Wolfgang Benedek (Hrsg.): Menschenrechte verstehen
Rezensiert von Dr. Axel Bernd Kunze, 16.04.2019

Wolfgang Benedek (Hrsg.): Menschenrechte verstehen. Handbuch zur Menschenrechtsbildung. BWV • Berliner Wissenschaftsverlags GmbH (Berlin) 2017. 3. Auflage. 559 Seiten. ISBN 978-3-8305-3770-0. D: 34,80 EUR, A: 34,80 EUR.
Thema
Die Menschenrechte bedürfen der Förderung durch pädagogisches Handeln. Artikel 26 Absatz 2 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 kennt daher ein eigenes Recht auf Menschenrechtsbildung. Nur wer über seine Rechte aufgeklärt wurde, wird diese auch einfordern können. Und nur wer um die Menschenrechte und deren Verletzbarkeit weiß, wird diese respektieren und schützen können; dies gilt nicht zuletzt für die Angehörigen menschenrechtsrelevanter Berufe, etwa im öffentlichen Dienst, bei der Polizei oder in Bildungseinrichtungen.
Herausgeber
Der Herausgeber, Wolfgang Benedek, ist am Europäischen Trainings- und Forschungszentrum für Menschenrechte und Demokratie (ETC) in Graz und an der dortigen Universität tätig. Das ETC wurde 2000 als Kompetenzzentrum von der Stadt Graz als der ersten Menschenrechtsstadt in Europa errichtet; dieses fungiert einerseits als Geschäftsstelle des Menschenrechtsbeirates der Stadt Graz und andererseits als Nationale Kontaktstelle im multidisziplinären Forschungsnetzwerk der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte.
Entstehungshintergrund
Das seinerzeitige Bundesministerium für auswärtige Angelegenheiten hat das ETC im August 2002 mit der Erarbeitung des vorliegenden Handbuches beauftragt. An der Erarbeitung haben zahlreiche Menschenrechtsexperten aus einer großen Bandbreite europäischer Länder mitgewirkt (vgl. S. 18 f.). Das Handbuch wurde in englischer Sprache erarbeitet und liegt in siebzehn verschiedenen Sprachfassungen vor. Die dritte Auflage in deutscher Sprache basiert auf den drei englischsprachigen Auflagen, wurde aber mit Stand vom 1. Oktober 2016 aktualisiert.
Dem Band vorangestellt sind zwei Vorworte: das erste von Sebastian Kurz, 2017 noch österreichischer Bundesminister für Europa, Integration und Äußeres, das zweite von Benita Ferrero-Waldner, frühere österreichische Bundesministerin für auswärtige Angelegenheiten sowie ehemalige Kommissarin der Europäischen Union für Außenbeziehungen und europäische Nachbarschaftspolitik.
Das Handbuch versteht sich als Beitrag zum Netzwerk Menschliche Sicherheit auf Initiative des österreichischen Bundesministeriums für Europa, Integration und Äußeres, wie das Ministerium für auswärtige Angelegenheiten heute heißt. Es wurde gedruckt mit finanzieller Unterstützung des österreichischen Bundesministeriums für Wissenschaft, Forschung und Wirtschaft, des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten, des österreichischen Bundesministeriums für Europa, Integration und Äußeres, des österreichischen Bundesministeriums für Inneres und des Landes Steiermark.
Aufbau
Das Handbuch gliedert sich in drei Teile:
Den Auftakt bildet eine Einführung in das bestehende Menschenrechtssystem. Leitend sind dabei die Begriffe Menschenwürde, Menschenrechte, Menschenrechtsbildung und menschliche Sicherheit.
Das Herzstück bilden sechzehn Module für die Menschenrechtsbildung, die sich ausgewählten Menschenrechtsthemen widmen.
Zum Abschluss finden sich zusätzliche Materialien: eine Zeittafel, einige allgemeine Ausführungen zur Methodik einer Menschenrechtsbildung, die Grazer Deklaration zu den Prinzipien der Menschenrechtsbildung und der Menschlichen Sicherheit, die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte in einer Lang- und Kurzfassung, die Erklärung der Vereinten Nationen über Menschenrechtsbildung und -training sowie ein Glossar.
