Rainer Lambrecht: Denken
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 05.10.2018

Rainer Lambrecht: Denken. Verlag Königshausen & Neumann (Würzburg) 2018. 260 Seiten. ISBN 978-3-8260-6501-9. D: 38,00 EUR, A: 39,10 EUR.
Thema
Denken ist Vergegenwärtigung des Existentiellen. Der Mensch, als anthrôpos und zôon politikon, wie er in der anthropologischen, aristotelischen wie gegenwärtigen Philosophie ausgewiesen wird, ist ein vernunftbegabtes Lebewesen, das befähigt ist, „dianoia“, seinen Verstand zu benutzen, Allgemeinurteile bilden, Gutes vom Bösen trennen, Gutes vom Bösen unterscheiden und für Wahrheit und gegen Fake News eintreten zu können. Im Denken als physiologische und intellektuelle Fähigkeit vollzieht sich das Humanum, als Kompetenz und Herausforderung, individuell und kollektiv zu existieren. „Ich denke, also bin ich!“, wird zur humanen Eigenschaft, wie gleichzeitig zum Anspruch, selbst zu denken und nicht andere für sich denken zu lassen. Im Gegenwärtigen bindet sich Gegenwärtiges (Carl Friedrich Graumann). Im Jetzt (Karl Heinz Bohrer, Selbstdenker und Systemdenker. Über agonales Denken, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/12903.php; ders., Jetzt. Geschichte meines Abenteuers mit der Phantasie, 2017, www.socialnet.de/rezensionen/22496.php) wird Vergangenes und Zukünftiges zum (auto)biografischen Existenziellen.
Entstehungshintergrund und Autor
Jeder Mensch denkt! Es ist jedoch die Substanz und Qualität, die das Denken des Denkens, als noêsis noêseôs, ausmacht. In der aristotelischen Philosophie kommt zum Ausdruck, dass Denken immer auch als Gegenüber und Konsequenz die Suche nach einer objektiven Wahrheit und Wirklichkeit benötigt: „Es lässt sich überhaupt nur von Denken sprechen, wenn es etwas, d.h. ein Objekt gibt, das gedacht wird“ ( M. Bordt, in: Otfried Höffe, Aristoteles-Lexikon, 2005, S. 374ff ). Denken in dieser Bedeutung ist somit Gerichtetsein auf Wahrnehmung und soziales Tun. Die intellektuelle Fähigkeit zu denken differenziert sich dadurch in die unterschiedlichen Formen des Nach-, Mit-, Vorausdenkens und von Prozessen eines Werdens, Bestehens und Vergehens. Es ist die Theorie und Praxis des Sprachgebrauchs und der Ausdrucksfähigkeit, die sich „in einfach Denken, Denken-an, Denken-dass, Sich-etwas—Denken und Beisichdenken“ artikulieren. Damit wird deutlich: „Denken ist regelbar“. Und es ergibt sich, dass Denken „Beiherspielen“ wie auch ein „komplexes Redetun“ sein kann. Weil der Gedanke der Beginn des Denkens ist, braucht es der Verantwortung, ganzheitlich zu denken.
Der Philosoph Rainer Lambrecht hat an den Universitäten Zürich und Luzern gelehrt. Gewissermaßen als Reflexion seines (Nach)Denkens über das Denken thematisiert er, was philosophisch, etymologisch, modal und kommunikativ unter der menschlichen Eigenschaft zu denken verstanden werden kann. Die Ausdifferenzierungen in die Denkformen „einfach Denken“, „Denken-dass“. „Sich-etwas-denken“, „Beisichdenken“ und „Denken-an“ ergeben die durchaus überraschende und philosophisch weiterführende Erkenntnis, dass „jede Form auf verschiedene Weise und in einem unterschiedlichen Punkt mit den anderen eins ist“.
Aufbau und Inhalt
Lambrecht gliedert sein Essay in drei Kapitel.
- Im einleitenden Teil setzt er sich in insgesamt 13 Fragestellungen auseinander, wie z.B.: „Was Denken sei, und was gesagt wird, dass es sei“. Er denkt darüber nach, „was am zum Denken Gesagten vermisst werden kann“. Er fragt, „weshalb die Bestimmung des Denkens sich mit Reden, in denen ‚denken‘ auftritt, aufhalten muss“. Es geht darum, wie sich „natürlicher versus festgesetzter Wortgebrauch“ zueinander verhalten. Es wird die „Theoriebestimmtheit des Wortgebrauchs jenseits von Festsetzung“ bedeutsam. Es folgt die Auseinandersetzung: „Gebietet wissenschaftliche oder philosophische Erkenntnis in Fällen eine Revision des natürlichen Wortgebrauchs?“. Erkenntnisleitend wird nachgeschaut, wie „reproduzierter und produzierter Gebrauch“ des Begriffs gehandhabt wird. Es geht um die „Differenzierung des Denkens in fünf Formen“.
- Im zweiten Kapitel „Denken“ unterscheidet er in weiteren 15 Themenbereichen zwischen Denken, Nachdenken, Überlegen, Grübeln…; es geht um „Denken als komplexes Redetun“; es werden Fragen nach der Bedeutung des „Gedankens“ gestellt; die Unterscheidungen zwischen „Quasientscheiden und Entscheiden“ vorgenommen; nach der „ wirklichen Notwendigkeit und wirklichen Möglichkeit“ gefragt; es kommt zur Gretchenfrage nach der „Beurteilung des Denkens“; und es werden die Begrifflichkeiten der Denkformen an Beispielsätzen aufgewiesen.
- Im dritten Kapitel „Epilog“ setzt sich der Autor mit den Formen „Denken und Glauben“ auseinander. Mit der Frage, inwieweit Gedachtes und Geglaubtes sich voneinander unterscheiden, ob und in welcher Weise sie miteinander in Beziehung stehen: „Wenn ich mir bewusst bin zu glauben, bin ich mir bewusst, nie wissen zu können oder aber etwas einmal wissen zu können, d.h. nur jetzt nicht zu wissen“. Diese vertrackte Erkenntnis bedeutet demnach auch, „dass ich das Geglaubte für so gut wie gewusst halte“, mich damit ideologisch oder traditionell festlege und gar nicht mehr offen bin für Andersmeinendes und Kritisches. So klingt es wie ein Aufruf zum Denken, dass „das Ernstnehmen der Gegenmöglichkeit seine Funktion in einem Tätigsein (hat), für dessen Zweck ein genereller Inhalt konstitutiv ist, dessen Gegenmöglichkeit nicht ernst genommen wird“.
Fazit
Die anfangs gestellte Frage, was Denken ist, wird vom Autor in vielfach verschlüsselten und verklausulierten Erklärungen und Beweisführungen beantwortet. Die in Formeln und Kontrapunkten ausgeführten Analysen erfordern vom Leser ein Gutteil intellektueller Denkfähigkeit. Hilfreich und Mut zum Denken machend sind die Hinführungen zu den konstitutiv im menschlichen Denken angelegten Fähigkeiten, die Fragen zu stellen, wie sie uns Immanuel Kant mit seiner Aufforderung – „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“ – aufgegeben hat. Das Buch könnte sich besonders eignen, es in schulischen und erwachsenbildnerischen „Denk“-Kolloquien zur Hand zu nehmen, bei denen das eigene Denken geübt und geschult wird.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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