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Lea Hollenstein, Regula Kunz: Kasuistik in der Sozialen Arbeit

Rezensiert von Volker Jörn Walpuski, 30.04.2020

Cover Lea Hollenstein, Regula Kunz: Kasuistik in der Sozialen Arbeit ISBN 978-3-8474-2267-9

Lea Hollenstein, Regula Kunz: Kasuistik in der Sozialen Arbeit. An Fällen lernen in Praxis und Hochschule. Verlag Barbara Budrich GmbH (Opladen, Berlin, Toronto) 2019. 340 Seiten. ISBN 978-3-8474-2267-9. D: 29,90 EUR, A: 30,80 EUR.

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Thema der Publikation

Das Lernen an Fällen im Studium (und der Berufspraxis) in der Sozialen Arbeit.

Vorstellung der Herausgeberinnen

Der Sammelband wird von Dr. des. phil. Lea Hollenstein, diplomierte Sozialarbeiterin und Wissenschaftliche Mitarbeiterin der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW) sowie Prof. Dr. phil. Regula Kunz, diplomierte Sozialarbeiterin und Professorin für Soziale Arbeit an der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW) herausgegeben.

Sie haben insgesamt 21 Autor*innen aus dem Kontext des Bachelor-Studiums Soziale Arbeit aus der Nordwestschweiz für die Arbeit am Band versammelt. 18 von ihnen sind in der Grundprofession Sozialarbeiter*in und haben darüber hinaus weitere Ausbildungen und Studiengänge absolviert, promoviert oder sich habilitiert. Ein ausführliches Autor*innenverzeichnis mit Kurzvorstellungen findet sich auf den Seiten 323–325.

Entstehungshintergrund

„Im Studienjahr 2013/14 wurden an der Hochschule für Soziale Arbeit (HSA) der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW) im Kontext eines Projekts zur Weiterentwicklung des Bachelor-Studiums drei aufeinander bezogene Kasuistik-Module eingeführt. Diese sind darauf ausgerichtet, den Studierenden über das ganze Studium hinweg ein kontinuierliches, systematisches Lernen an Fällen zu ermöglichen und den Aufbau ihrer für professionelles Handeln unerlässlichen Fähigkeit der Relationierung von Wissen und Praxis zu fördern“ (S. 7).

Die Autor*innen des Sammelbandes verfolgen dabei zwei Ziele: Zunächst möchten sie einen Einblick in die Arbeit ihrer Hochschule und der involvierten Praxispartner*innen aus der Perspektive der Kasuistik gewähren. Damit soll zweitens der fachliche Austausch zu verschiedenen Zugängen zu Kasuistik angeregt werden.

Als Zielgruppe lassen sich damit vor allem Hochschullehrende der Sozialen Arbeit sowie ähnlicher Ausbildungsgänge beschreiben, Verantwortliche für Weiterbildungen und möglicherweise auch am Studium Interessierte. Auch Supervisor*innen, die für die Fallsupervision Verstehenszugänge und Theorie suchen, können von dem Band profitieren.

Aufbau

Der Band hat 330 Seiten. Die Beiträge umfassen zwischen 12 und 25 Seiten. Am Anfang jedes Beitrags findet sich eine kurze Inhaltsangabe.

  • Teil 1 – Annäherung an die Kasuistik: 3 Beiträge
  • Teil 2 – Kasuistik als Kunstlehre in der Hochschule: 6 Beiträge
  • Teil 3 – Kasuistik in der Praxis: 3 Beiträge
  • Teil 4 – Kasuistik an der Schnittstelle zwischen Praxis und Hochschule: 4 Beiträge

Insgesamt enthält der Band viele Schaubilder, was für das Verständnis sehr hilfreich sein kann. Diese sind – wie auch der äußerst kompakt gedruckte Text in Schriftgröße 9 – zum Teil leider nur beschwerlich oder gar nicht zu entziffern oder unverständlich.

Inhalt

Ein knapper Überblick über die Inhalte der einzelnen Beiträge:

Teil 1 – Annäherung an die Kasuistik

Peter Sommerfeld hat mit Hans Thiersch ein Gespräch geführt: »Die Soziale Arbeit braucht ein der Komplexität und Offenheit des Lebens entsprechendes theoretisches Konzept« (S. 23–34). Im Gespräch wird die Komplexität, die Fällen innewohnt und die sich nicht einfach reduzieren lässt, als zentral benannt, und dass Kasuistik immer auf Theorie bezogen sein muss, diese jedoch nicht schlicht die Anwendung von Theorie sein kann.

