Oliver Tewes, Garabet Gül (Hrsg.): er soziale Raum der postmigrantischen Gesellschaft
Rezensiert von Prof. Dr. Detlef Baum, 12.12.2018
Oliver Tewes, Garabet Gül (Hrsg.): Der soziale Raum der postmigrantischen Gesellschaft.
Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2018.
263 Seiten.
ISBN 978-3-7799-2733-4.
D: 29,95 EUR,
A: 30,80 EUR,
CH: 40,10 sFr.
Reihe: Edition Soziologie.
Thema
Migrationsgesellschaften sind Gesellschaften, die nicht nur durch Migration gekennzeichnet sind, sondern die auch mit der vergangenen und gegenwärtigen Migration beschäftigt sind und in der Kluft zwischen Migranten und Nicht-Migranten befangen sind. Dementsprechend könnte man postmigrantische Gesellschaften auch als Gesellschaften verstehen, die diese Kluft überwunden haben und in denen Migration als ein normaler Prozess verstanden wird, der typisch ist für offene moderne Gesellschaften. Es wären dann Gesellschaften, in denen der Vorgang der ständigen kulturellen und sozialen Rekonstruktion des Migrantenstatus überwunden wäre.
Kann man sich eine solche Gesellschaft vorstellen und wie bildet sich eine solche postmigrantische Gesellschaft im sozialen Raum der Klassen, Milieus und Lebensstile und der physischen Räume von Städten und Dörfern aus, die ja erst durch ihre Bewohnerinnen und Bewohnern zu je spezifischen sozialen Räumen werden?
Herausgeber und Autorinnen und Autoren
Herausgeber
Oliver Tewes ist Doktorand am Institut für Soziologie der TU Berlin.
Garabet Gül ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Department Soziale Arbeit der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften.
Autorinnen und Autoren
Die anderen Autorinnen und Autoren kommen aus den Bereichen der Soziologie, der Migrationsforschung, der Erziehungswissenschaften, der Sozialstrukturforschung und der Armuts- und Ungleichheitsforschung.
Aufbau und Gliederung
Nach einer kurzen Einleitung der Herausgeber gliedert sich das Buch in vier Kapitel mit jeweils einigen Beiträgen:
- Theoretische Begegnungen von Sozialraumanalyse und postmigrantischer Gesellschaft
- Sozialer Raum und physischer Raum
- (Post-)migrantische Lebensstile, Klassen- und Milieuanalysen
- Klassifikationen und symbolische Kämpfe
Die Deutsche Nationalbibliothek bietet Einblick in das vollständige Inhaltsverzeichnis.
Einleitung
Die Frage ist virulent, was das Postmigrantische einer Gesellschaft ausmacht. In ihrer Einleitung rekurrieren die Herausgeber auf eine Definition der Intendantin des Berliner Maxim-Gorki-Theaters, Frau Shermin Langhoff. In ihrem Sinne – so die Sozialwissenschaftlerin Naika Foroutan – wurde der Begriff im deutschsprachigen Raum als „neue, explorative akteurs- und gesellschaftsanalytische Perspektive“ verwendet.
Im Folgenden argumentieren die Herausgeber, dass in der Theorie der postmigrantischen Gesellschaften das Sozialraum-Konzept von Pierre Bourdieu überhaupt nicht rezipiert worden sei und dies wäre der eigentliche Zugang zu der Frage, wie die Mikroebene mit der Makroebene in der Gesellschaftsanalyse verbunden werden kann. Wie also lassen sich akteursbezogene Aushandlungs- und Interaktionsprozesse mit den strukturellen Bedingungen gesellschaftlicher Realität verbinden? Die Herausgeber gehen dann ausführlich auf das Konzept des relationalen physischen und sozialen Raums von Bourdieu ein. Diese Einlassung liest sich eher als eine kritische Auseinandersetzung mit Bourdieu, werden doch eher einige analytischen Defizite Bourdieus verdeutlicht, was die Analyse der postmigrantischen Gesellschaft eher schwieriger gestalten lässt.
Im Weiteren wird auf die einzelnen Beiträge kurz eingegangen und der Kontext des Buches verdeutlicht, in dem es entstand.
