Suche nach Titel, AutorIn, RezensentIn, Verlag, ISBN/EAN, Schlagwort
socialnet - Das Netz für die Sozialwirtschaft

Helmut Lambers: Geschichte der Sozialen Arbeit

Rezensiert von Prof. Dr. Juliane Sagebiel, 04.05.2020

Cover Helmut Lambers: Geschichte der Sozialen Arbeit ISBN 978-3-8252-5042-3

Helmut Lambers: Geschichte der Sozialen Arbeit. Wie aus Helfen Soziale Arbeit wurde. UTB (Stuttgart) 2018. 2. Auflage. 278 Seiten. ISBN 978-3-8252-5042-3. D: 21,99 EUR, A: 22,70 EUR, CH: 29,50 sFr.
Reihe: UTB - 5042.

Weitere Informationen bei DNB KVK GVK.
Inhaltsverzeichnis bei der DNB.

Kaufen beim socialnet Buchversand
Kaufen beim Verlag

Thema

Helfen als Form des Bedarfsausgleiches ist eine soziale Interaktionsform, die durch Strukturen wechselseitigen Erwartens definiert und gesteuert wird. Dies ist eine eher unvertraute, abstrakte Definition Sozialer Arbeit, die jeglichen Bezug zu einem ontologischen Verständnis Menschen zugewandten helfenden Handelns vermissen lässt. Sie steht im Gegensatz zu Definitionen bekannter Klassiker und Klassikerinnen, die Helfen als einen Wesenszug des Menschen beschreiben wie z.B. Hans Scherpner, als Kulturaufgabe wie Alice Salomon, als Unterstützung zur Herstellung eines gelingenderen Alltags (Hans Thiersch), als Bewältigungsaufgabe (Lothar Böhnisch) oder als Menschenrechtsaufgabe, die auf Veränderung von problematischen Wirklichkeiten zielt, wie Silvia Staub-Bernasconi es vorschlägt.

Hier begegnet uns ein Autor, der die Geschichte des Helfens und Erziehens, mithin der Sozialen Arbeit, funktional systemtheoretisch vor dem Hintergrund der Gesellschaftstheorie von Niklas Luhmann nachzeichnet. Nun könnte man sagen, es gibt bereits einschlägige Lehrbücher zur Geschichte der Sozialen Arbeit – warum ein weiteres, und wodurch unterscheidet es sich von den bereits vorliegenden? Die Antwort findet sich in der sozialevolutiven Geschichtsbetrachtung, dem gesellschaftstheoretischen Verstehenskonzept, wie es der Autor nennt (S. 9), das einen entscheidenden Unterschied zu anderen, illustrativen oder epochal orientierten Geschichtsbüchern herstellt. „Soziale Arbeit wird in diesem Buch anhand des Formenwandels von persönlicher Hilfe zu gesellschaftlicher Hilfe nachgezeichnet“ (S. 9) als Formen erwartbaren Bedarfsausgleichs, der sich durch ständige Ausdifferenzierung von Gesellschaften als Antwort auf „humane Folgeprobleme“ entwickelt hat.

Autor

Helmut Lambers lehrt seit 1999 als Professor für Fachwissenschaft der Sozialen Arbeit an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen, Abteilung Münster und ist seit 2019 emeritiert. Der Zweitauflage dieses Buches zur Geschichte der Sozialen Arbeit vorausgegangene Veröffentlichungen sind die Lehrbücher: Theorien der Sozialen Arbeit. Ein Kompendium und Vergleich. Lehrbuch. 4., überarbeitete und erweiterte Auflage (2018; vgl. die Rezensionen zur 1. und 2. Auflage), Management in der Sozialen Arbeit und in der Sozialwirtschaft. Ein systemtheoretisch reflektiertes Managementmodell (2015) und Reflexionsgrundlagen Sozialer Arbeit. Eine systemtheoretische Einführung (2014; vgl. die Rezension zur 1. Auflage). Vorausgegangene Veröffentlichungen sind: Systemtheoretische Grundlagen Sozialer Arbeit: Eine Einführung (2010) und eine empirische Untersuchung zur Selbsteinschätzung ehrenamtlichen Engagements in den nordrhein-westfälischen Flüchtlingssozialdiensten (2004).