Fabienne Rotzetter referiert mit ihrer Kasuistik in der Sozialen Arbeit – Einführung und Begriffsbestimmung (S. 35–52) gegenwärtige Verständnisse der Kasuistik und greift dabei überwiegend auf die Arbeiten Reinhard Hörsters zurück.

Cornelia Rüegger, Roland Becker-Lenz und Joel Gautschi stellen in ihrem Beitrag Zur Nutzung verschiedener Wissensformen in der Praxis Sozialer Arbeit (S. 53–71) zwei Fallanalysen vor, die sie nach Oevermanns Objektiver Hermeneutik exemplarisch analysiert haben. Das Erkenntnisinteresse lag auf der Fragestellung, verschiedene Formen von Wissen und Können (standardisiert, methodisiert, Erfahrung, Intuition) explorativ zu erheben.

Teil 2 – Kasuistik als Kunstlehre in der Hochschule

Achim Korthaus erläutert in seinem Beitrag Kasuistik zu Studienbeginn. Ein situativer Zugang mit »Schlüsselsituationen« der Sozialen Arbeit (S. 75–98) das seit einigen Jahren angewandte Modell fallbezogenen Lernens für den Studienbeginn, das auf https://schluesselsituationen.net/ auch dargestellt ist. Er beschreibt Kasuistik als Berufsvorbereitung und Professionalisierung, die lerntheoretisch auf einem Modell situativ-partizipativen Lernens fußen.

Ursula Hochuli Freund referiert mit ihrem Beitrag Kasuistische Reflexionsfragen. Burkhard Müllers Konzept »Multiperspektivischer Fallarbeit« (S. 99–118) aus der Position der Fortschreiberin des Konzepts in der aktualisierten Auflage. Dabei zeigt sie gleichzeitig die Grenzen des Konzepts von 1993 auf, das zu ergänzen ist.

Sabine Babic, Lea Hollenstein und Peter Sommerfeld stellen in Kasuistik im Kontext von Profession und Disziplin anhand eines systemisch-biografischen Fallzugangs (S. 119–140) anhand von Umsetzungsbeispielen das Studienmodul »Kasuistik III« vor, in dem die Studierenden sich Fallwissen erarbeiten und dieses mit theoretischen Konzepten der Fallbearbeitung und der Professionstheorie in Bezug setzen.

Maria Solèr und Nina Hatsikas-Schroeder zeigen in Kasuistik im Rahmen des systemtheoretischen Paradigmas Sozialer Arbeit (SPSA) (S. 141–166) am Fallbeispiel die Umsetzung des Theoriemodells.

Reinhard Hörster kommentiert mit seiner Annäherung an eine Kunstlehre forschenden Lernens (S. 167–180) die vorangegangenen vier Beiträge und ordnet diese in geschichtliche und theoretische Kontexte ein.

Stephan Kösel und Kathrin Schreiber stellen die Explorative Evaluation von Kasuistik-Modulen und von deren Potenzialen zur Theorie-Praxis-Relationierung (S. 181–196) dar, mit der überprüft werden kann, wie das Lernziel ‚professionelles Handeln‘ erreicht wurde.

Teil 3 – Kasuistik in der Praxis

Susanne Gerber stellt in ihrem Beitrag Supervision als kasuistischer Raum (S. 199–220) Bezüge zwischen Kasuistik und Supervision her und spricht sich für ein strukturiertes Vorgehen in der Supervision aus, die auch zur kollegialen Beratung (Intervision) werden kann. Beides dient in ihrer Argumentation vor allem der Qualitätssicherung und -entwicklung.

Katharina Gerber gewährt in ihrem Beitrag Orte des Lernens an Fällen über die Fälle hinaus (S. 221–238)einen Einblick in die Arbeit des von ihr geleiteten Unternehmens der Ambulanten Familienhilfe. Deutlich wird, auch wenn nicht explizit benannt, das systemisch inspirierte Konzept. Dabei verdeutlicht sie, wie nützlich regelmäßige Reflexion von Fällen im Team sein kann, wenn sie im Konzept vorgesehen ist.

Katja Müggeler und Edgar Baumgärtner beschreiben in ihrem Beitrag über Kasuistik in der Betrieblichen Sozialen Arbeit (S. 239–254) die Arbeitsweisen und Strukturen eines von Müggeler gegründeten Unternehmens der betrieblichen Sozialarbeit und bemühen sich, dabei einen Bezug zur Kasuistik herzustellen.