1. Theoretische Begegnungen von Sozialraumanalyse und postmigrantischer Gesellschaft
„Im Westen nichts Neues. Zum Verhältnis von postmigrantischer Gesellschaft und Sozialraumtheorie“ (Andreas Schmitz, Christian Schneickert, Daniel Witte)
Die Autoren leiten mit der Frage des Tagungsbandes ein, inwieweit das Habituskonzept Bourdieus, sein Kapitalkonzept und sein Lebensstilkonzept überhaupt geeignet seien oder revidiert werden müssten, sollten sie die postmigrantische Gesellschaft angemessen beschreiben können. Im traditionalen Verständnis einer Migrationsgesellschaft kann man ja davon ausgehen, dass sich Migrantinnen und Migranten allmählich und über Generationen hinweg in die neue Gesellschaft assimilieren. Das Neue des Postmigrantischen ist wohl, dass dieser Prozess im Zuge der Globalisierung und transnationaler Prozesse nicht mehr erforderlich ist, um sich in einem neuen Referenzsystem zurecht zu finden, ohne das alte aufgeben zu müssen. Im Status einer „doppelten Nichtzugehörigkeit“ (Foroutan), in der beide Identitäten letztlich immer zur Disposition stehen, bewegt sich der Migrant im neuen Referenzsystem, ohne das alte verlassen zu haben. Dies wird ausführlich analysiert und erörtert, um dann auf die Frage einzugehen, wie diese postmigrantische Perspektive mit der Tradition der Sozialraumtheorie verbunden werden kann.
Dazu wird zunächst auch der kulturhistorische Hintergrund der westlichen Debatte um Migrationsprozesse bemüht, der eng mit der Kolonialgeschichte westeuropäischer Gesellschaften verbunden ist. Damit sind auch Fragen von Macht und Herrschaft, sowie der sozialen Ungleichheit angesprochen. Die Autoren schließen dabei an Sayad an, einem marokkanischen Soziologen, den Bourdieu kannte. Das heißt auch, dass diese Analyse vor dem Hintergrund des sozialen Wandels der marokkanischen Gesellschaft gesehen werden muss, eines Wandels der mit der Entbäuerlichung der Bevölkerung ihre (Sub-)proletarisierung hervorbrachte. Die damit verbundenen migrationstheoretischen Überlegungen werden ausführlich diskutiert. Die „Ortlosigkeit“ des Migranten ergibt sich in der Ankunftsgesellschaft aus der Distanzierung vom Herkunftsland und seiner Sozialstruktur, ohne in der neuen Sozialstruktur bereits verortet zu sein.
„Mit Bourdieu Herrschaft kritisieren heute? Zur Analyse von Ungleichheiten in der postmigrantischen Gesellschaft“ ( Constantin Wagner)
Der Autor erläutert zunächst einleitend die (noch) zu füllenden Leerstellen in der Gesellschaftsanalyse Bourdieus und erkennt zugleich das Potenzial, das in dem Bourdieu’schen Begriffsarsenal steckt. Er diskutiert auch noch einmal den Begriff der postmigrantischen Gesellschaft, meint mit dem Präfix „post“ nicht eine Gesellschaft nach einer anderen Gesellschaft, sondern eine Gesellschaft in der Gleichwertigkeit und Zugehörigkeit aller zu einem sozialen Raum immer wieder neu zur Disposition stehen.
Weiter diskutiert der Autor soziale Räume, Felder und Milieus im Zusammenhang mit der postmigrantischen Gesellschaft, stellt Bourdieus Konzept des sozialen Raums vor, in dem unterschiedliche Lebensstile integriert sind. Dabei bedenkt er kritisch, dass sich Lebensstile nicht mehr unbedingt mit der sozialstrukturellen Lage einer Klasse oder Schicht verbinden lassen und auch keine Rückschlüsse auf die Klassenlage oder Schichtzugehörigkeit mehr zulassen.
Nach einer ausführlichen Erörterung dieses Sachverhalts kommt Wagner dann zu feld- und milieuübergreifenden Ungleichheitsstrukturen und rezipiert die in diesem Zusammenhang geführten Auseinandersetzungen mit dem Bourdieu’schen Herrschaftsbegriff im Kontext dessen Verständnisses vom sozialen Raum.
