Theresia Degener, Marc von Miquel (Hrsg.): Aufbrüche und Barrieren
Rezensiert von Prof. Dr. Marion Möhle, 17.06.2020

Theresia Degener, Marc von Miquel (Hrsg.): Aufbrüche und Barrieren. Behindertenpolitik und Behindertenrecht in Deutschland und Europa seit den 1970er Jahren.
transcript
(Bielefeld) 2019.
343 Seiten.
ISBN 978-3-8376-4389-3.
D: 29,99 EUR,
A: 30,90 EUR,
CH: 36,80 sFr.
Reihe: Disability studies - Band 13.
Thema
Die Politik für Menschen mit Behinderungen hat sich seit den 1970er Jahren sowohl auf globaler als auch europäischer Ebene nicht nur sehr dynamisch entwickelt, sondern auch grundlegende Weichenstellungen vorgenommen. Diese haben auf die Entwicklung dieses Politikfeldes in Deutschland gravierende Auswirkungen gehabt. Gleichzeitig zeichnet sich die Politik und das Recht für und von Menschen mit Behinderungen in Deutschland durch eine Vielzahl von Episoden und Ereignissen aus, die als Meilensteine bezeichnet werden können. In diesem Band werden von fachlich ausgewiesenen Autor*innen aus verschiedenen Perspektiven diese Entwicklungen nachgezeichnet und kritisch bewertet.
Herausgeberin und Herausgeber
Das Buch ist gemeinsam von Theresia Degener und Marc von Miquel herausgegeben. Theresia Degener ist Professorin für Recht und Disability Studies an der Evangelischen Hochschule Bochum und leitete dort das Bochumer Zentrum für Disability Studies (BODYS). Der Historiker Marc von Miquel ist Geschäftsführer der Dokumentations- und Forschungsstelle der Sozialversicherungsträger (sv:dok) in Bochum.
Entstehungshintergrund
Die Beiträge des vorliegenden Sammelbandes gehen auf eine Tagung im März 2017 zurück, büßt aber durch seine historischen Bezüge in keiner Weise an Relevanz ein.Aufbau und Inhalt
In dem aus 13 Beiträgen bestehenden Buch beschäftigen sich die Autor*innen jeweils mit einer thematischen Facette der Entwicklung der Politik und des Rechts von und für Menschen mit Behinderungen.
- Im ersten Beitrag, der zugleich die Einleitung darstellt, stecken die beiden Herausgeber*innen Theresia Degener und Marc von Miquel das Feld der Disability Studies ab. Hier erläutern sie die Entstehung und Entwicklung der deutschsprachigen Disability Studies in Deutschland, in Österreich und in der Schweiz. Weiterhin gehen sie auf den Zusammenhang der Disability Studies und der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) ein, bevor sie dann auf den Aufbau und die Inhalte der weiteren Beiträge im vorliegenden Werk eingehen.
- Der zweite Beitrag von Felix Welti nimmt die Politik für Menschen mit Behinderungen in Deutschland vornehmlich aus einer rechtlichen Perspektive in den Blick. Dabei konzentriert er sich auf die Periode zwischen 1990 und 2016 und beschreibt zunächst die rechtliche und politische Entwicklung als zyklische Bewegung, die sich in die jeweiligen vierjährigen Wahlperioden des Bundestags fassen lässt. Nach einer Erläuterung der rechtlichen Grundlagen im deutschen, europäischen und globalen Kontext geht der Autor auf verschiedene Politikfelder ein. Hier erläutert er jeweils die behinderungsrelevanten Aspekte und spannt dabei den Bogen sehr weit von der Gesundheits- und Pflegepolitik über die Arbeitsmarktpolitik bis hin zu Bürgerrechten. Im nächsten Abschnitt zeigt er die relevanten Akteure der Behindertenpolitik in Deutschland auf.
- Der dritte Beitrag von Theresia Degener und Andrew Begg ist in englischer Sprache verfasst und geht auf die Politik für Menschen mit Behinderungen der Vereinten Nationen (UN) ein. Dabei geht der Beitrag chronologisch vor und beginnt bereits mit dem Gründungsjahr der UN. Während in den ersten Jahrzehnten bis 1970 Menschen mit Behinderungen gleichsam unsichtbar aus der Perspektive der UN waren, werden diese ab 1970 als „subjects of rehabilitation“ (S. 45) wahrgenommen. Aber erst nach 1980 kommt es zu einem Paradigmenwechsel, als die Menschenrechtsdimension in Bezug auf Menschen mit Behinderungen immer mehr an Bedeutung gewinnt. Hier spielte auch die weltweit entstehende Disability Rights Movement eine herausragende Rolle, deren politischer Druck auf die UN immer größer wurde. Mit dem neuen Millennium und der UN-BRK wurde eine neue Phase eingeläutet, die aber noch lange nicht zum Abschluss gekommen ist.