Zu Teil I
Der erste Hauptteil bietet eine prägnante Einführung in die Geschichte und die Idee der Menschenrechte sowie die Instrumente und Standards des gegenwärtigen internationalen Menschenrechtsregimes. Die Ausführungen haben handbuchartigen Charakter und entsprechen dem allgemeinen Stand der Fachdiskussion. Betont wird, dass zur Sicherung menschenwürdiger Lebensbedingungen die Freiheit von Furcht und die Freiheit von Not untrennbar zusammengehören. Es geht also um ein holistisches Menschenrechtsverständnis, das sowohl die „klassischen Abwehrrechte“ als auch die jüngeren Wirtschaftlichen, Sozialen und Kulturellen Rechte umfasst.
Ein eigenes Kapitel innerhalb der Einführung widmet sich der Bedeutung, die Nichtregierungsorganisationen bei der Sicherung einer Kultur der Menschenrechte zufällt. Im Blick auf den subsidiären Aufbau des Menschenrechtsregimes werden nicht allein internationale (z.B. die Menschenrechtskonventionen der Vereinten Nationen oder die internationale Strafgerichtsbarkeit) und regionale Systeme (z.B. im Rahmen des Europarates, der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa oder der Europäischen Union) angesprochen. Dem Grazer Entstehungskontext entsprechend, wird auch die Menschenrechtsarbeit auf lokaler Ebene, etwa die Globale Charta – Agenda für Menschenrechte in der Stadt oder die Internationale Städtekoalition gegen Rassismus der UNESCO, gewürdigt.
Die Texte setzen kein „Expertenwissen“ über die Menschenrechte voraus und können daher in Auszügen auch für die praktische Arbeit in Menschenrechtsfortbildungen eingesetzt werden.
Zu Teil II
Im zweiten Teil werden sechzehn Module zu folgenden Themen angeboten:
- Verbot der Folter
- Freiheit von Armut
- Nichtdiskriminierung
- Recht auf Gesundheit
- Rechte der Frau
- Rechtsstaatlichkeit und faires Verfahren
- Religionsfreiheit
- Recht auf Bildung
- Rechte des Kindes
- Menschenrechte in bewaffneten Konflikten
- Arbeit
- Recht auf Privatsphäre
- Meinungs- und Medienfreiheit
- Demokratie
- Minderheitenrechte
- Recht auf Asyl
Auch wenn die genannten Module nicht einfach sechzehn Einzelrechten folgen, sondern inhaltlich durchaus disparat sind, folgen sie doch alle dem gleichen Aufbau:
- Am Anfang steht eine fallartige Geschichte, die in die Thematik einführt.
- Daran schließt sich eine zweigestufte didaktische Sachanalyse an: Unterschieden wird zwischen Aspekten, die man wissen „muss“ und die man wissen „sollte“. Der Gehalt der vorgestellten Sozialrechte wird dabei beispielsweise im ersten Zugang in Gestalt des sogenannten „4-A-Schemas“ präzisiert, das seit den Neunzigerjahren des zwanzigsten Jahrhunderts viel dazu beigetragen hat, die Justiziabilität der Wirtschaftlichen, Sozialen und Kulturellen Rechte zu stärken; dabei geht es um die Merkmale der Verfügbarkeit, Zugänglichkeit, Geeignetheit und Anwendbarkeit. Im zweiten Zugang geht es beispielsweise um „Good Practice“-Beispiele oder Trends in der Menschenrechtsentwicklung.
- Es folgen ausgewählte Methoden (Übungen) der Menschenrechtsbildung, mit denen sich das betreffende Thema erarbeiten lässt.
- Den Abschluss bildet jeweils eine Bibliographie.
Zu Teil III
Der dritte und kürzeste Teil dient zunächst einmal als Nachschlagewerk und Dokumentationsteil. Darüber hinaus werden die didaktischen und methodischen Grundlagen erläutert, die dem Band zugrunde liegen. Im Vordergrund steht dabei die Arbeit mit interaktiven Methoden.
Diskussion
Das Handbuch entspricht dem aktuellen Standard gegenwärtiger Menschenrechtsarbeit. Die Texte sind verständlich geschrieben und immer wieder durch Zusammenfassungen oder „Infokästen“ aufgelockert. Die ausgewählten praktischen Übungen werden anschaulich beschrieben. Was dem Buch im Gegensatz zu anderen Werken ähnlicher Art – beispielsweise den Handbüchern „Kompass“ und „Compasito“ – fehlt, sind fertige Kopiervorlagen; die angebotenen Materialien müssen für den Einsatz im Seminar in Form von Handouts aufbereitet und vergrößert werden.
