Caroline Schmitt, Matthias D. Witte (Hrsg.): Bezugswissenschaften der Sozialen Arbeit
Rezensiert von Michael Bertram-Maikath, 08.04.2019
Caroline Schmitt, Matthias D. Witte (Hrsg.): Bezugswissenschaften der Sozialen Arbeit.
Schneider Verlag Hohengehren
(Baltmannsweiler) 2018.
221 Seiten.
ISBN 978-3-8340-1846-5.
18,00 EUR.
Reihe: Einführung in die Soziale Arbeit - Band 2.
Thema
Die Frage nach den Bezugswissenschaften der Sozialen Arbeit und ihren Verhältnissen zueinander zielt in den Kern des Wesens Sozialer Arbeit selbst. Dies betrifft Disziplin und Profession in gleichem Maße, wenn auch unter je spezifischen Gesichtspunkten: Ist Soziale Arbeit eine eigenständige wissenschaftliche Disziplin oder ein normativ aufgeladenes akademisches Konglomerat, bestehend aus der Rezeption von Fragmenten anderer ‚echter’ Disziplinen? Oder etwas Drittes? Und je nachdem, wie die Antwort ausfällt: Kann von Sozialer Arbeit als Profession (im Gegensatz zum Berufsstand) gesprochen werden, wenn keine eigene genuin wissenschaftliche Tradition vorzuweisen ist? Was zeichnet, darauf aufbauend, Methoden der Sozialen Arbeit als exklusiv sozialarbeiterisch aus? Wird nicht vielmehr – was nicht nichts wäre – ein bunter Strauß an Erkenntnissen anderer (Handlungs-)Wissenschaften zusammengestellt und angewandt? Diese spitz formulierten Fragen weisen auf eine Notwendigkeit hin, will Soziale Arbeit sich als eigenständig und professionell ausweisen: Gleich zu welchem Schluss man gelangt, Novizen kommen nicht umhin sich mit diesen Fragen praktisch und akademisch – was zwei Seiten einer Medaille sind – zu beschäftigen.
Herausgeberin und Herausgeber
Der von Caroline Schmitt und Matthias D. Witte herausgegebene Band macht hierzu einen erneuten Aufschlag. Caroline Schmitt ist diplomierte Pädagogin mit Promotion und arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Erziehungswissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Gleiches gilt für Matthias D. Witte, der allerdings als Professor für Erziehungswissenschaften tätig ist.
Aufbau und Anliegen
Auf eine Einleitung (1) folgt ein Rückblick auf den Diskurs zum Thema (2). Sodann behandeln Beiträge ausgewählte Bezugswissenschaften (3). Bevor mit einem Ausblick geschlossen wird (5), ist ein Beitrag platziert, der sich gezielt mit Interprofessionalität und -disziplinarität befasst (4). (Kurze Einschätzungen zu einzelnen Beiträgen folgen direkt auf diese, sind aber optisch abgehoben. Der Band insgesamt wird in der Diskussion bewertet.)
Schmitt und Witte eröffnen den Band. Sie machen sogleich deutlich, um welche Fragen es gehen wird: „Was sind Bezugswissenschaften der Sozialen Arbeit? Und welche Bedeutung haben sie“ (7). Der Band soll „einen Einblick in das facettenreiche Tätigkeitsfeld Sozialer Arbeit geben und insbesondere einen Blick auf das Zusammenspiel von Sozialer Arbeit mit ihren Bezugswissenschaften werfen“ (ebd.). Anliegen ist es also, „dass wir unsere Position in der Sozialen Arbeit noch besser reflektieren und in unserem Handeln auf einen noch breiteren Wissensfundus zurückgreifen können“ (25).
Innerhalb der Diskussion zum Verhältnis von Sozialer Arbeit und Bezugswissenschaften wird die These vertreten, dass Soziale Arbeit eine autonome – ethisch fundierte – Stellung braucht, von der aus sich reflexiv auf andere Wissenschaften bezogen werden kann, um Menschen- und Gesellschaftsbild zu schärfen (vgl. ebd.).