- Mit dem vierten Beitrag, den Anne Waldschmidt verfasst hat, wird der Fokus auf die Politik für Menschen mit Behinderungen der Europäischen Union gerichtet. Hier klärt die Autorin zunächst die grundlegenden Kompetenzen der EU und erläutert daran im Anschluss die historische Entwicklung der EU, insbesondere in Bezug auf die Politik für Menschen mit Behinderungen. Im letzten Drittel des Aufsatzes geht Anne Waldschmidt auf Polity, d.h. Werte und Normen sowie Policy, d.h. Maßnahmen und Programme der EU der aktuellen EU-Behindertenpolitik ein. Hier werden auch behindertenpolitische Netzwerke vorgestellt, d.h. auch die zivilgesellschaftlichen Akteure, die einen erheblichen Einfluss auf die Politikgestaltung der EU haben.
Die folgenden neun Beiträge nehmen mit einer Ausnahme eine nationale Perspektive bezüglich verschiedener Facetten der Behindertenpolitik ein. Dabei wird vorwiegend die deutsche Perspektive beleuchtet, ein Aufsatz geht auf die Situation in Schweden ein.
Bevor im Rahmen dieser Rezension auf die einzelnen Beiträge in Bezug auf Deutschland bzw. Schweden eingegangen wird, soll hier der siebte Beitrag von Monika Baár und Anna Derksen vorgestellt werden. In diesem Beitrag stellen die Autorinnen das Internationale Jahr der Behinderten 1981 in historischer Perspektive dar. In diesem Internationalen Jahr verstehen Monika Baár und Anna Derksen als „Kristallisationspunkt übergeordneter Prozesse“, wie die „Anwendbarkeit von Menschenrechtsinstrumenten in einer multikulturellen Welt, die Sichtbarkeit und Einflussnahme neuer sozialer Bewegungen, transnationale Aspekte von Identitätsbildung und Selbstorganisation…“ (S. 180). Dies ist bemerkenswert vor dem Hintergrund der Tatsache, dass bereits 25 Jahre vor der Verabschiedung der UN-BRK im Jahr 2006 hier offensichtlich entscheidende Weichenstellungen vorgenommen wurden und der Einfluss der Zivilgesellschaft bereits damals erheblich war.
Nun sollen im Folgenden in Kürze die Beiträge vorgestellt werden, die sich mit spezifischen Aspekten im nationalen Kontext befassen:
- Im fünften Beitrag widmet sich Wilfried Rudloff der Eingliederungshilfe und beleuchtet diese aus einer kritischen Perspektive. Unter den Stichworten „Lückenbüßer, Kernbestand, Auslaufmodell der Hilfen für Menschen mit Behinderungen“ (S. 107) unterzieht er die Eingliederungshilfe einer kritischen Bilanz und stellt diese in den Kontext des 2016 verabschiedeten Bundesteilhabegesetzes, das zwischenzeitlich in Kraft getreten ist.
- Unter dem Titel „Heimwelten“ geht Ulrike Winkler im sechsten Beitrag auf die Institutionalisierung des Lebens von Menschen mit Behinderungen vornehmlich im stationären Kontext ein. Dabei spannt sie nicht nur historisch einen weiten Bogen von der Mitte des 19. Jahrhunderts (wenn auch mit einem Fokus auf die Entwicklung zwischen den 1970er und 1990er Jahren), sondern ordnet die Diskussion um die „Beheimatung“ von Menschen mit Behinderungen auch in einen ideengeschichtlichen Kontext ein.
- Der achte Beitrag von Anna Derksen lenkt den Blick in das Schweden der 1970er und 1980er Jahre. Hier macht sie in eindrucksvoller Weise deutlich, wie sehr Schweden Vorreiter nicht nur für das Konzept der Normalisierung war, sondern wie früh sich bereits dort die Idee einer „Gesellschaft für alle“ (S. 192) entwickelt hat, nämlich bereits 1972.