Das zugrundeliegende Verständnis von Menschenrechtsbildung folgt umfassend den drei Prinzipien Bildung über, für und durch Menschenrechte.
Bildung über die Menschenrechte: Zunächst einmal geht es darum, ein Wissen über Entstehung und Geschichte, Begründung und Systematik, Gehalt und Relevanz der Menschenrechte zu erwerben. Werden die Menschenrechte als geschichtlich bedingte Antwort auf konkrete Leiderfahrungen im Medium des Rechts verstanden, so rücken an dieser Stelle nicht zuletzt der Kampf um die Menschenrechte sowie mögliche Ursachen, Hintergründe und Lösungsansätze von Menschenrechtsverletzungen ins Blickfeld. Schwerpunkt einer Bildung über die Menschenrechte sollte sein, die wichtigsten internationalen Menschenrechtsverträge kennen und verstehen zu lernen.
Zu beachten ist allerdings, dass das Handbuch einem holistischen Menschenrechtsverständnis folgt, welches auch die sogenannten Drittgenerations- oder internationalen Solidaritätsrechte einbezieht, etwa wenn im Modul zur „Freiheit von Armut“ die Ziele nachhaltiger Entwicklung als Menschenrechtsthema eingeführt werden. Bis heute ist diese dritte Generation der Menschenrechte allerdings stark umstritten, sodass hierbei allenfalls von Menschenrechten „in statu nascendi“ gesprochen werden kann. Kritik entzündet sich nicht zuletzt daran, dass in diesem Fall nicht von subjektiven Rechten gesprochen werden kann, insofern ihre Träger Kollektive, Volksgruppen oder ganze Völkerschaften sind. Indem das Handbuch damit über den bestehenden Konsens im Menschenrechtsdiskurs weit hinausgeht, beziehen seine Herausgeber deutlich Position im Sinne partikularer menschenrechtspolitischer Forderungen. Das vorliegende Handbuch folgt, wie in der Menschenrechtsarbeit allgemein üblich, einer Dynamik, die Menschenrechte beständig ausweiten zu wollen. Wo allerdings des Guten zu viel getan wird, wird nicht das Gesamtsystem an Freiheiten gestärkt, sondern droht gerade der individuelle Freiheitsspielraum kleiner zu werden.
Wird in der pädagogischen Arbeit auf eine hinreichende menschenrechtstheoretische Fundierung verzichtet und bleibt der juridische wie sozialethische Legitimationshintergrund unaufgearbeitet, kann Menschenrechtspädagogik in Gesinnungsidealismus, Utopien der Weltverbesserung oder kosmopolitische Schwärmerei abgleiten. Diese Gefahr droht nicht zuletzt dort, wo der moralische Gehalt der Menschenrechte über Gebühr zu Lasten ihres juridischen Charakters betont wird. Wo Menschenrecht darüber hinaus auf alle möglichen wünschenswerten pädagogischen Forderungen hin ausgedehnt oder zum Instrument einer allgemeinen Bildungs- oder Gesellschaftsreform umgedeutet wird, besteht die Gefahr, dass gerade jener Konsens beschädigt wird, auf den die Menschenrechte um ihrer Wirksamkeit willen angewiesen bleiben. Menschenrechtliche Forderungen beanspruchen für alle einsichtig zu sein, die als moralische Subjekte handeln wollen. Ihr Gehalt beschränkt sich daher auf grundlegende Elemente, die zum Kernbereich der menschlichen Persönlichkeit gehören, zum Minimalbestand eines menschenwürdigen Lebens gehören und justiziabel gemacht werden können.
Bildung für die Menschenrechte: Menschenrechtsbildung meint aber nicht allein die Vermittlung von menschenrechtlichen Kenntnissen, sondern zielt weitergehend auf deren Anwendung, also im weitesten Sinne auf Befähigung zu sozialer Teilhabe. Die Adressaten der Menschenrechtsbildung sollen die Kompetenz erwerben, auf Grundlage der Menschenrechte die soziale Wirklichkeit zu gestalten. und zwar in zweifacher Hinsicht: zum einen im Widerstand gegen menschenrechtsverletzende Praktiken, die ihnen selbst widerfuhren, zum anderen in Solidarität gegenüber Menschenrechtsverletzungen, die anderen widerfahren. Insgesamt trägt Menschenrechtsbildung zu einer Kultur der Prävention bei, die Verletzungen der Menschenwürde entgegenwirkt. Aus den genannten Gründen zielen die angebotenen Übungen in aller Regel darauf, zur diskursiven Anregung über das Thema anzuregen. Ein kognitiver Überhang im Zugang zu den Menschenrechten ist dabei nicht zu übersehen.