Inhalt
Neben den erwähnten Weichenstellungen geben Schmitt und Witte die obligatorische Übersicht zum Band, wobei sie dies entlang eines echten Falls einer Studentin durchdeklinieren, sodass die Multiperspektivität eines komplexen Falls und mögliche Beiträge von Bezugswissenschaften direkt zu Beginn deutlich werden. Eine Bestimmung des Verhältnisses zwischen Sozialer Arbeit und Bezugswissenschaften ist, wie oben schon angedeutet, die Frage danach, was Soziale Arbeit ist und welche Ziele sie verfolgt. Als Grundlage wird hierzu die Definition des IFSW bestimmt und einzelne Elemente skizziert. Auch die Unterscheidung zwischen Profession und Disziplin wird herausgearbeitet.
Historische Grundlegung
Den Großteil von Jan. v. Wirths Beitrag nimmt die Darstellung ausgewählter Bezugswissenschaften ein. Er skizziert dabei den Wandeln des Verhältnisses der Sozialen Arbeit zu diesen Disziplinen von ihrem Relevantwerden bis heute nach und schneidet dabei jeweilige Ambivalenzen dieser Verhältnisse an. Als Fluchtpunkt bestimmt er die vorletzte Jahrhundertwende, da hier, in Reaktion auf die soziale Not, die mit den Umwälzungen der Industriellen Revolution verbunden waren, eine Verwissenschaftlichung ‚sozialer’ Tätigkeitsfelder und damit Positionsbestimmungen angestoßen wurden. Es wird gut herausgearbeitet, dass Soziale Arbeit seit dem immer wissenschaftsbezogen war und ist. Von Wirth kommt zu dem Schluss, dass die Bearbeitung komplexer Phänomene nur auf „möglichst vielfältige, d.h. multiperspektivische, und kritische, d.h. ambivalenzreflexive Weise erfolgen“ (53) kann und dass dies „eine fundamentale Kompetenz der Sozialen Arbeit, ja ihr eigentliches Alleinstellungsmerkmal zwischen den vielen Disziplinen und Professionen des Wohlfahrtsstaates“ (54) ist.
Ausgewählte Bezugswissenschaften im Überblick
Wer weniger an einzelnen Beiträgen zu Bezugswissenschaften interessiert ist, kann diesen Teil der Besprechung überspringen und bei Interdisziplinarität und Interprofessionalität bzw. bei Perspektiven wieder einsteigen.
Der Bedeutung der Soziologie nehmen sich Lothar Böhnisch und Heide Funk an (57–69). Die „Soziale Arbeit braucht ein reflexives Instrumentarium, das ihren Interventionsbereich gesellschaftlich rückbeziehen und die Probleme der Klient_innen entpersonalisieren, entschulden kann“ (57). Als wesentlich identifizieren sie:
- dass die Soziologie es ermöglicht, die Soziale Arbeit in ihrem gesellschaftlichen Bedingungsgefüge zu verorten,
- dass sie sensibel dafür macht, dass das Tätigsein Sozialer Arbeit wesentlich von den gesellschaftlich-politischen Konstruktions- und Bewältigungsprozessen sozialer Probleme abhängt (weswegen eine konfliktorientierte Beteiligung an diesen Prozessen unerlässlich ist) und
- dass der Prozess der Hilfe eine soziale Konstruktion ist, der sich mit unterschiedlichen soziologischen Konzepten reflexiv genähert werden kann.
Es wird deutlich, dass die vielfältigen Potenziale soziologischer Reflexionen anschlussfähig für Fragen der Sozialen Arbeit sind, weswegen es nicht überrascht, dass festgestellt wird, dass die Soziologie wohl die größte Spannweite (im Vergleich zu übrigen Bezugswissenschaften) für Anknüpfungen zur Sozialen Arbeit zulässt (vgl. 58). – Auch Bezüge zu den Ressourcen, die in der soziologischen Zeitdiagnostik stecken und damit verbunden unterschiedlichen Möglichkeiten Gesellschaft zu begreifen, hätten hier das Bild gut ergänzt.
Der Psychologie nimmt sich Michael Borg-Laufs an (71–88). Er geht dabei von der IFSW-Definition (2014) aus und leitet Bezugspunkte für die Psychologie, die er als „Wissenschaft vom Erleben und Verhalten der Menschen“ (71) bezeichnet, ab. Nachdem einige Subfächer der Psychologie und ihr Gegenstand benannt sind, werden Fragen formuliert, auf die die Psychologie Antworten liefern kann:
- „Was ist psychisches Wohlbefinden?