„Zur Kritik der postmigrantischen Vernunft“ (Andreas Schmitz, Christian Schneickert, Daniel Witte)
Die Autoren gehen einleitend davon aus, dass das Bourdieus’sche Begriffsinstrumentarium hinlänglich die Realität einer pluralen und heterogenen Gesellschaft zu beschreiben vermag. Es geht dabei hauptsächlich um die Verbindung der Mikro- mit der Makroanalyse der Gesellschaft, also die Verbindung von sozialstrukturellen Rahmenbedingungen des Lebens und Handelns mit den Identitäten, Emotionen und Aushandlungsprozessen auf der Interaktions- und Handlungsebene. Bourdieu will ja gerade die Beziehung des sozialen Raums zur Klasse nicht auf ökonomische Klassen zu reduzieren, sondern definiert Klasse als eine soziale Entität, in der alle Merkmale einer Sozialstruktur miteinander in Beziehung stehen. Gerade vor dem Hintergrund der Migration muss dann deutlich werden, welche der Merkmale einer Sozialstruktur soziale Konstruktionen sind und zu Klassifikationen führen, die immer wieder neu rekonstruiert werden.
2. Sozialer Raum und physischer Raum
„Sozialer und physischer Raum in mehrdimensional pluralen Gesellschaften“ (Arnd-Michael Nohl)
Nachdem der Autor zunächst ein Beispiel anführt, an Hand dessen eine mehrdimensionale Gesellschaft im sozialen Raum eines Flughafen erörtert wird, erklärt er, warum er nicht von einer postmigrantischen, sondern von einer mehrdimensional pluralen Gesellschaft redet. Es geht letztlich darum, Migration als einer der vielen Dimensionen gesellschaftlicher Realität zu verstehen, die zugleich in ihrer Bedeutung als prägende Gestaltungskraft gesellschaftlicher Wirklichkeit anerkannt ist, ohne dass sie als Sonderfall gesellschaftlicher Prozesse verstanden wird.
Weiter diskutiert der Autor den sozialen und physischen Raum vor dem Hintergrund Bourdieus. Der soziale Raum als ein Geflecht relationaler Beziehungen konstituiert sich nicht nur durch die ökonomische Kategorie der Klasse. Vielmehr nehmen die Menschen in einem sozialen Raum aufgrund ihrer verschiedenen Ausstattung mit kulturellem, sozialem und ökonomischen Kapital eine unterschiedliche Stellung im sozialen Raum ein und bilden unterschiedliche Formen eines Habitus aus, mit dem sie in Beziehungen zu anderen treten. Im physischen Raum sind die Akteure unterschiedlich verteilt. Die im sozialen Raum angeordnete Verteilung spiegelt sich im physischen Raum wider.
Der Autor führt länger aus, dass das Problem des Bourdieu’schen Raumbegriffs darin besteht, dass das Zustandekommen von Räumlichkeit und Raumerfahrung unklar bleibt, was aber bedeutsam ist für Einsichten in die Räumlichkeiten sozialer Ungleichheit, warum also die soziale Ungleichheit sich in der räumlichen Anordnung der Akteure abbildet. Denn die räumliche Verteilung sozialer Ungleichheit führt zur Homogenität der sozialen Zusammensetzung z.B. von Quartieren, die dann auch durch ihre soziale Homogenität einen bestimmten dominanten Habitus hervorbringen.
„Soziales Kapital und elterliche Strategien in benachteiligten Stadtteilen“ (Banu Citlak)
Die Autorin fragt nach den Sozialisationsbedingungen außerhalb der Schule, nach Sozialisationseffekten, die mit dem soziokulturellen Milieu, der Familie, den sozialen Netzwerken und den sozialräumlichen lebensweltlichen Bedingungen des Aufwachsens von Kindern und Jugendlichen in sozial benachteiligten Stadtteilen verbunden sind. Auch hier wird deutlich, wie sich die räumliche Verteilung sozialer Ungleichheit in solchen Stadtteilen abbildet, wie sozialräumliche Segregation nicht nur ein räumliches Spiegelbild gesellschaftlicher Ungleichheit ist, sondern wie sozialräumliche Segregation soziale Ungleichheit konstituiert und immer wieder rekonstruiert. Dies wird ausführlich in Anlehnung an Bourdieus Überlegungen erörtert.