Teil 4 – Kasuistik an der Schnittstelle zwischen Praxis und Hochschule

Der Beitrag von Achim Korthaus, Simone Pissinger und Ruedi Schaller ist ein wiedergegebenes Gespräch über Communities of Practice (CoP) im Kontext von https://schluesselsituationen.net/: …man merkt, dass man auch anders darüber denken kann… Ein Erfahrungsbericht aus einer Community of Practice zu situativer Kasuistik (S. 259–270). Die CoP wird zunächst erläutert, und dann wird der Nutzen dieses grenzüberschreitenden reflexiven Austauschs für die Professionsentwicklung sichtbar gemacht.

Marc Goldoni, Stephan Kösel und Ursula Hochuli Freund erläutern in ihrem Beitrag Kasuistik während der Praxisausbildung (S. 271–284) die Funktion der beiden Praxisreflexionsmodule in der Studiengangsmitte, die sie u.a. in der Habitusbildung verorten.

Stephan Kösel stellt in seinem Beitrag Kasuistische Methoden für Praxisausbildende in der Begleitung von Studierenden in Praxisorganisationen während ihrer Praxisphasen (S. 285–304) drei Methoden aus der 15tägigen Weiterbildung vor, an denen die Praxisausbildenden kostenlos teilnehmen können, und die ihnen hilft, in ihrer Funktion als Praxisausbildende kasuistisch zu arbeiten.

Regula Dällenbach und Ursula Hochuli Freund berichten in ihrem Beitrag Kooperation zwischen Praxis und Hochschule (S. 305–321) von zwei Forschungsprojekten mit einem heuristischen Kasuistikverständnis, in denen in Fallwerkstätten neue systemische Diagnostik-Instrumente entwickelt und in der organisationalen Praxis implementiert wurden.

Diskussion

Ausgehend von der Verankerung der Kasuistik als zentraler Bestandteil des Studiums der Sozialen Arbeit an der Fachhochschule Nordwestschweiz versuchen die vielen Autor*innen, ihre Beiträge zu diesem Konzept darzustellen. Es handelt sich damit nicht um einen klassischen Herausgeberband vieler unverbundener Beiträge unter einem Oberthema, sondern es wurde sich viel darum bemüht, Bezüge und Vernetzungen der einzelnen Beiträge untereinander herzustellen und das Konzept der FH deutlich werden zu lassen. Die vermeintliche Innovation, Kasuistik zentral zu stellen, ist allerdings eine Wiederentdeckung der Anfänge der Sozialarbeitsausbildung nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Fachschulen und Höheren Fachschulen genau dieses Lernen an Fällen institutionalisierten, das dann im Zuge der Akademisierung in den Hintergrund trat.

Der Band bietet viele Facetten, überwiegend aus systemischen Perspektiven, wenn auch nicht einheitlich. Das wird leider weder im Titel noch in der Einführung deutlich, und andere Verstehenszugänge der Kasuistik bleiben überwiegend unerwähnt. Deshalb hätte ein einsortierend-abgrenzenden Kapitel, das den in der Nordwestschweiz praktizierten Ansatz auch umfassender als Rotzetter in der geschichtlichen Entwicklung einordnet, geholfen. So wirken die Ausführungen insgesamt immer wieder geschichtslos. Und all die Herangehensweisen an das Lernen durch Fälle, die im Zuge der Entwicklung des Caseworks in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstanden und international diskutiert wurden, fehlen leider. Während man seinerzeit stark auf ein Meister-Schüler-Lernen setzte, geht der vorliegende Band stark von einem Konzept des selbstorganisierten Lernens aus und beschreibt immer wieder, wie exemplarische Lernangebote zur Verfügung gestellt werden. Das Konzept steht unter den Bedingungen der Modularisierung, die Thiersch in seinem Gespräch mit Sommerfeld auch kritisiert (S. 31 f.): Viele sind am Kochen beteiligt, rühren und würzen, in der Gesamtschau wirkt es aber eklektizistisch, und es bleibt unklar, welches Gericht herauskommen soll – so wird es wohl ein Buffet, aus dem jede*r sich die Rosinen picken kann. Dabei sind sozialethische und advokatorische Aspekte zwar immer wieder angesprochen, wie sie im Curriculum konkret eingebunden sind und vermittelt werden, wird leider zu wenig deutlich.

Vorteil des Herausgeberbandes ist, dass man einzelne Kapitel gezielt lesen kann und sich die große Pluralität der am Studiengang Beteiligten widerspiegelt. Der Nachteil sind gewisse Redundanzen, Längen und Uneinheitlichkeiten, die trotz des Bemühens um Querverweise den Lesefluss stören.