- Welche Entwicklungsaufgaben müssen Menschen im Laufe ihres Lebens bewältigen?
- Was sind zentrale psychologische Effekte sozialer Interaktion?
- Auf welche Weise können (problembelastete Menschen ihr Verhalten und Erleben ändern“ (72)?
Zur Beantwortung werden klassische Konzepte vorgestellt, durch neuere Befunde aktualisiert und auf die Soziale Arbeit bezogen. Zum Schluss wird betont, dass, wenngleich die „Psychologie … [ein] enormes Potenzial für die Soziale Arbeit“ (86) hat, die Soziale Arbeit ihre Stärke daraus bezieht, dass sie, im Gegensatz zu den Bezugswissenschaften, weniger durch Tiefe als mehr durch Breite im Hinblick auf Problembearbeitung besticht (vgl. 86), weswegen Sozialarbeitende „stolz darauf sein [können], dass sie über mehr als ‚nur’ psychologisches Wissen verfügen, um Menschen in komplexen Problemlagen zu helfen und damit eine wichtige Arbeit für die Gesellschaft tun, die niemand außer ihnen erbringen kann“ (ebd.). – Psychoanalyse und Humanistische Psychologie bleiben unerwähnt, was überrascht, da insbesondere Letztere Einzug in die professionelle Haltung und verschiedene Methoden Sozialer Arbeit gefunden hat.
Der Blickwinkel der Rechtswissenschaft wird von Thomas Trenczek u.a. beleuchtet (89–104). Dabei wird erörtert, worum es sich bei Recht (als Wissenschaft) handelt, welchen Kriterien Rechtssätze bzw. -normen genügen müssen und was es mit der nicht unbedingt leicht zugänglichen Rechtssprache auf sich hat. Ferner wird die Rechtsanwendung in Grundzügen behandelt. Im Kapitel zum Verhältnis von Recht und Gerechtigkeit wird sodann aufgezeigt, dass die Juristerei keineswegs eine objektive Wissenschaft ist, sondern dass Auslegung und damit (gerichtliche) Wertungen in Anlehnung an soziale Entwicklungen konstitutiv sind. Im letzten Kapitel wird auf die untrennbare Verbindung von rechtlichen und sozialpädagogischen Elementen in der Fallarbeit hingewiesen. Geschlossen wird folgendermaßen: „Rechtliche Vorgaben sind nicht etwa nur Störfaktoren in der sozial-kommunikativen Interaktion von Sozialarbeiter_innen und ihren Klient_innen. Das Recht und dessen Umsetzung durch Behörden und Gerichte sind vielmehr integraler Bestandteil der Lebenswirklichkeit der Klient_innen und somit nicht auszublenden, sondern in die Hilfegewährung einzubeziehen“ (103; Hervorh. i. O.), wobei nicht unerwähnt bleibt, dass diese juristische Komponente gleichwertig neben der sozialarbeiterischen, methodisch reflektierten Vorgehensweise in die Fallarbeit einfließt (vgl. 102). – Der Beitrag stellt prägnant die praktische Notwendigkeit heraus, über Wissen und Fähigkeiten im Bereich der Rechtswissenschaften zu verfügen. Dabei besticht, dass realistisch eingeschätzt wird, dass das Studium nur einen allgemeinen Grund schaffen kann, den es in den Handlungsfeldern konkret anzuwenden bzw. zu spezifizieren gilt.
Folgend geht Günter Rieger der Politikwissenschaft auf den Grund (105–117). Die Einschätzung lautet: „Dieses Teilgebiet hilft, die politischen Handlungsbedingungen Sozialer Arbeit zu verstehen und begründet das politische Handeln Sozialer Arbeit als Erweiterung ihres professionellen, methodischen Handelns“ (105). Soziale Arbeit wird damit als explizit politisch handelnder Akteur begriffen, die Notwendigkeit einer zukünftigen Professionalisierung in diese Richtung veranschlagt (vgl. 113). – Rieger schlägt nicht ‚nur’ einen vielversprechenden Weg für die zukünftige Entwicklung einer politischen Sozialen Arbeit vor, sondern deutet auch die analytischen Notwendigkeiten hierzu an. Erfreulich ist dabei, dass deutlich herausgearbeitet wird, dass sowohl Disziplin als auch Praxis ihren Beitrag leisten müssen, weswegen Vorschläge für Forschungen und Lehre formuliert werden.