Die Autorin beschäftigt sich dann mit dem sozialen Kapital in lokalen Lebenszusammenhängen von Eltern. Sie bezieht sich dabei auf die Kultur des Arbeitermilieus, wo soziales Kapital gegenseitiger Unterstützung und Hilfestellung als eine wichtige Ressource gilt. Gerade im Zusammenhang mit der Schullaufbahn der Kinder erweisen sich elterliche „Communities“, Kontakte zwischen Eltern und gegenseitige Hilfe und Anerkennung der Leistungen als stabilisierend auf den Schulverbleib. Kinder, die in Familien aufwachsen, die lokal eingebunden sind und im Inneren stabil sind, sind weniger gefährdet, die Schule frühzeitig zu verlassen. Interessant ist in diesem Zusammenhang, wie sich in solchen Stadtteilen lokale ethnische Communities verhalten. Sie wirken stabilisierend, weil sie den Familienalltag entlasten und wenn sie Kontakte zu Deutschen haben, sind sie deutlich toleranter gegenüber Normabweichungen, als wenn sie nur eigenethnische Kontakte aufweisen. Auf der anderen Seite erfordert die Zugehörigkeit zu einer kohärenten ethnischen Community vom Einzelnen mehr Zugeständnisse.
Im Folgenden werden dann „Family Protection Strategies“ diskutiert und Ergebnisse einer Untersuchung zu sozialem Kapital und Elternstrategien vorgestellt und diskutiert. Weiterhin werden Typen von Eltern dargestellt, die sich aufgrund ihrer Strategien unterscheiden:
- Mainstream-Eltern haben Freundschaften zu Eltern in der Nachbarschaft.
- Vernetzte Eltern pflegen zwar auch Freundschaften zu Nachbarn, sind darüber hinaus auch in der Schule vernetzt und haben mehr soziales Kapital.
- Isolierte und deplatzierte Eltern haben eher eine soziale Distanz zum räumlich-sozialen Umfeld.
- Unterschiede dieser beiden Typen werden ausführlich dargestellt.
3. (Post-)migrantische Lebensstile, Klassen- und Milieuanalysen
„Die Milieumobilität türkischstämmiger Aufsteiger in Berlin“ (Oliver Tewes)
Der Beitrag beschäftigt sich mit den Lebensstilen und Vergemeinschaftungsprozessen männlicher türkischstämmiger Migrantinnen und Migranten; sie bilden die größte Gruppe unter der Migrationsbevölkerung in Deutschland. Nach einer einführenden kritischen Auseinandersetzung mit der Migrationsforschung und ihren Prämissen interessiert den Autor, wie Integration durch Aufstieg gelingt, wie die aus dem Arbeitermilieu sozial aufgestiegenen Migrantinnen und Migranten auch ihr Milieu und damit auch ihren angestammten Sozialraum verlassen und dennoch nicht von ihm los kommen.
Der theoretische und methodische Hintergrund ist dabei weniger Bourdieu, sondern eher der Ansatz des Erlebnisforschers Schulze und dessen Analyseinstrumentarium. Die eigenen Untersuchungen belegen, dass dieses Instrumentarium die Spannung türkischstämmiger Aufsteiger zwischen dem autochthonen Sozialraum und der Assimilation in die neue soziale Lage am besten erklärt. Man kommt in seiner Lebensstilführung mit seiner ethnischen Identität des Türkischseins auch in einer modernen sozial differenzierten Gesellschaft zurecht. Das Elternhaus spielt dabei eine zentrale Rolle. Sowohl die Erwartungshaltung der Eltern an die Aufsteigerinnen und Aufsteiger als auch die Erwartungen, die diese als Eltern ihren Kindern gegenüber haben, gründen in den traditionalen normativen Vorstellungen der türkischen Kultur. Dies wird ausführlich diskutiert, ebenso die Vorstellungen, die sich mit dem Muslimisch-Sein verbinden.
Weiter werden Vorstellungen eines guten Lebens erörtert, auch Vorstellungen von Ehe und Familie, von Studium, von Karriere und Beruf sowie von Konsum und dem Sinn für das Ästhetische.
Als Ergebnis stellt der Autor den sozialen Raum der Lebensstile vor und typisiert sie in Bezug auf Studium/Beruf, der Positionierung gegenüber den Eltern, dem Stil des Muslimisch-Seins, den Beziehungsvorstellungen und dem Sinn für das Ästhetische als konservativ, liberal und postmodernistisch.
