Ulrich Deinet, Claus Reis et al. (Hrsg.): Potentiale des Aneignungskonzepts
Rezensiert von Prof. Dr. Theresa Hilse-Carstensen, 18.04.2019

Ulrich Deinet, Claus Reis, Christian Reutlinger, Michael Winkler (Hrsg.): Potentiale des Aneignungskonzepts. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2018. 231 Seiten. ISBN 978-3-7799-3717-3. D: 24,95 EUR, A: 25,60 EUR, CH: 34,60 sFr.
Thema
Im Herausgeberband stehen die Potenziale des Aneignungskonzeptes in Bezug auf die subjektorientierte Diskussion von Bildungsprozessen im Fokus.
Herausgeber
- Prof. Dr. Ulrich Deinet, Professor für Didaktik/ Methodik der Sozialpädagogik an der Hochschule Düsseldorf, Leiter der Forschungsstelle für sozialraumorientierte Praxisforschung und Entwicklung.
- Prof. Dr. Claus Reis, Professor für Soziologie, geschäftsführender Direktor des Instituts für Stadt- und Regionalentwicklung der Frankfurt University of Applied Sciences Frankfurt am Main.
- Prof. Dr. Christian Reutlinger, Leiter des Instituts für Soziale Arbeit und Sozialraumentwicklung der FHS St. Gallen, Hochschule für Angewandte Wissenschaften.
- Prof. Dr. Michael Winkler, Professor für Allgemeine Pädagogik und Theorie der Sozialpädagogik am Institut für Bildung und Kultur der Friedrich-Schiller-Universität Jena.
Entstehungshintergrund
Dieser Herausgeberband hat eine Vorgeschichte. Zwei Bände gehen diesem voraus:
- „Aneignung als Bildungskonzept der Sozialpädagogik: Beiträge zur Pädagogik des Kindes- und Jugendalters in Zeiten entgrenzter Lernorte“ (Deinet/ Reutlinger 2004)
- „Tätigkeit, Aneignung, Bildung. Positionierung zwischen Virtualität und Gegenständlichkeit“ (Deinet/Reutlinger 2014)
Die Fragen, die sich im Laufe der Jahre weiterentwickelten sind: Wie kann Aneignung definiert bzw. theoretisch positioniert, in einem Handlungsfeld oder bezogen auf eine Zielgruppe verortet werden? Dies resultiert aus folgendem Umstand: „Aneignung als Begriff wird zwar oft und selbstverständlich verwendet, doch fehlt ihm ein ‚selbstverständlicher Rang‘ in den Human- und Sozialwissenschaften und er ist terminologisch kaum unterfüttert“ (S. 9-10).
Es folgte dieser dritte Band. Zielsetzung dieses Bandes ist es: Den „Aneignungsbegriff auf die Bühne der wissenschaftlichen Diskussion [zu] holen“ (S. 12) und zu zeigen, dass der Aneignungsbegriff einen „starken Beitrag leisten kann zu einer subjektorientierten Diskussion von Bildungsprozessen eingebettet in Räume, […] deren Gestaltung selbst als Aneignungsprozesse zu verstehen sind“ (S. 12).
Aufbau
Nach einleitenden Gedanken zu den Potenzialen des Aneignungskonzepts folgen vier Teile, denen zwei bis vier Beiträge zugeordnet sind:
- Erster Teil: Arbeits- und Organisationswissenschaftliche Konzepte
- Zweiter Teil: Bildungswissenschaftliche Konzepte
- Dritter Teil: Jugend- und raumsoziologische Konzepte
- Vierter Teil: Ausblick und Perspektiven
Die Teile eins bis drei heben spezielle inhaltliche Aspekte des Aneignungskonzeptes und dessen Verwendung hervor. Der zweite und der dritte Teil machen dabei mit je vier Beiträgen den größten Umfang aus.
Ausgewählte Inhalte
Zu jedem der vier Teile wird im Folgenden ein Beitrag diskutiert.
Teil I
Olaf Katenkamp schreibt zu „Wissensmanagement in der Tätigkeitstheorie“ und fragt nach der sozialen Funktion und Einbettung von Wissen und Lernen. Dabei definiert er Wissensmanagement als Methode der Wissensbildung. Sein Fazit lautet: „Wo Wissensmanagement erfolgreich ist, werden Spannungen im Tätigkeitssystem bewältigt und Lernprozesse eingeleitet“ (S. 40). Nicht erfolgreiches Wissensmanagement sieht Katenkamp in einer Nichtabstimmung von Akteuren, Regeln, Gemeinschaft und Arbeitsteilung begründet. Anstatt Wissen zu sichern, zerfällt es.
Als Beispiel für ein Instrument des Wissensmanagements nennt Katenkamp das „Change Lab“. Das Change Lab repräsentiert eine experimentelle, horizontale und vor allem kollektive Form des Lernens und der Wissensaneignung. Ausgangspunkt ist, dass neues Wissen aus Spannungen entsteht, zu Beginn nicht selbstverständlich ist und erst in das Tätigkeitssystem „eingebettet“ werden muss (S. 35). Im Change Lab wird kollaborativ nach Lösungen gesucht. Die gefundenen Lösungen werden dialogisch besprochen, sodass sich eine kollektive Transformation (ein Wissensgewinn) der Teilnehmer*innen einstellen kann.