Einen „systematischen Einstieg in die Disziplin der Sozialwirtschaftslehre (Sozialbetriebslehre) zu ermöglichen“ (135) ist Jürgen Holdenrieders Anliegen (119–138). Dies erfolgt vor dem Hintergrund der Ökonomisierung des Sozialen und in ständigem ‚Dialog’ zwischen Allgemeiner Betriebswirtschaftslehre und Sozialwirtschaftslehre im Speziellen. Es wird, nicht überraschend, festgestellt, dass Sozialarbeiter_innen und Sozial_pädagoginnen neben einer fachspezifischen Aus- und Weiterbildung auch in einer auf die Soziale Arbeit hin zugeschnittenen Betriebswirtschaftslehre qualifiziert werden (134) müssen. – Tatsächlich gelingt es Holdenrieder nachvollziehbar in zentrale Anliegen und Arbeitsweisen der Betriebswirtschaftslehre einzuführen und mögliche Verweise zur Sozialen Arbeit herauszuarbeiten. Darüber hinaus wäre aber ein Hinweis auf den kontroversen Diskurs rund um dieses Thema angebracht gewesen. Denn auch, wenn der These gefolgt wird, wonach BWL für die Soziale Arbeit unerlässlich ist, ist eine unkritische Affirmation derartiger Arbeitsweisen für die Soziale Arbeit mindestens problematisch.
Wie die Soziale Arbeit und die Medizin und Gesundheitswissenschaften zueinanderstehen, betrachtet Astrid Seltrecht (139–154). Von der Feststellung, dass Soziale Arbeit im Gesundheitswesen aktiv ist und dass sie selbst Gesundheitsarbeit leistet, werden Parallelen im professionellen Handeln von Ärzt*innen und Sozialarbeitenden, deren praktisches Zusammenwirken sowie exemplarisch Basiswissen von Medizin und Gesundheitswissenschaften vorgestellt. Im Wesentlichen wird deutlich, dass die Medizin als Vergleichsfolie zum Stand der eigenen Professionalität fungierend kann und dass sie Wissen bereitstellt, durch das fundiertes Handeln mit Krankheits- bzw. Gesundheitsbezug möglich wird. Die Gesundheitswissenschaften bieten dagegen einen Fundus an Wissen aus verschiedenen Disziplinen, mit dem auf unterschiedlichen sozialen Ebenen (Subjekt, Gruppe/Organisation, Gesellschaft) Analyse und Handlung betrieben werden kann (vgl. 151 f.). – Hervorragend wird herausgearbeitet, wie, ganz konkret, medizinisches Wissen für die Soziale Arbeit von Relevanz ist, da unterschiedliche Handlungsfelder angesprochen und ihr Bezug zur Gesundheitsförderung dargestellt werden. Wenngleich grundsätzlich nichts dagegen einzuwenden ist, sich an anderen Professionen zu orientieren, sei hier darauf hingewiesen, dass die Soziale Arbeit im Gegensatz zu Medizin keinesfalls immer aufgesucht wird, weil von dieser Hilfe erwartet wird, die auf wissenschaftlich gesichertem Wissen basiert. Nicht selten handelt es sich um Zwangskontexte und/oder um eher diffuse Erwartungen an die Hilfsangebote Sozialer Arbeit oder Hilfe im eigentlichen Sinne wird gar nicht erhofft. Diese Differenz zeigt sich nicht zuletzt im Vollzug der Arbeit: Wo die Medizin durch objektive Merkmale diagnostiziert und therapiert, begibt sich die Soziale Arbeit methodisch reflektiert in die Tiefen subjektiv definierter und strukturierter Lebenswelten und muss proaktiv mit den Kontingenzen sozialer und biographischer Prozesse umgehen. Das Wissen, was hier zur Anwendung kommt, ist ungleich diffuser (vgl. Unterkofler 2019: 4 ff.), was zwar am Professionsstatus nagt, der Professionalität in der Praxis aber keinen Abbruch tut.