„Nomen est omen? Eine Untersuchung zum Einfluss sozialstruktureller Effekte auf Namenspräferenzen türkischer Migrant_innen“ (Damir Softic)
Wo im Deutschen Kevin und Wilhelm mehr oder weniger deutlich auf den sozialen Status der Eltern schließen lassen, sind es im Türkischen eher die Motive, die man mit Vornamen verbindet und die die Unterschiede zwischen den sozialen Klassen zum Ausdruck bringen. Der Autor möchte mit seinem Beitrag die Klassen- und Habitustheorie Bourdieus um eine „emotions- und migrationstheoretische Perspektive“ erweitern. Präferenzen für Vornamen sind ein Element des Lebensstils. Für Migranten und Migrantinnen repräsentieren Vornamen auch eine ethnische Zugehörigkeit, die ihren Lebensstil prägt, spielen doch traditionelle Elemente des Herkunftslandes eine entscheidende Rolle bei der Wahl des Vornamens. Die forschungsleitende Frage des Autors ist, welche Rolle die sozialstrukturelle die Positionierung der Akteure und Akteurinnen bei der Wahl des Vornamens spielt und inwieweit Emotionen und Motive durch den Habitus und das Kapital der Migrantinnen und Migranten beeinflusst sind.
Nach der Darstellung des konzeptionell-begrifflichen Rahmens, in dem die Begriffe Sozialstruktur, Habitus und Emotionen geklärt werden, und das methodische Vorgehen vorgestellt wird, werden einige empirische Ergebnisse erörtert. Dazu gehört eine Typologie der habitualisiert-emotionalen Praktiken der Vornamenwahl. Demnach wird der Typ der ambivalenten ethnisch-kulturellen Neoidentität der unteren sozialen Klasse zugerechnet; der Typ der Transnationalen der Mittelklasse zugeordnet und der Typ des innovativen Kosmopolitismus der Oberklasse. Diese Typen werden ausführlich beschrieben und diskutiert.
„Geschmack, Distinktion und Melancholie marginalisierter Mittelschichten. Positionierungen russischsprachiger Migrant_innen“ (Darja Klingenberg)
Wie unterscheidet man sich von anderen, wie repräsentiert man sein Bedürfnis nach Individualität in einer Gesellschaft mit ihrem Konsumuniformismus? Russischstämmige Migranten und Migrantinnen haben nach einer Phase der Lebensstilführung, in der alle gleich sind, weil alle das Gleiche haben, das Bedürfnis nach Individualität, nach Distinktion von den anderen. Die Autorin möchte in ihrem Beitrag am Beispiel der russischstämmigen Migrantinnen und Migranten der Frage nachgehen, warum vor allem in den Mittelschichten den Migrantinnen und Migranten guter Geschmack und Urteilsvermögen oft abgesprochen wird und wie sich diese migrantische Bevölkerung dagegen zu Wehr setzt. Ethnisierung und Deklassierung der migrantischen Mittelschichtangehörigen stellen besondere Anforderungen an die Neuverortung und Anpassung dar. Die Autorin setzt sich dabei mit dem Mittelschichtbegriff ausführlich auseinander, gehören doch zum Selbstverständnis der Mittschichten ein Lebensstil, der auf eigenen individuellen Entscheidungen beruht und der getragen ist von allgemein gültigen „selbstverständlichen“ Werthaltungen und Geschmacksrichtungen. Sie geht dann auf die Situation der russischsprachigen Migrantinnen und Migranten in Deutschland ein und diskutiert die nationalen Selbstverständlichkeiten im Kontext der migrantischen Mittelschichten. Es geht dann auch um das Bestreben, Geschmack und Normalität zu beweisen, dann auch um die Überwindung des Sowjetischen und um die Bewahrung der Klassenzugehörigkeit unter den Bedingungen einer Neuorientierung und Neuverortung in der Ankunftsgesellschaft, die Anpassung verlangt.
Es geht dann weiter noch um gute Integration, Entsolidarisierungen und Rassismus. Integration bedeutet dann für die Probandinnen und Probanden der Untersuchung oft Spracherwerb und eine gewisse Flexibilität und Anstrengung, ein neues Leben aufzubauen. Zum Abschluss diskutiert die Autorin dann noch marginalisierte Mittelschichten und die trügerischen meritokratischen Versprechen, die auch zu Enttäuschung geführt haben.
