprächspsychotherapie, Focusing und Hypnotherapie war viele Jahre Leiter des Therapeutischen Bogenschießens der „Klinik Wollmarshöhe“, wo er auch heute noch entsprechende Weiterbildungskurse leitet. Seine Erfahrungen und Überlegungen hat er in dem Buch „Therapeutisches Bogenschießen“ (München, Reinhardt, 2015) zusammengefasst
- Thomas Klein-Isberger ist Psychologischer Psychotherapeut und seit 2009 Therapeutischer Leiter der Abteilung Abhängigkeitserkrankungen an der „Fontane-Klinik“. Zu deren Leistungsangebot gehört neben Sport- und Bewegungstherapie auch „Erlebnistherapie“.
- Katja Wenzel ist seit 2008 als Sport- und Erlebnistherapeutin an der „Fontane-Klinik“ tätig. Für diese Tätigkeit hat sie sich qualifiziert durch ein Studium der Sportwissenschaft, eine Weiterbildung in Erlebnispädagogik sowie durch Erwerb natursportlicher Kenntnisse und Fertigkeiten (Kajakfahren, Klettern).
Aufbau und Inhalt
Das Buch enthält zwischen Vorwort und Autor(inn)en vorne und einem Stichwortverzeichnis hinten acht Kapitel mit je eigener Literaturliste. Bei deren Skizzierung wird jeweils der Name der Autor(inn)en angeben, damit sichtbar wird, von welcher Warte aus und vor welchem Erfahrungshintergrund jeweils gesprochen wird.
Das Prinzip des Lebendigen – Einführung in die Theorie und Praxis der erfahrungsorientierten Therapie (EOT) von Kilian Mehl ist das mit Abstand längste Buchkapitel und stellt eine grundlegende Einführung dar. Er formuliert dort klar, was den Kern der EOT ausmacht: „Die Essenz erfahrungsorientierten Lernens ist die Revision dysfunktionaler, vorhandener alter kognitiver und emotionaler Verhaltensmuster durch neue Erfahrungen mit Körper, Seele und Geist (Primärerfahrungen). Dabei kommt es vielleicht zunächst beim Patienten zur Aktivierung von Abwehr- und Kontrollmechanismen (Widerstand), die im therapeutischen Prozess vom Therapeuten professionell zu händeln sind. Das Unbekannte kann Angst machen und zunächst Unsicherheit im System verursachen. Es wird aber auch ein Erregungszustand im Gehirn herbeigeführt, der den Patienten besonders empfänglich für korrigierende Erfahrungen macht. Hier sind die vertrauensvolle Allianz, die sichere Bindung und das uneingeschränkte Wohlwollen seitens des Therapeuten von großer Bedeutung, soll die Balance mit Hinarbeiten auf das Neue, mit Hoffnung auf Heilung gehalten werden.“ S. 60)
In Wie die Seele im Körper schwingt! – Autonomes Nervensystem und Herzratenvariabilität als somatischer Marker (Kap. 2) stellt Wilhelm Joos zunächst die Messung der Herzratenvariabilität (HRV-Messung) als „valides Messverfahren zur Quantifizierung und Beurteilung der autonom-neuralen Regulationsprozesse“ (S. 68) dar, um dann einsichtig zu machen, dass die HRV-Messung ein praktisch bedeutsamer Indikator zur Beurteilung der Wirksamkeit von EOT-Maßnahmen (und natürlich anderer erlebnispädagogischer / erlebnistherapeutischer Interventionen) darstellt.
Am meisten Schwierigkeiten bei einer „Inhaltsangabe“ bereitet mir der Beitrag Die Wurzeln erfahrungsorientierter Therapie (EOT): Stand der internationalen Forschung (Kap. 3) von Ulrich Lakemann. Hier mischt sich – notgedrungen – von meiner Seite Darstellung und Diskussion. Meine Verwirrung fängt schon mit dem Titel an. Die „Wurzeln“ eines Handlungsansatzes gehen weder aus seiner Konzeption noch aus dessen Evaluationsforschung hervor. Aber aus diesen letztgenannten Komponenten besteht der Hauptteil des Beitrags. Von „Wurzel“-Suche keine Spur! Der Autor scheint weder von Kurt Hahns „Erlebnistherapie“ Kenntnis zu haben noch von der experienziellen Entwicklungslinie der Psychotherapie, in der die EOT Kilian Mehls ganz offensichtlich steht. Dies zum einen.
Zum anderen: Bei der Frage, welche therapeutischen Effekte EOT erzielt, zieht Ulrich Lakemann – im Schutz der Legitimationsformel „allgemeine EOT“ – alles heran, was ihm dienlich erscheint. Steht irgendwo „Wildnistherapie“ (Wilderness Therapy) drauf, werden deren Effekte als Beleg dafür genommen, dass EOT wirksam sei. Werch ein Illtum! Zu solch irriger Annahme, die sich in dem Beitrag in vielfältigen Varianten findet, kann man nur in Unkenntnis der (angelsächsisch dominierten) Wirksamkeitsforschung zur Erlebnispädagogik kommen. Wo irgendwo „Therapy“ drauf steht, darf man nicht ohne Weiters, d.h. ohne Nachprüfung der Originalstudien, davon ausgehen, dass die Klientel eine „klinische“ ist, d.h. dass in der Teilnehmergruppe ausschließlich oder doch überwiegend Menschen sind, die „Störungen mit Krankheitswert“ (nach ICD 10-GM) aufweisen.