Was ist Erziehungswissenschaft und welche Bedeutung hat sie für die Soziale Arbeit? Diesen Fragen gehen Nina Brück und Stefan Weyers nach (155–170). Es kann aber konstatiert werden, dass der Fokus auf der ersten Frage liegt. Auf eine Gegenstandsbestimmung und begriffliche Abgrenzung folgt die Darstellung zentraler Begriffe der Erziehungswissenschaft: Erziehung, Bildung, Sozialisation. Es folgt eine Skizze der Abfolge prägender Paradigmen (Geisteswissenschaftliche Pädagogik, Empirische Erziehungswissenschaft, Kritische Erziehungswissenschaft). Geschlossen wird mit Herausforderungen und der Bedeutung erziehungswissenschaftlichen Wissens für die Soziale Arbeit. – Schade ist, dass im Kontext der Menschenrechtsbildung und Demokratisierung ‚nur’ die zu erbringende Leistung der Erziehungswissenschaft für deren Verwirklichung dargestellt wird. Eine explizite Umkehrung der Perspektive könnte Neulingen aufzeigen, dass nicht nur die Praxis der Schwarzen Pädagogik kritisch zu sehen ist, sondern dass auch disziplinäre Wegbereiter (z.B. Hermann Nohl) in dieser Hinsicht, vorsichtig formuliert, skeptisch bewertet werden können (Melter 2017).
Die Kollage bezugswissenschaftlicher Steckbriefe wird von Thomas Schumacher abgeschlossen und behandelt die Philosophie (171–188). Er zeichnet die Entwicklung der Philosophie nach. Der Fokus liegt hierbei auf ihren antiken Wurzeln und dem Dilemma, in das sie sich selbst manövriert hat, nachdem Kant als wirkmächtiger ‚Nestbeschmutzer’ bisherige Gewissheiten nachhaltig beseitigt hat. Dies führt ihn, Schumacher, argumentativ in die Gegenwart, um danach zu Fragen, ob die Philosophie überhaupt noch hilfreich für die Soziale Arbeit sein kann. Seine Antwort: ein entschiedenes Ja. Der Wert, den die Philosophie für Belange der Sozialen Arbeit hat, liegt erstens darin, die Fallarbeit entlang eines philosophischen Erkenntnisprozesses, also eines selbstkritischen Umgangs mit Wissen zu ermöglichen. Zweitens kann ein berufliches Selbstverständnis, Werte, ein Menschenbild durch die diskursive Aushandlung einer Ethik im Bereich der Philosophie formuliert werden. – Schumachers Beitrag besticht dadurch, dass es ihm gelingt seine Position durch konkrete Schlussfolgerungen zu konstrastieren und so zu stärken. Er zeichnet eine alternative Lesart postmoderner Arbeit – gegen Kleve (2003) – die sich durch Beliebigkeit und Flexibilität auszeichnet, was sich aus dem Umstand ableitet, dass universale Wahrheiten nicht (mehr) generiert werden können. Die Folge wäre eine Soziale Arbeit, die ohne Kompass Zustände bewerten und auf Ziele hinarbeiten muss. Es braucht also eine Ethik, die durch einen diskursiven Prozess erarbeit werden muss und ihre Gültigkeit nur für den Personenkreis beanspruchen kann, der an ihrer Formulierung mitgewirkt hat. Insofern zeigt Schumacher auch die praktisch-politische Dimension philosophischer Arbeit für die Soziale Arbeit auf.
Interdisziplinarität und Interprofessionalität
Der Beitrag von Diana Wider und Beat Schmocker (189–210) beginnt mit einer Einführung in die relevanten Begriffe. Es wird die Position entwickelt, dass Soziale Arbeit prädestiniert sei, um interprofessionelle Kooperation zu koordinieren (vgl. 198) und Bedingungen hierzu formuliert sowie anschließend ein heuristisches Modell präsentiert, was grundlegend zur sozialarbeiterisch koordinierten Kooperation beitragen soll. Die IFSW-Definition wird als basal zur Standortbestimmung der Sozialen Arbeit in diesem Prozess herangezogen. Abschließend werden Herausforderungen formuliert, denen sich Wissen und Handeln in ‚Inter-Perspektive’ stellen muss:
- Klarheit hinsichtlich des eigenen Standpunktes,
- Ausbau eigener Forschung,
- Beanspruchung eigener Zuständigkeiten,
- Inszenierung der sozialarbeiterischen Leistungen,
- Stärkung der beruflichen Identität und damit verbunden der intraprofessionellen Kooperation (vgl. 206 ff.).