„Der Raum der Kopftuchstile“ (Juliane Kanitz, Oliver Tewes)
Kanitz und Tewes möchten in ihrem Beitrag die Aufmerksamkeit auf das Kopftuch als integralem Bestandteil des Gesamtkonzepts Kleidung richten. Sie verstehen ihren Ausführungen als einen „Beitrag zu einem Entwurf einer soziologischen Analyse von Kopftuchstilen, ihrer gesellschaftlichen Voraussetzungen und ihrer politischen Implikationen“. Sie beziehen sich dabei auf Gerhard Schulzes Lebensstilkonzept, das von der Frage ausgeht, nach welchen Kriterien Menschen in hochmobilen Gesellschaften ihre Freunde und Partner aussuchen. Damit sind Fragen des Geschmacks und Stils angesprochen, die konstitutiv für die Genese von sozialen Milieus geworden sind. Dies wird ausführlich erörtert, um dann die Konstruktion des Raums der Kopftuchstile zu diskutieren. Dabei stellen die Autorin und der Autor den Raum der Bekleidungsstile muslimischer Frauen vor, der drei Aspekte enthalten sollten, die miteinander verbunden sind:
- die materielle Bekleidung,
- die durch die Bekleidung symbolisierten Bedeutungsinhalte und
- die positionsspezifischen Kategorisierungen anderer Kopftuchstile.
Danach werden zwei Pole der Modeorientierung vorgestellt und ausführlich begründet:
- Der pragmatisch binäre Typ, binär in Blick auf die Unterscheidung, was man im öffentlichen Raum nicht mehr tragen kann, was aber im privaten Raum noch geht (meist Männer).
- Der Typus, der durch die Philosophie des gefühlsbasierten, chaotischen Kleidens charakterisiert ist (meist Frauen).
Im Weiteren werden dann Konsequenzen der Migration für Musliminnen in Bezug auf die Mode diskutiert, auf die Philosophie der Modestizität eingegangen und ausführlich entwickelt. Danach wird der Entwurf eines Raums der Kopftuchstile vorgestellt, der die Kopftuchstile im Kreuz von Modestizität (hoch/niedrig) und Moderorientierung (hoch/niedrig) verortet.
4. Klassifikationen und symbolische Kämpfe
„Wenn rassistisch Dominierte zu rassistisch Dominierenden werden. Entgrenzung und rassistische Differenzierung des Sozialen Raumes“ (Garabet Gül)
Der Autor beschäftigt sich in seinem Beitrag mit dem Verhältnis von Migration, Rassismus und sozialer Ungleichheit. Wie – so fragt der Autor – lassen sich Migration und das damit zusammenhängende Phänomen des Rassismus ungleichheitstheoretisch erfassen und inwieweit fungiert Migration als Ordnungsprinzip des sozialen Raums?
Der Autor kritisiert zunächst, dass rassismuskritische Ansätze ihren Fokus auf kulturell-diskursive Macht- und Repräsentationsaspekte ausrichten; sozialstrukturelle Aspekte werden aber theoretisch vernachlässigt, auch wenn sie benannt werden.
Dazu diskutiert Gül zunächst die postmigrantische Perspektive des Rassismus. Schon allein die Zergliederung eines systematischen Gesellschaftsbegriffs in unterschiedliche Gesellschaftsformen der Risiko- oder Erlebnisgesellschaft, auch der Migrationsgesellschaft erschwert makrosoziologische Zugänge zu den zentralen Merkmalen moderner Sozialstrukturen als Klassengesellschaften oder Schichtungs-gesellschaften, also als Gesellschaften sozialer Ungleichheit. Das Präfix „post“ bei der postmigrantischen Gesellschaft bedeutet dann auch, dass eine Gesellschaft ihre Migrationsrealität als gesetzt versteht, aber den Begriff der Migration zur Erklärung von Ungleichheitsverhältnissen hinter sich lassen will (vgl. dazu Foroutan).
Gül geht dann auf die Strukturdimension des sozialen Raums ein, die er vor dem Hintergrund des Bourdieu’schen Bezugsrahmens ausführlich erklärt.