Inhalt

Der Autor schließt sich dem sozialevolutiven Stufenmodell von Niklas Luhmann an, gesellschaftliche Entwicklung nach den Zeit-, Sach- und Sozialdimensionen zu differenzieren. Gleichwohl finden sich in der Rekonstruktion dieser Dimensionen auch die bekannten Epochenaufteilungen wieder. In der Zeitdimension kommt es zu einer Dreiteilung, wie sie auch Luhmann in seinem Aufsatz „Formen des Helfens im Wandel gesellschaftlicher Bedingungen“ (1973) ausführt:

  • den archaischen, segmentär nach Sippen und Clans organisierten unterkomplexen Gesellschaften,
  • den hochkultivierten, stratifikatorischen, nach Ständen organisierten komplexen Gesellschaften und
  • den modernen, funktionalen, in Funktionssystemen organisierten hochkomplexen Gesellschaftsformen.

Dieser Systematik folgend ist das Buch in drei Abschnitte gegliedert.

Kapitel I beschreibt, ohne chronologische Aufteilung, archaische Gesellschaftsformationen, in denen Hilfe als wechselseitiger, unmittelbarer Bedarfsausgleich erfolgt und durch unbestimmte Hilfe- und Dankespflichten geprägt ist.

In hochkultivierten Gesellschaften, deren „zentrales Merkmal …die Herausbildung von Ungleichheit in Form schichtengebundener Machtstrukturen (ist)“ (S. 43) präzisieren sich Hilfeformen und Dankespflichten. Sie gründen „auf einer moralisch, generalisierten, schichtenmäßigen Erwartungsstruktur“ (S. 4). Der stratifikatorische Gesellschaftstypus wird in Kapitel II behandelt und umfasst die Epochen des frühen Mittelalters über die Aufklärung bis zur Klassik. Bezogen auf die Hilfeformen spannt der Autor den Bogen von der an die christliche Moral gebundenen Almosenpraxis über die Prozesse der Rationalisierung, Kommunalisierung und Pädagogisierung der Armenfürsorge bis hin zur Arbeitspflicht und Arbeitserziehung. Lambers unterzieht die pädagogischen Klassiker wie Rousseau, Salzmann, Francke, Pestalozzi und Fröbel als Wegbereiter von Erziehungsidealen einer kritischen Würdigung. „Obwohl sie auf die Liste ‚schwarze Pädagogik’ zu setzen sind, ist ihre ideengeschichtliche Wirkung auf die weitere Geschichte der Sozialpädagogik und Sozialarbeit nicht zu unterschätzen“ (S. 9).

In Kapitel III breitet der Autor auf der Folie funktional ausdifferenzierter Funktionssysteme Formen des planmäßig, rational organisierten Bedarfsausgleiches aus. „Hilfe wird zur gesellschaftlich sicher erwartbaren Leistung“ (112). Lambers gliedert die „Moderne“ in drei Abschnitte: die Industrialisierung, die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts und die Spätmoderne ab Mitte des 20. Jahrhunderts bis heute. Die Entstehung der Sozialpädagogik und der Erziehung als gesellschaftliche Reaktion auf sozioökonomische Missstände in der Zeit der Industrialisierung wird entlang bekannter Pädagogen wie Herbart, Mager, Diesterweg und Wichern nicht ohne Kritik aufgezeigt. In vergleichbarer Weise wird die Entwicklung der Sozialen Arbeit am Beispiel bekannter Protagonisten und der Herausbildung der staatlichen Armenpflege und -fürsorge sowie der privaten und verbandlichen Fürsorge skizziert.