- Dass Übersicht hinsichtlich der Akteure, ihrer Beiträge und des Prozesses insgesamt zu Steuerung beitragen kann, sei unbestritten. Dies leistet das präsentierte Modell. Zu fragen wäre, inwieweit organisationelle Faktoren einbezogen werden müssten. Wichtiger erscheint aber, dass sich aus Körper- und Wissenssoziologie begründet Zweifel an Handlungskonzepten ableiten lassen, die außschließlich von einem kognitiv-reflexiven Verständnis von Praxis ausgehen. Die formulierten Herausforderungen erscheinen allerdings als ein sinnvoller ‚Fahrplan’, wenn es darum geht, den Status als Disziplin und Profession auf tragfähige Füße zu stellen.
Perspektiven
Die Herausgebenden schließen den Band, indem sie drei Thesen für die Zukunft formulieren:
- Das disziplinäre Profil Sozialer Arbeit gilt es weiter zu schärfen und sichtbar zu machen.
- Es braucht die Anerkennung des Status der jeweiligen Bezugswissenschaften und umgekehrt, um wechselseitige Befruchtungen zu initiieren.
- Letztlich wird für eine transnationale Öffnung von Profession und Disziplin gefordert.
Diskussion
Wie oben gesagt, finden Kritiken zu einzelnen Beiträgen direkt statt. Jetzt soll es um den Band im Ganzen gehen.
Zunächst ist zu loben, dass der Band sinnvoll gegliedert ist und dass alle Beiträge lesbar sind – auch für Studierende, die mit wissenschaftlicher Lektüre nicht vertraut sind. Die Leser*innen werden direkt angesprochen und so ‚mitgenommen’. Der Band genügt damit den Ansprüchen, denen sich jeder Sammelband – vor allem, wenn er als Einführung gedacht ist – gegenübersieht: er kann stringent in Gänze oder fragmentarisch nach Interesse gelesen werden.
Auffällig ist, dass eine explizite Bedeutung der Bezugswissenschaften für die Methoden Sozialer Arbeit nicht systematisch dargestellt ist. Dies erstaunt vor allem, weil eine kausale Beziehung zwischen Bezugswissenschaften und Professionalität außer Zweifel steht. Und wie wäre Professionalität ohne Methoden zu denken? Dieser Eindruck wird verstärkt, wenn man feststellt, dass die Beiträge zu den einzelnen Wissenschaften dem auch nicht hinreichend Rechnung tragen. Zugegeben: Trebczeku.a. stellen mehrfach explizit heraus, dass Recht und Methoden in der Praxis Hand in Hand gehen (vgl. 92, 102); Rieger tritt dafür ein, dass die Politikwissenschaft methodisch ihren Weg in die Praxis finden soll (vgl. 105); auch Holdenrieder schafft es, wenngleich der Methodenbezug nicht explizit hergestellt wird, deutlich zu machen, wie konkret die BWL für die Praxis ist. Zynisch könnte man hier eine gewisse Ironie erkennen, wenn Bezugswissenschaften, die entweder historisch relativ neu im Methodenkanon sind (BWL), solche, die in ihren Arbeitsweisen wenig Spielraum für Abwandlung durch Soziale Arbeit zulassen (Recht) oder diejenigen, die erst noch auf eine Methodisierung hoffen (Politik) diesen Zusammenhang (wenn auch implizit) abbilden. Demgegenüber liegt neben dem Ermöglichen von Reflexion ja gerade ein realisierter Beitrag der Soziologie, der Psychologie und der Erziehungswissenschaft darin, in der Praxis durch Methodisierung Professionalität zu sichern. Dies gehört definitiv zu Bedeutung der Bezugswissenschaften für die Soziale Arbeit und hätte – wenn nicht in den einzelnen Beiträgen jedenfalls in der Konzeption des Bandes – berücksichtigt werden müssen.