Im Weiteren geht es um die Frage, wie sich die objektive Prägung auf der subjektiven und alltagspraktischen Ebene äußert. Auch diese Frage wird mit dem Habituskonzept Bourdieus als Grundlage aufgegriffen und diskutiert. Als Folie dient dazu die Schweiz als nationaler Sozialraum. Es geht dann um die die Positionierung diesseits und jenseits des Nationalstaates. Interviewte zeigen in diesem Zusammenhang Interesse an politischen und gesellschaftlichen Fragen, wenn sie als „Migranten“ oder „Ausländer“ adressiert werden und ihr Aufenthaltsstatus zu Diskussion steht. Dies wird mit einer Reihe von Zitaten aus Interviews unterlegt.
„Die Klassifizierung von Flüchtlingen im sozialen Raum. Eine empirische Analyse relationaler Beziehungen in der Flüchtlingsmigration“ (Felix Leßke, Jürgen Friedrichs, Vera Schwarzenberg)
Nach einer allgemeinen Einschätzung der Flüchtlingsdebatte interessiert das Autorenteam die Frage, wie Flüchtlinge abhängig von ihrer Fluchtursache in ihrem Status klassifiziert werden und wie sich Einstellungsmuster gegenüber Flüchtlingen sozialräumlich beschreiben lassen. Dabei greift das Team auf den Ansatz Bourdieus zurück, der zunächst auch ausführlich beschrieben wird. Der Vorteil dieses Ansatzes ist – so das Autorenteam –, dass dieser Ansatz die Verbindung struktureller Verhaltensdispositionen und der individuellen Handlungs- und Interaktionsmuster ermöglicht. Über den Habitus als Verbindungsglied wird der soziale Status in konkrete wahrnehmbare Kategorien und symbolische Grenzziehungen übersetzt, nach denen sich auch klassen- und milieuspezifische Praxisformen schließen. Und im Zuge der Migration kommt es zu einer Neubewertung der Kapitalformen, was auch zu Aushandlungsprozessen führt. Nach der Erörterung des Sozialraums geht es um den sozialen Status von Flüchtlingen, die in einen hochgradig differenzierten sozialen Raum flüchten und die Frage nach dem postmigrantischen Raum ist eine Frage, wie sich die Flüchtlinge in diesem äußerst differenzierten Raum zurechtfinden, wie sie ihre Identität sichern und wie sie mit den Konflikten und Widersprüchen zurechtkommen, die sich aus der Situation ergeben, dass ihre Herkunftsidentität und die damit zusammenhängen Verhaltensweisen und Repräsentationsformen zur Disposition stehen, ohne mit den neuen vertraut zu sein.
Aus den theoretischen Überlegungen leitet das Autorenteam eine Reihe von Hypothesen ab, die sie empirisch überprüfen. Dabei lehnt sich das Team an Methoden an, die auch Pierre Bourdieu benutzt hat, wie die multiple Korrespondenzanalyse. Die Ergebnisse werden ausführlich diskutiert. Dabei geht es auf die Strukturvariablen des sozialen Raums ein sowie auf die sozialräumliche Verortung der Fluchtursachen. Weiter diskutiert das Team die Akzeptanz von Flüchtlingen im eigenen Wohnumfeld, die Kapitalstruktur und das Kapitalvolumen als Determinanten der Einstellung gegenüber Flüchtlingen, erörtert die Typisierung von Flüchtlingen und Musliminnen und Muslimen und diskutiert die Spendenaktivität als aktives Engagement für Flüchtlinge.
„Das Deutschsprechgebot. Ein symbolischer Kampf auf dem Feld der beruflichen Bildung“ (Anne Wernicke)
Nach einer weiteren Erörterung des Bourdieu‘schen Ansatzes und der Darstellung eines Nachqualifizierungskurses als Schauplatz symbolischer Kämpfe im Rahmen der beruflichen Bildung analysiert die Autorin die Selbst- und Fremdpositionierungen verschiedener Akteurinnen und Akteure des Kurses in Hinblick auf die Etablierung von sogenannten Deutschsprechgeboten. Dabei versteht sie die Sprache in Anlehnung an Bourdieu u.a. als zentral für die (Re)produktion von Machtstrukturen. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Kurses verfügen zunächst über geringes ökonomisches und kulturelles Kapital. Mit dem Erwerb der Sprache als einem Teil des institutionalisierten kulturellen Kapitals gelänge ihnen der Zugang zum Arbeitsmarkt und dort zu gehobeneren Positionen. Dies wird ausführlich erörtert. Danach analysiert die Autorin exemplarisch Unterrichtsgespräche. Dabei geht es um folgende Fragen:
- Wie äußert sich die Verteilung symbolischer Macht unter den Akteuren des Kurses in ihren Interaktionen?