Für die zweite Phase der Moderne – der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – zeigt der Autor die Entwicklungslinien der Sozialpädagogik und der Sozialen Arbeit mit ihren rechtlichen und institutionellen Ausprägungen. Auch die Gründerinnen und Gründer der Sozialen Arbeit mit ihren theoretischen Ansätzen und ihrer Bedeutung für eine wissenschaftliche Ausbildung werden der Leserschaft vorgestellt. Der Niedergang der beginnenden Professionalisierung durch die Machtübernahme der Nationalsozialisten und seine Wirkungen auf den Verlust der professionellen Integrität bleiben nicht unerwähnt.

In der dritten Epoche, der Spätmoderne, steht die Bearbeitung von Problemen und Risiken bei steigender gesellschaftlicher Komplexität im Fokus des Bedarfsausgleiches. Lambers umfasst das Spektrum der „politischen Modernisierungsbemühungen um eine Reform des Sozialstaates, (die) mit Beginn des 21. Jahrhunderts in die programmatische Formel des aktivierenden Sozialstaates“ (S. 194) münden. Aktuelle Fragen zu Konsequenzen des neuen Steuerungsmodells für die Soziale Arbeit werden ebenso thematisiert wie die Auswirkungen der Verrechtlichung Sozialer Arbeit (SGB und Hartz IV). Das Kapitel schließt mit einer Reflexion der bisherigen Theorieentwicklung und einen Ausblick mit offenen Fragen, wohin sich Soziale Arbeit in Zukunft entwickeln könnte.

Zielgruppen

Das Buch ist als Lehrbuch (S. 11) mit didaktischen Elementen konzipiert und wendet sich vor allem an Studierende der Sozialen Arbeit (Sozialpädagogik), an Lehrende der Sozialen Arbeit und Lehrende aus den Bezugswissenschaften. Auch interessierte Praktiker und Praktikerinnen finden hier interessante Informationen – insbesondere im dritten Kapitel – und Anregungen für Fachdiskussionen.

Diskussion

Der Autor legt uns ein umfassendes Werk der Geschichte der Sozialen Arbeit auf 278 Seiten vor, hoch komprimiert, auf das Wesentliche reduziert und dennoch gut verständlich, vor allem für Studierende. Ihm gelingt im wahrsten Sinne des Wortes Komplexitätsreduktion, indem er die Rekonstruktion der historischen Entwicklung der Sozialen Arbeit entlang den sozialevolutiven, systemtheoretischen Kriterien nach Luhmann vornimmt. Die Anwendung dieses Referenzrahmens besticht durch Klarheit, Präzision, angemessene Abstraktion und Reduktion. Aufbau und Struktur des Buches folgen der Beschreibungs- und Erklärungslogik der Luhmannschen Gesellschaftstheorie und sind – wenn diese Logik einmal verstanden – gut nachvollziehbar. Lambers gelingt es, die Inhalte für die Leser und Leserinnen auf die Essentials zu beschränken mit Beispielen und anhand der biographischen Einblendungen der „KlassikerInnen“ sowie durch Kurzzusammenfassungen am Ende der jeweiligen Kapitel, der einzelnen Epochenbeschreibungen und gesellschaftlichen Entwicklungsstufen. Diskursiv anregend z.B. für Lehrveranstaltungen dürften die Reflexionsvorschläge zu jeweiligen Gesellschafts- und Hilfeformen sein. Im Unterschied zur ersten Ausgabe werden in der Neuauflage nach jedem Zeitabschnitt – von der archaischen (S. 39), der hochkultivierten (S. 67, 89,105), bis hin zur modernen Gesellschaft (S. 139, 181, 242) Fragen angeboten, die sich am aktuellen Fachdiskurs der Profession orientieren. Um die gesellschaftstheoretischen Analysen in ihrer sozialevolutiven Charakteristik übersichtlicher zu gestalten, hat der Autor jedem der drei Zeitabschnitte eine kurze Zusammenfassung vorangestellt.