- Jonas Fischer betrachtet die Entstehung und Entwicklung der Interessenvertretungen von Menschen mit Behinderungen in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg im neunten Beitrag. Dabei stellt er die wechselvolle Geschichte von Kriegsopferverbänden, Elterninitiativen, Clubs, VHS-Kursen und Krüppelgruppen dar und zeichnet damit ein differenziertes Bild des Kampfes von Menschen mit Behinderungen um Sichtbarkeit und Anerkennung.
- Dem Personenkreis der Menschen mit psychiatrischen Diagnosen wendet sich Peter Lehmann im zehnten Beitrag des Buches zu. Beginnend mit der Psychiatrie-Enquete 1975 stellt er die Problematik von Menschenrechtsverletzungen in kritischer Perspektive dar. Hier geht er u.a. auf die Elektroschock-Behandlung, neuroleptikabedingte Suizidalität sowie traumatisierende psychiatrische Zwangsmaßnahmen ein.
- Der elfte Beitrag von Volker van der Locht geht auf den Missbrauch behinderter Heimkinder ein. Dabei geht es ihm nicht um die Nachzeichnung von Missbrauchsfällen in den letzten Jahrzehnten, sondern vornehmlich um den Diskurs im Zusammenhang mit der Entschädigung der Opfer.
- Der zwölfte Beitrag von H.-Günter Heiden geht auf die jüngere Vergangenheit der 1990er und 2000er in Deutschland ein und stellt bereits im Titel seines Beitrages sein Fazit dar, den er mit „Trotz alledem: Behinderte Menschen verändern die Republik“ (S. 293) betitelt. Dabei untergliedert er seinen Beitrag sehr übersichtlich in vier Phasen, deren erste von der Wiedervereinigung bis zur Aufnahme des Artikels 3, Absatz 3 in das Grundgesetz 1994 reicht. Die zweite Phase kennzeichnet er vom Start der „Aktion Grundgesetz“ 1997 bis zum Inkrafttreten des BGG 2002. Darauf folgt die dritte Phase, die von den ersten Aktivitäten der UN 2001 zur UN-BRK bis zu deren Ratifizierung 2009 reicht. Und schließlich charakterisiert der die vierte Phase beginnend 2009 mit dem ersten Nationalen Aktionsplan (NAP) zur Umsetzung der UN-BRK bis 2016, als das BTHG verabschiedet wurde.
- Mit dem abschließenden dreizehnten Beitrag widmet sich Sigrid Arnade dem Personenkreis der Frauen mit Behinderungen, die sie gleichzeitig als „sehr kämpferisch, sehr erfolgreich und sehr arm“ (S. 321) kennzeichnet. Sie skizziert den steinigen Weg von Frauen mit Behinderungen seit Mitte der 1980er Jahre, die sich ihren Weg von der völligen Unsichtbarkeit hin zur gesetzlichen Verankerung grundlegender frauenspezifischer Regelungen u.a. im BGG sowie im SGB IX erkämpft haben. Dazwischen liegen Jahre des frauenpolitischen Engagements, der Selbstorganisation und des Bohrens dicker Bretter. Diese Erfolge dürfen allerdings nicht verkennen, dass Frauen mit Behinderungen nach wie vor überproportional häufig von Armut betroffen sind, was sehr deutlich macht, dass der Kampf um deren Rechte noch lange nicht gewonnen ist.
Fazit
Dieser Sammelband kann schlicht und ergreifend als Pflichtlektüre für alle am Personenkreis der Menschen mit Behinderungen Interessierten charakterisiert werden. Allerdings setzt das Werk bereits eine grundlegende Vertrautheit mit dem Politikfeld Behinderung voraus, wie es beispielsweise in einem Bachelorstudium der Sozialen Arbeit vermittelt wird oder durch berufliches bzw. politisches Engagement in diesem Praxisfeld erworben wird. Dann erhält der/die Leser*in nicht nur einen umfassenden Überblick über globale und europäische Aspekte, sondern wird auch kenntnisreich mit der historischen Entwicklung und den aktuellen Diskussionen der Politik für und von Menschen mit Behinderungen in Deutschland vertraut gemacht.
Rezension von
Prof. Dr. Marion Möhle
Hochschule Esslingen, Fakultät Soziale Arbeit, Gesundheit und Pflege
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