Zu den einzelnen Beiträgen:

Teil 1 – Annäherung an die Kasuistik

Peter Sommerfeld, längst selbst Professor, kommt eingangs mit seinem damaligen Doktorvater Hans Thiersch ins Gespräch über das Ausbildungskonzept in der Nordwestschweiz. Auch wenn dieses Gespräch ein wenig konstruiert wirkt, ist es dennoch hilfreich: Es verdeutlicht, dass Fälle viel Komplexität beinhalten und dass Verstehen und Handeln den Theoriebezug brauchen. Auch weist Thiersch auf die sozialethische und advokatorische Dimension sozialarbeiterischen Handelns hin. 

Die Einführung und Begriffsbestimmung der Kasuistik in der Sozialen Arbeit von Rotzetter gibt einen Überblick über den aktuellen Diskurs der Kasuistik und referiert dabei überwiegend Reinhard Hörster. Die bisherige Geschichte der Kasuistik ist unzureichend auf eine gute Seite komprimiert, denn sie ignoriert vollständig die Zugänge, an Fällen zu lernen, die in den 1950ern und 1960ern europaweit diskutiert und entwickelt wurden, wie von Neuffer (1990) herausgearbeitet. Diese wurden maßgeblich auch aus der Schweiz beeinflusst, etwa durch Anni Hofer aus Zürich und die UN-Expertin Eva Burmeister (Burmeister 1956; vgl. Hess et al. [1954]) oder Anton Hunziker (1964) aus Freiburg. Auch die Ansätze von Marianne Hege (1979) und Fritz Schütze (1993) werden nicht erwähnt, um weitere wichtige Konzepte zu nennen, die die Gegenwart beeinflussen. Schließlich kommt auch der Reflexivität als wichtiges Element nur eine halbe Seite (S. 46) und damit viel zu wenig Raum zu, ist doch genau diese zentral für das Verstehen des Falles. Aus John Deweys Ansätzen wäre mehr Ertrag möglich und sinnvoll gewesen. Gänzlich unter geht auch die Rolle der Supervision, die in der Anfangszeit des Caseworks fest mit diesem verbunden war. Wo diese „handlungsentlastete Reflexion“, die Rotzetter als wichtiges Merkmal der Kasuistik erachtet, in der Praxis stattfinden soll, wird kaum deutlich, während das Studium – abgesehen von Praktikumsphasen – dieses Merkmal eigentlich aus sich selbst heraus erfüllen sollte.

Rüegger, Becker-Lenz und Gautschi liefern einen explorativen Forschungsbeitrag, der versucht, das Feld des Wissens sozialarbeiterischen Handelns und damit der Professionalisierung zu konturieren. Sie zeigen, dass Fachkräfte unterschiedlich standardisiert oder intuitiv arbeiten, ohne dies mit dem Ergebnis der Arbeit in Bezug zu setzen oder zu einer Empfehlung für das Studium zu kommen: Unklar bleibt, welche Arbeitsweise für Klient*innen oder Sozialarbeitende zielführender ist. Dabei vermeiden Sie den Kompetenzbegriff und regen im Kontext der Kasuistik an, diese Arbeitsstile weiter zu reflektieren.

Teil 2 – Kasuistik als Kunstlehre in der Hochschule

Bei Korthaus wird das systemische Vorgehen, das auf Ressourcenorientierung und Lösungsfokussierung setzt, sehr deutlich. Deutlich wird auch, dass dieses Vorgehen vor allem auf individuelle Problemlagen eingeht und diese nicht in einen gesellschaftlichen Bezug setzt, sich also gut an die Subjektivierung von Problemlagen anschließt.

Ursula Hochuli Freund stellt Burkhard Müllers Konzept verständlich und kompakt dar. Gleichzeitig vermisst sie in seinem Konzept für die heutige Soziale Arbeit „eindeutige Standards [… und] klare Werte“ (S. 112) für das Handeln sowie „eine vorausschauende methodische Strukturierung des professionellen Handelns“ (S. 112 f.). Damit trägt sie die kritisch zu reflektierende Forderung einer Standardisierung (und damit einer Ökonomisierung) in die Soziale Arbeit, die ihre Wurzeln eben gerade nicht in einer Standardisierung sondern im einzelnen Fall hat.