Abschließend, dieser Punkt wurde in Einschätzungen zu einigen Beiträgen angeschnitten, sei erwähnt, dass genereller Tenor des Bandes, d.h. aller seiner Beiträge ist, dass die Bezugswissenschaften Wissen zur Verfügung stellen, welches dann in verschiedenen Formen praktische Anwendung findet. Sozialkonstruktivismus (vgl. Unterkofler 2019: 4 ff.), und körperfundierte Praxeologie (vgl. Abraham 2006: 128–134) legen jedoch nah, dass nicht von einer reinen kognitiven Übertragung ausgegangen werden kann. Wissen, sowohl praktisches als auch akademisches, wird primär körperlich in Handlung übersetzt. Es schiebt sich eine bio-psycho-sozio-kulturelle Blackbox zwischen Wissen und methodisches Handeln. Was nicht heißen soll, dass der Geist aus dem Spiel wäre. Vielmehr gilt es diese zukünftig in professionellen Handlungstheorien, im besten Fall empirisch fundiert, zu berücksichtigen.
Fazit
Was bleibt? Die Diskussion in kritischer Perspektive sollte deutlich machen: eine hinreichende Berücksichtung der Methoden Sozialer Arbeit; soll die Bedeutung der Bezugswissenschaften für die Soziale Arbeit hinlänglich bestimmt werden, bedarf es einer empirisch fundierten Theorie professionell-methodischen Handelns, die die verdeckten Wirkungen des Körpers in diesem Zusammenhang berücksichtigt.
Nichtsdestotrotz ist der Band zu empfehlen. Denn in jedem Fall werden Neulinge angeleitet zu erkennen, dass das Verhältnis von Bezugswissenschaften und Sozialer Arbeit von fundamentaler Bedeutung für den Status der Disziplin und Profession ist. Dieses Erkennen zu ermöglichen, ist der Verdienst dieses Bandes. Um eine eigene Positionierung müssen sich Novizen und Erfahrene dann (immer wieder neu) selbst bemühen. Der vorliegende Sammelband vermag hierauf aufmerksam zu machen, daran zu erinnern und auch mögliche Richtungen aufzuzeigen.
Literatur
Abraham, A.: Der Körper als Speicher von Erfahrung. Anmerkungen zu übersehenen Tiefendimensionen von Leiblichkeit und Identität; in: Gugutzer, R. (Hg.): body turn. Perspektiven der Soziologie des Körpers und des Sports, Bielefeld 2006: 119–139
Kleve, H.: Sozialarbeitswissenschaft, Systemtheorie und Postmoderne. Grundlegungen und Anwendungen eines Theorie- und Methodenprogramms, Freiburg im Breisgau 2003
Melter, C.: Kritische Perspektiven auf Werk und Rezeption von Herman Nohl. Analyse seiner rassistischen, völkisch-nationalistischen, geschlechterstereotypischen und behindertenfeindlichen Theorien sowie des problematischen Konzepts des „pädagogischen Eros“; in: Gebrande, J., Melter, C., Bliemetsrieder, S. (Hg.):Kritisch ambitionierte Soziale Arbeit. Intersektional praxeologische Perspektiven, Weinheim/Basel 2017: 191 – 215
Unterkofler, U.: „Das war mir zu theoretisch…“ Zum Verhältnis zwischen Theorie und Praxis in der Hochschullehre; in: Soziale Arbeit 1/2019: 2–8
Rezension von
Michael Bertram-Maikath
B.A. Soziale Arbeit, M.A. Soziologie/Politikwissenschaft
Beruflich in der Sozialen/politischen Arbeit mit geflüchteten Menschen tätig
Lehrbeauftragter an der Hochschule Magdeburg-Stendal
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Es gibt 23 Rezensionen von Michael Bertram-Maikath.
Zitiervorschlag
Michael Bertram-Maikath. Rezension vom 08.04.2019 zu:
Caroline Schmitt, Matthias D. Witte (Hrsg.): Bezugswissenschaften der Sozialen Arbeit. Schneider Verlag Hohengehren
(Baltmannsweiler) 2018.
ISBN 978-3-8340-1846-5.
Reihe: Einführung in die Soziale Arbeit - Band 2.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/24825.php, Datum des Zugriffs 26.01.2025.
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