- Welche sprachlichen Mittel, Routinen etc. werden in den symbolischen Kämpfen der Akteurinnen und Akteure als „Waffen“ eingesetzt?
- Wer darf was wann und wie äußern? Wo werden ggf. Verbote deutlich?
Diese Fragen werden an Hand von drei Bespielen exemplarisch analysiert und ausführlich diskutiert.
Diskussion
Eigentlich geht es um eine kritische Auseinandersetzung mit Pierre Bourdieu. Sein Ansatz des Habitus und des sozialen Raums und sein Ansatz der unterschiedlichen Kapitalien werden einer kritischen Prüfung unterzogen und erweisen sich nach Meinung der meisten Autorinnen und Autoren für die Analyse der postmigrantischen Gesellschaft. Der soziale Raum der postmigrantischen Gesellschaft im Verständnis von physischen und sozialem Raum und ihren Beziehungen zu einander kann die Analyse des sozialen Raums als einem relationalen Gefüge der unterschiedlichen Akteure mit ihrer jeweiligen individuellen „sozialen Ausstattung“ und der strukturellen Ausstattung ihrer Positionen bereichern und die Beiträge tragen dazu auch bei.
In der Frage der Zersplitterung eines systematischen Gesellschaftsbegriffs durch unterschiedliche Präfixe scheint ab und zu ein Klärungsversuch durch, der deutlich macht, dass postmigrantische Gesellschaften nicht nur Gesellschaften nach der Migration sein sollen, sondern eine andere Qualität der gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Migrantischen als integraler Bestandteil der Gesellschaftsanalyse ermöglichen. Migration ist also kein Sonderfall der Gesellschaftsentwicklung, sondern gehört dazu wie andere Wesenszüge moderner Gesellschaften auch. Die damit verbundenen Konfliktlinien, Ambivalenzen und Widersprüchlichkeiten gehören ebenso dazu wie die Auseinandersetzung mit Fremdheit, Anderssein und der gesellschaftliche (Re)konstruktion von Migrantsein und Nicht-Migrantsein von Dazugehören und Nicht-Dazugehören. Auch das wird in einigen Beiträgen deutlich.
Wenn es um die strukturelle Ausstattung von sozialen Räumen geht und die darin positionierten Akteure in ihrer Beziehung zu einander, dann müsste eigentlich dieser soziale Raum differenzierter betrachtet werden. Migrantsein und Nicht-Dazugehören stellt sich in urbanen Strukturen einer Großstadt noch einmal anders dar als in der Kleinstadt oder auf dem Land. Die Stadt integriert anders als das Dorf und sie grenzt auch anders aus. Diese Logik von Integration und Ausgrenzung gehört eigentlich auch zur Debatte um den sozialen Raum der postmigrantischen Gesellschaft.
Fazit
Das Buch ist in zweierlei Hinsicht eine Bereicherung. Die kritische Auseinandersetzung mit Pierre Bourdieu eröffnet eine neue Analyseperspektive sozialer Räume von Gesellschaften, hier der postmigrantischen Gesellschaften und das auf einem relativ hohen analytischen und theoretischen Niveau. Des Weiteren bereichern die Beiträge die Debatte um die Migrationsgesellschaft und ihrer Entwicklung, weil sie sich eher um die strukturellen Bedingungen migrantischer Beziehungen beschäftigen, wo die traditionelle Sicht auf die Migration eher auf der Interaktions- und Handlungsebene stattfindet.
Rezension von
Prof. Dr. Detlef Baum
Professor em.
Arbeits- u. Praxisschwerpunkte: Gemeinwesenarbeit, stadtteilorientierte Sozialarbeit, Soziale Stadt, Armut in der Stadt
Forschungsgebiete: Stadtsoziologie, Stadt- und Gemeindeforschung, soziale Probleme und soziale Ungleichheit in der Stadt
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Zitiervorschlag
Detlef Baum. Rezension vom 12.12.2018 zu:
Oliver Tewes, Garabet Gül (Hrsg.): Der soziale Raum der postmigrantischen Gesellschaft. Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2018.
ISBN 978-3-7799-2733-4.
Reihe: Edition Soziologie.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/24812.php, Datum des Zugriffs 12.09.2024.
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