Die Ökonomisierung findet sich auch bei Babic, Höllenstein und Sommerfeld schon im Vokabular des „gecoacht“ Werdens und des „Marktplatzes“. Das systemtheoretische Modell des Lebensführungssystems tendiert auch dazu, gesellschaftliche Strukturen hinter den Teilsystem auszublenden und den politischen Auftrag Sozialer Arbeit zu übersehen.

Ebenfalls systemtheoretisch arbeiten Solèr und Hatsikas-Schroeder mit dem SPSA, setzen dieses konsequent um und verdeutlichen, wie gut angewandte Theorie der Sozialen Arbeit tun kann!

Hörsters Einordnung überrascht positiv, nicht nur, weil sie unvermutet daherkommt, sondern weil sie die vorangehenden Beiträge sowohl geschichtlich als auch theoretisch verortet und damit hilft, diese in einen Zusammenhang zu setzen.

Kösel und Schreibe steuern vor allem ein mögliches Vorgehen zur Evaluation von Kasuistik-Modulen bei, jedoch kaum konkrete Ergebnisse zu den evaluierten Modulen aus dem Studiengang. Dies hilft vor allem jenen, die sich mit Evaluationen und Akkreditierungsfragen an Hochschulen beschäftigen müssen.

Teil 3 – Kasuistik in der Praxis

Interessant ist, dass unter den Stichworten Supervision und Coaching keinerlei Bezug zu den Arbeiten der FH Nordwestschweiz in Olten hergestellt wird. Hier gibt es zahlreiche Publikationen, auf die kein Bezug genommen, obwohl dies innerhalb der Institution eigentlich naheliegen müsste.

Gleichermaßen unbeachtet bleiben die Arbeiten von Katharina Gröning (bspw. 2016) an der Universität Bielefeld, die im letzten Jahrzehnt immer wieder Kasuistik im Kontext der Supervision intensiv bearbeitet und theoretische begründet hat, und wo sich viele theoretische Bezüge herstellen hätten lassen.

So lässt sich leider nur feststellen, dass die Beiträge zur arbeitsbezogenen Beratung fast keine (aktuellen) Beiträge zur Supervisionstheorie als Grundlage nutzen. Supervision und Coaching werden überwiegend als Reflexion zur Optimierung und Qualitätssicherung, hingegen nicht als Instrument der kritisch-sozialwissenschaftlichen Reflexion, der psychischen Entlastung oder der Sinnstiftung konzipiert, wie dies andere Autor*innen tun.

Insbesondere in diesem Teil des Bandes wirken die Werbebotschaften in den Beiträgen der Praxispartner*innen teilweise übertrieben und für eine Hochschulschrift deplatziert. Sie verdeutlichen die erfolgte Ökonomisierung und Privatisierung der Sozialen Arbeit.

Im Beitrag von Müggeler und Baumgärtner fällt zudem die unkritische Haltung sowohl aus datenschutzrechtlicher Sicht bei der Nutzung von Messengerdiensten für die Beratung (es mag in der Schweiz andere rechtliche Rahmenbedingungen geben als in Deutschland) als auch bei der unkritisch dargestellten „Auftragsarbeit“, die mit einer Beratung im Zwangskontext vergleichbar scheint.

Teil 4 – Kasuistik an der Schnittstelle zwischen Praxis und Hochschule

Korthaus, Pissinger und Schaller verdeutlichen sehr anschaulich, wie wichtig Reflexion ist. Sie knüpfen mit ihrer Community of Practice im deutschsprachigen Europa an den europäischen Austausch der 1950er Jahre an. Gleichzeitig wird kaum Bezug zu Supervision und Intervision genommen, und es wird nicht deutlich, wo der Unterschied zu einer sozialwissenschaftlich fundierten Gruppensupervision (Gröning 2016) liegt. So entsteht der Eindruck, dass hier ein Rad neu erfunden werden soll, wobei das Rad zweifelsohne sehr gut ist.

Goldoni, Kösel und Hochuli Freund versuchen, das didaktische Konzept der beiden Studiengangsmodule zu erläutern und bleiben dabei recht abstrakt. Der Beitrag bleibt etwas unverständlich und allgemein, wenn man sich nicht intensiver mit den Modulen und der Studiengangsstruktur beschäftigt. Hier wären eine klarere Struktur oder erläuternde Grafiken hilfreich gewesen.

Kösel wird in seinem Beitrag sehr praktisch und stellt verständlich drei Methoden aus dem Basiskurs vor, die sich direkt umsetzen und anwenden lassen. Mehr über den Aufbau und Ablauf dieses Basiskurses zu erfahren, wäre darüber hinaus interessant gewesen, weil diese Schnittstelle in den integrierten Praktika neuralgisch ist.