Teil II
Ralf Kuckhermann gibt in seinem Beitrag einen Überblick über die Verortung des Aneignungskonzeptes im Bildungsdiskurs. Dies geschieht über die Diskussion verschiedener Aspekte und formeller/ informeller Bildungssettings. Kuckhermann nutzt ein tätigkeitstheoretisches Lernkonzept und konstatiert „Jedes Lernen erfordert die Aneignung der sachlichen und sozialen Bedeutung des Lerngegenstandes und hat darüber hinaus eine persönliche Bedeutung für den Lernenden“ (S. 90). Aneignung verstanden als Partizipationsprozess sowie Schnittstellen-Kategorie, mit der Lernen und Bildung nicht nur vom Individuum, sondern zugleich von der Gesellschaft aus gedacht wird (S. 97), beschreibt „ein umfassendes Verhältnis des Menschen zur Welt“ (S. 98). Lern- und Bildungsprozesse sind dabei Teilprozesse menschlicher Tätigkeit (S. 98).
Teil III
Um „das Aneignungskonzept in der empirischen Praxis von Kindheits- und Jugendstudien“ geht es im Beitrag von Ulrich Deinet. Genauer gesagt, nimmt er in seinem Beitrag Bezug auf eine Studie zur Sicht der Kinder auf Ganztagsschulen und möchte aufzeigen, „wie mit dem Aneignungskonzept Lern- und Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen aus einer konsequenten Subjektperspektive erschlossen werden können“ (S. 142). Hierzu werden die Methoden kurz vorgestellt, die in der Studie genutzt worden sind, außerdem werden verschiedene Beispiele erläutert (Abenteuerspielplatz, Versteck-Ecke), wo Kinder sich Räume aneignen (können) und es werden Faktoren benannt, die die Raumaneignung von Kindern fördern (können):
- Möglichkeiten schaffen, „Aneignung braucht Anregung“
- Eigenständigkeit fördern
- Veränderungen nicht als Störung, sondern Aneignungsprozess begreifen
- Handlungsraum geben, heißt auch Bildungsmöglichkeiten eröffnen und erweitern
Am Ende des Beitrages geht Deinet auf die Operationalisierung des Aneignungskonzeptes ein, in dem er Aneignung
- als Erweiterung motorischer Fähigkeiten,
- als Erweiterung des Handlungsraums,
- als Umnutzung und Veränderung von Situationen und Räumen sowie
- als Verknüpfung von Räumen diskutiert.
Teil IV
Michael Winkler erstellt in einem wissenschaftlichen Essay eine „Kleine Phänomenologie der Aneignung. Oder auch: die ziemliche verrückte Theorie einer komplexen Handlung“. Bezugnehmend auf den Ausgangspunkt des Bandes – „Der Begriff taugt vielen im Spektrum der Menschen- und sogar Sozialwissenschaften. Er gilt als hilfreich, ohne dass man sich intensiv mit Ihm beschäftigt […]“ (S. 178) – nimmt Winkler eine Begriffsdekonstruktion vor. Ein „[…] Versuch, das Konzept der Aneignung zunächst begriffstheoretisch, dann in seinen anthropologischen Kontexten zu rekonstruieren, um einige seiner wichtigen Grundzüge mehr oder weniger phänomenologisch aufzuzeigen. In einem letzten Abschnitt werden mit seiner Hilfe Problemstellungen untersucht, die sich in den modernen Gegenwartsgesellschaften stellen.“ (S. 179). Zwischendrin trifft der/die Leser*in auf einen Abschnitt zur Frage „Was macht Aneignung als Thema und Gegenstand so interessant, warum findet das Konzept Sympathie zumindest bei jenen, die es nicht sofort verwerfen?“ (S. 189). Es folgt eine Skizze in zehn Punkten, um diesen Fragen nachzugehen.
Im letzten Abschnitt thematisiert Winkler Aneignung im Kontext der Gegenwartsgesellschaft. Er konstatiert: „Aneignung ermöglicht nämlich Gesellschaftskritik […]“ (S. 179) und diskutiert Aneignung im Zusammenhang eines Vorgangs der Menschwerdung sowie die Verwirklichung der Menschwerdung im Kontext moderner Gesellschaft. Ausgehend von der eigenen (ständigen, kurzweiligen) Performanz geschieht zweierlei:
- Aneignung erhält besondere Bedeutung und
- verliert zugleich an Besonderheit. War es doch bislang eine Errungenschaft „sich die für [das Subjekt] erforderliche Gesellschaftlichkeit“ (S. 207) anzueignen.
Winkler schreibt „sie [die Menschen] eignen sich nichts mehr an, ihre Subjektivität ist nur eine gänzlich formale […]“ (S. 205).
Diskussion und Fazit
Der Hausgeberband mit dem Titel „Potenziale des Aneignungskonzeptes“ gibt den Leser*innen einen, auf Aneignung in der Diskussion subjektorientierter Bildungsprozesse, fokussierten Überblick. Aufgrund der Aufteilung in drei Teile und der damit zusammenhängenden Darstellung verschiedener Zielgruppen und Handlungsfelder lässt sich auf die Vielfältigkeit dieses Konzeptes und den Zugriff verschiedener Wissenschaften schließen. Der Herausgeberband ist eine inspirierende Grundlage, um über die wissenschaftliche Verortung sowie den Ablauf von Aneignungsprozessen nachzudenken und zu diskutieren.
Gemeinsamer Nenner des Bandes ist der Fokus auf Aneignung in der Diskussion subjektorientierter Bildungsprozesse. Jedoch stehen die ersten drei Teile eher nebeneinander. Jeder Beitrag regt für sich genommen zum Nachdenken an, die theoretische Unschärfe löst sich nicht auf. Winkler diskutiert allerdings in seinem Beitrag verschiedene theoretische Schnittstellen und verhilft somit zur wissenschaftlichen Einordnung.
Rezension von
Prof. Dr. Theresa Hilse-Carstensen
IU Internationale Hochschule Erfurt
Dipl. Sozialpädagogin/ Sozialarbeiterin (FH)
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