Im 4. Kapitel Therapeutisches Setting Hochseilgarten – erfahrungsorientierte Therapie (EOT) in der Klinik Wollmarshöhe stellt Kilian Mehl nicht nur die Arbeit im und am Hochseilgarten dar, sondern berichtet auch über die dazu gehörende Evaluationsforschung, zu der inzwischen neben den Daten zum Ende des Treatments auch solche einer 2-Jahres-Katamnese gehören.
Thomas Lukowski fasst im 5. Kapitel KiT: Klettern in der Therapie zusammen, was er unter „Klettertherapie“ versteht.
Analog dazu bietet Karl-Heinz Schäfer mit Therapeutisches Bogenschießen – ein neues Gebiet der Erfahrungstherapie (Kap. 6) eine dichte Darstellung seines Ansatzes.
Der Titel Angewandte Erlebnistherapie als komplementäre Behandlung bei Sucht- und Psychosomatikpatienten in der Fontane-Klinik von Thomas Klein-Isberner und Katja Wenzel fasst den Inhalt von Kapitel 7 prägnant zusammen.
Im 8. und letzten Kapitel berichtet Ulrich Lakemann unter dem Titel Erlebnispädagogik in der Rehabilitation von Menschen mit psychischen Störungen – ein Modellprojekt in der Klinik Pniel von einem schon vor über einem Jahrzehnt durchgeführten Projekt, über das er schon mehrfach, auch an für erlebnispädagogische Praktikern zugänglichen Orten, publiziert hat.
Diskussion
Nicht alles an und in diesem Werk ist neu. Aber es ist das erste, das zwischen zwei Buchdeckeln in dichter Form einen Einblick gewährt in Handlungsformen der Erlebnispädagogik bei einer Klientel, die „Störungen mit Krankheitswert“ (nach ICD 10-GM) aufweist. Diese Handlungsformen kann man unter „Erlebnispädagogik in therapeutischen Ansätzen“ (Lakemann, 2018) zusammenfassen oder unter „Erlebnistherapie“ (im heutigen, nicht im alten Hahnschen Sinne) oder – in Analogie zu Klinischer Sozialarbeit – von „Klinischer Erlebnistherapie“ sprechen. Hier einen neuen Begriff einzubringen, wie Ulrich Lagemann das im 3. Kapitel mit „allgemeine EOT“ tut, halte ich aus sachlichen Gründen für überflüssig und aus Gründen der „Sprachhygiene“ gar für gefährlich; der deutsch(sprachig)en Erlebnispädagogik mangelt es wahrlich nicht an Sprachverwirrungen.
Den tiefsten und nachhaltigsten Eindruck bei Lektüre des Buches hat auf mich der erste, äußerst gehaltvolle Beitrag gemacht, Kilian Mehls „Einführung in die Theorie und Praxis der erfahrungsorientierten Therapie (EOT)“. Die EOT halte ich für einen theoretisch gut begründeten Entwurf eines (!) Handlungsansatzes im Rahmen der „Erlebnistherapie“. Am meisten Unbehagen bereitete mir der Beitrag „Die Wurzeln erfahrungsorientierter Therapie (EOT): Stand der internationalen Forschung“ (Kap. 3) von Ulrich Lakemann. Die Gründe habe ich bereits oben dargelegt; sie müssen nicht wiederholt werden.
Fazit
Ein anregendes Buch, das ich jeder und jedem zur Lektüre empfehle, der Erlebnispädagogik mit einer „klinischen“ Klientel betreibt oder betreiben will. Von Ulrich Lakemann sollte man (und frau) sich nicht verwirren lassen.
Literatur
- Kächele, H. (2005). Korrigierende emotionale Erfahrung – ein Lehr- und Lernprozess. Plenarvortrag im Rahmen der 55. Lindauer Psychotherapiewochen 2005 (online verfügbar unter www.lptw.de/archiv/vortrag/2005/; letzter Zugriff am 12.12.2018.
- Lakemann, U. (2018). Erlebnispädagogik in therapeutischen Ansätzen. In W. Michl & H. Seidel (Hrsg.), Handbuch Erlebnispädagogik (S. 267-271). München: Reinhardt.
- Lakemann, U. (2018. Erlebnispädagogik (online). socialnet Lexikon. Bonn: socialnet (online verfügbar unter www.socialnet.de/lexikon/Erlebnispaedagogik; letzter Zugriff am 12.12.2018.
- Mehl, K. & Wolf, M. (2008). Erfahrungsorientiertes Lernen in der Psychotherapie. Evaluation psychophysischer Expositionen auf dem Hochseil im Rahmen eines multimethodalen stationären Behandlungskonzeptes. Psychotherapeut, 53(1), 35-42
- Michl, W. (2018). Wegbereiter der Erlebnistherapie: von Freud bis Schulze. In W. Michl & H. Seidel (Hrsg.), Handbuch Erlebnispädagogik (S. 272-275). München: Reinhardt.
- Wolf, M. & Mehl, K. (2011). Experiential learning in psychotherapy: ropes course exposures as an adjunct to inpatient treatment. Clinical Psychology and Psychotherapy, 18(1), 60-74.
Rezension von
Prof. Dr. Dr. Hans-Peter Heekerens
Hochschullehrer i.R. für Sozialarbeit/Sozialpädagogik und Pädagogik an der Hochschule München
Website
Mailformular
Es gibt 184 Rezensionen von Hans-Peter Heekerens.