Dällenbach und Hochuli Freund stellen zwei abgeschlossene Forschungsprojekte vor, in denen sie als Hochschule mit Praxisorganisationen kooperierten. Ziel war es, neue ‚systemisch-biografische Diagnostik-Instrumente auf Grundlage des Lebensführungssystems‘ (vgl. S. 307) zu entwickeln, die den Spagat „zwischen notwendiger analytischer Tiefe zur Erfassung der Komplexität und den begrenzten zeitlichen Ressourcen im Praxisalltag“ (ebd.) meistern. Diese in Instrumenten, Softwaren und Standardisierungen versteckte Ökonomisierung der Sozialen Arbeit wird ebensowenig reflektiert wie die sozialethische Dimension dieses Tuns.

Fazit

Das Buch stellt gut dar, in wie vielen Facetten Kasuistik in der Sozialen Arbeit gerade weiter entwickelt wird und welchen Ansatz die FH Nordwestschweiz dabei verfolgt. Zentral wird deutlich, dass Kasuistik für die Professionsentwicklung sehr bedeutsam ist und dafür handlungsentlastete Reflexion notwendig ist. Im Ansatz überwiegen systemtheoretische und lösungsorientierte Konzepte sowie Ansätze zu Standardisierungen. Der Band ist zur Anregung für eigene Lehrkonzepte gut geeignet, berücksichtigt dabei jedoch nur ungenügend advokatorische und sozialethische Aspekte Sozialer Arbeit. Eine kritische Reflexion beispielsweise in Hinblick auf gesellschaftliche, ökonomische oder Machtverhältnisse findet nicht statt. Für die Nutzung als anregendes Arbeitsbuch zur Weiterentwicklung von modularisierten, insbesondere systemtheoretisch geprägten Studiengängen ist der Band hilfreich.

Literatur

Burmeister, Eva Elizabeth (1956): Training in Social Casework in Switzerland. Prepared for the Government of Switzerland. United Nations/​Nations Unies Technical Assistance Programme. New York (TAA 173/54/02 TAA/SWI/1).

Gröning, Katharina (2016): Sozialwissenschaftlich fundierte Beratung in Pädagogik, Supervision und Sozialer Arbeit. Originalausgabe. Gießen: Psychosozial-Verlag (Therapie & Beratung); Rezension: https://www.socialnet.de/rezensionen/​20449.php.

Hege, Marianne (1979): Engagierter Dialog. Ein Beitrag zur sozialen Einzelhilfe. 2. verbesserte Auflage. München, Basel: Ernst Reinhardt.

Hess, Max; Hofer, Anni; Sailer, Erna; Schlatter, Margarethe (Hg.) (o.J. [1954]): New Trends in European Social Work: the Impact of Casework. Wien: Astoria-Druck.

Hunziker, Anton (1964): Theorie und Nomenklatur der Sozialarbeit. Ein Beitrag zu Einzelfragen. Luzern: Caritas (Formen und Führen. Schriften zur Psychologie, Pädagogik, Heilpädagogik und Sozialarbeit, 21).

Neuffer, Manfred (1990): Die Kunst des Helfens. Geschichte der sozialen Einzelhilfe in Deutschland. Weinheim: Beltz (Edition Sozial).

Schütze, Fritz (1993): Die Fallanalyse. Zur wissenschaftlichen Fundierung einer klassischen Methode der Sozialen Arbeit. In: Thomas Rauschenbach, Friedrich Ortmann und Maria-E. Karsten (Hg.): Der sozialpädagogische Blick. Lebensweltorientierte Methoden in der Sozialen Arbeit. Weinheim und München: Juventa, S. 191–221.

Rezension von
Volker Jörn Walpuski
M.A., Studiengangskoordinator für den weiterbildenden Studiengang Supervision und Beratung an der Universität Bielefeld sowie freiberuflicher Supervisor (DGSV) und Organisationsberater
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Zitiervorschlag
Volker Jörn Walpuski. Rezension vom 30.04.2020 zu: Lea Hollenstein, Regula Kunz: Kasuistik in der Sozialen Arbeit. An Fällen lernen in Praxis und Hochschule. Verlag Barbara Budrich GmbH (Opladen, Berlin, Toronto) 2019. ISBN 978-3-8474-2267-9. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/24847.php, Datum des Zugriffs 21.03.2023.


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