Auch wurde In dieser Ausgabe auf mehr Lesefreundlichkeit geachtet. So sind die Grafiken, Zusammenfassungen und Reflexionsfragen mit Piktogrammen versehen, während in der ersten Ausgabe zur Unterscheidung vom Fließtext die Fragen in tief grau unterlegten Kästen markiert wurden. Neu in dieser Ausstattung des Lehrbuches sind auch das Personen- (S. 272 f.) und das Sachregister (S. 274–278) zum selektiven Lesen. 

Was die Gliederung an Struktur abbildet, kann auf den ersten Blick die Leserschaft verwirren, denn auch in der Gliederung spiegelt sich die zunehmende Komplexität der jeweils folgenden Gesellschaftsformation. Leichter sind Aufbau und inhaltliche Argumentation sicher zu verstehen, wenn Grundkenntnisse der Luhmannschen Gesellschaftstheorie als Vorwissen vorhanden sind. Leider versteigt sich der Autor an einigen Stellen doch in die Höhen der sprachlichen Abstraktion, vor allem in der Einleitung und im ersten Kapitel, was ungeübte, mit der Systemtheorie unvertraute Leser und Leserinnen frustrieren könnte. Man muss durchhalten, nach Seite 41 wird es einfacher – und die Mühe lohnt sich.

Fazit

Dieses theorielastige Lehrbuch ist überaus empfehlenswert! Es sollte in die Reihe der vorhanden „Geschichts- und Theoriebücher“ stehen. Mit der Wahl einer unvertrauten, funktional-systemtheoretischen Perspektive auf die historische Entwicklung der Profession unterscheidet es sich von anderen Überblicksdarstellungen, die sich an einer personenbezogenen Systematik, oder an den wissenschaftstheoretischen Grundpositionen, Paradigmen oder eines problembezogenen Zugangs orientieren. Lambers fordert seine Leser und Leserinnen auf, einen strukturellen Blick auf die Professionsentwicklung zu werfen. Strukturen zu erkennen und zu beschreiben, ist ein wesentliches Merkmal professioneller Kompetenz. Insofern darf das Werk von Lambers als gewinnbringender Beitrag für die Ausbildung gewertet werden. Kritisch anzumerken ist nur, dass der Autor es versäumt hat, im Vorwort zur 2., überarbeiteten Auflage auf die Änderungen hinzuweisen. Schade, denn auf den ersten Blick erscheint das zweite Buch dem ersten zu gleichen, bis auf das Cover und den Verlag, bzw. die Verlagsgemeinschaft. Die Änderungen auszumachen bedarf eines aufmerksamen Blicks in das Buch, daher auch eine neue Rezension für ein neues Buch.

Rezension von
Prof. Dr. Juliane Sagebiel
Professorin für Sozialarbeitswissenschaft an der Hochschule München, Fakultät für Angewandte Sozialwissenschaften
Mailformular

Es gibt 6 Rezensionen von Juliane Sagebiel.

Besprochenes Werk kaufen
Sie fördern den Rezensionsdienst, wenn Sie diesen Titel – in Deutschland versandkostenfrei – über den socialnet Buchversand bestellen.


Zitiervorschlag
Juliane Sagebiel. Rezension vom 04.05.2020 zu: Helmut Lambers: Geschichte der Sozialen Arbeit. Wie aus Helfen Soziale Arbeit wurde. UTB (Stuttgart) 2018. 2. Auflage. ISBN 978-3-8252-5042-3. Reihe: UTB - 5042. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/24836.php, Datum des Zugriffs 01.04.2023.


Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt. Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns. Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.


socialnet Rezensionen durch Spenden unterstützen
Sie finden diese und andere Rezensionen für Ihre Arbeit hilfreich? Dann helfen Sie uns bitte mit einer Spende, die socialnet Rezensionen weiter auszubauen: Spenden Sie steuerlich absetzbar an unseren Partner Förderverein Fachinformation Sozialwesen e.V. mit dem Stichwort Rezensionen!

Zur Rezensionsübersicht