Da die Menschenrechte universale Geltung beanspruchen, betrifft der Einsatz für die Menschenrechte die unmittelbare Lebenswelt genauso wie die Perspektive globaler Solidarität. Die Frage nach den Menschenrechten in einer zunehmend globaler werdenden Welt durchzieht das Handbuch durchgängig. Überschneidungen mit anderen Konzepten aus dem Bereich der Internationalen Pädagogiken, etwa Friedenserziehung, Globales Lernen, Entwicklungspädagogik oder Interkulturelles Lernen, sind – wie zu erwarten – in den einzelnen Modulen immer wieder erkennbar.
Die Bildungsaufgabe der Schule wie anderer Bildungseinrichtungen wird allerdings bei einer Menschenrechtsbildung, die diesem Anspruch gerecht werden will, immer nur eine begrenzte sein können: Denn diese liegt darin, zum solidarischen Handeln und zum Einsatz für die Menschenrechte zu befähigen. Ein solches Engagement dann auch zu realisieren, greift über den Rahmen der Lehrveranstaltung hinaus; die Entscheidung hierzu kann nur vom Lernenden selbst getroffen werden. Menschenrechtsbildung kann Handlungsfähigkeiten fördern, aber sie muss sich versagen, Handlungsbereitschaften zu steuern, wenn sie nicht übergriffig und manipulativ werden will. Diese Grenze hält das vorliegende Handbuch nicht ein. Seine Verfasser erheben explizit den Anspruch, „Bewusstsein gestalten“ (S. 524) zu wollen.
Umso wichtiger wäre es, dass in der Bildungsarbeit zu menschenrechtsrelevanten Themen zwischen universalen Prinzipien, die allgemeine Geltung beanspruchen können, und historisch-vorläufigen, anwendungsorientierten Kriterien unterschieden wird. Über letztere muss ein kontroverser fachlicher, pädagogischer und politischer Diskurs möglich bleiben. Im Sinne des notwendigen Kontroversitätsgebotes politischer Bildung sind Kontroversen um die Interpretation der Menschenrechte im Rahmen der Menschenrechtsbildung nicht zu verschweigen, sondern zuzulassen. Menschenrechtsbildung würde damit selbst zum Ernstfall menschenrechtlich geschützter Freiheit im Meinungs- und Urteilsbildungsprozess.
Bildung durch Menschenrechte: Bildungsprozesse bestimmen sich zwar zuvorderst pädagogisch, sind aber keinesfalls ein rechts- oder moralfreier Raum. Die Menschenrechte sind daher auch auf pädagogisches Handeln hin auszulegen. Insofern das Handeln in Bildungseinrichtungen selbst menschenrechtlichen Ansprüchen genügen muss, vollzieht sich Menschenrechtsbildung indirekt überall dort, wo ein pädagogischer Umgang „im Geist der Menschenrechte“ gepflegt wird: beispielsweise durch die Ermöglichung von Partizipation und Mitbestimmung, durch die Förderung von Urteils-, Empathie- oder kritischer Reflexionsfähigkeit, durch das Aushandeln von Kompromissen oder die kommunikative Lösung von Konflikten innerhalb der Lerngruppe. Interaktive und diskursive Methoden sollen dies unterstützen.
Fazit
Das breit angelegte Handbuch bietet eine fundierte Grundlage für pädagogische Arbeit mit den Menschenrechten, ersetzt aber nicht die bildungstheoretische Reflexion über deren pädagogische Chancen wie Grenzen.
Rezension von
Dr. Axel Bernd Kunze
Privatdozent für Erziehungswissenschaft an der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn
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Zitiervorschlag
Axel Bernd Kunze. Rezension vom 16.04.2019 zu:
Wolfgang Benedek (Hrsg.): Menschenrechte verstehen. Handbuch zur Menschenrechtsbildung. BWV • Berliner Wissenschaftsverlags GmbH
(Berlin) 2017. 3. Auflage.
ISBN 978-3-8305-3770-0.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/24788.php, Datum des Zugriffs 05.10.2023.
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