Burkhard Gniewosz, Peter Titzmann et al. (Hrsg.): Handbuch Jugend
Rezensiert von Dr. Andrea Westphal, 23.05.2019

Burkhard Gniewosz, Peter Titzmann, Burkhard Gniewosz, Peter F. Titzmann (Hrsg.): Handbuch Jugend. Psychologische Sichtweisen auf Veränderungen in der Adoleszenz. Kohlhammer Verlag (Stuttgart) 2018. 559 Seiten. ISBN 978-3-17-029859-0. D: 50,00 EUR, A: 51,50 EUR.
Thema
Das Handbuch Jugend beschäftigt sich mit der biologischen, kognitiven, motivational-emotionalen und sozialen Entwicklung im Jugendalter. Es bespricht, inwiefern soziale Umwelten und gesellschaftliche Prozesse bedeutsam für das Jugendalter sind und beleuchtet für das Jugendalter relevante Störungsbilder.
Herausgeber und AutorInnen
Herausgegeben wurde das Handbuch Jugend von Burkhard Gniewosz und Peter Titzmann. Burkhard Gniewosz ist Professor für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt quantitative Methoden an der Universität Salzburg und beschäftigt sich mit empirischer Bildungsforschung sowie Kindheits- und Jugendforschung. Peter Titzmann hat in Hannover eine Professur für Entwicklungspsychologie inne und beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit der normativen Entwicklung im Zusammenspiel mit Migrationserfahrungen. Das AutorInnenteam des Herausgeberbandes besteht überwiegend aus WissenschaftlerInnen, die u.a. im Bereich der Entwicklungspsychologie, der pädagogischen Psychologie und der Bildungsforschung tätig sind.
Inhalt
Das Handbuch gliedert sich in fünf Teile, die sich mit den biologischen Grundlagen der Adoleszenz, der Rolle sozialer Umwelten, den Anforderungen des Jugendalters sowie gesellschaftlichen Einflüssen beschäftigen. Zudem werden Entwicklungsauffälligkeiten und Störungen im Jugendalter vorgestellt und Präventions- und Interventionsansätze herausgearbeitet.
- Im ersten Teil des Handbuchs werden biologische Grundlagen zur Entwicklung im Jugendalter vorgestellt. Dazu wird im ersten Kapitel dargelegt, inwiefern genetische Erklärungsansätze genutzt werden können, um einerseits Entwicklungsveränderungen zu erläutern, die bei allen Jugendlichen auftreten und andererseits interindividuelle Unterschiede zwischen Jugendlichen zu erklären. Im zweiten Kapitel werden anhand eines Fallbeispiels neuronale Entwicklungsprozesse in der Adoleszenz beschrieben und mit Verhaltensveränderungen bei Jugendlichen in Verbindung gebracht. Das dritte Kapitel beschreibt hormonelle Veränderungen im Jugendalter und wie sie mit dem Erleben und Verhalten der Jugendlichen in Verbindung stehen.
- Der zweite Teil des Herausgeberbands trägt den Titel „Soziale Umwelten“. In fünf Kapiteln werden die Bedeutung von Familie, Freundschaften und romantischen Beziehungen im Jugendalter herausgearbeitet, die Freizeitgestaltung und Mediennutzung beschrieben sowie Herausforderungen vorgestellt, die sich bei der Beschulung von Jugendlichen stellen. Dabei fokussiert das Handbuch u.a. die Veränderungen der Eltern-Kind-Beziehung und den „Spagat“ der Eltern zwischen Kontrolle und Autonomiegewährung. Besprochen wird auch, wie stabil Freundschaften von Jugendlichen sind, wie sie sich im Verlauf des Jugendalters verändern und welche Bedeutung romantische Beziehungen für das spätere Bindungsverhalten besitzen. Zudem greifen die AutorInnen zwei Herausforderungen im schulischen Bereich heraus, nämlich die Vermittlung von Kompetenzen zum lebenslangen Lernen und die Vermeidung von Geschlechtsstereotypen und stellen Förder- bzw. Lösungsansätze dar. Schließlich erfahren die LeserInnen, mit welchen Aktivitäten Jugendliche ihre Freizeit verbringen, wie sie Medien nutzen und wie sich Freizeitaktivitäten und Mediennutzung auf psychisches und körperliches Befinden – bspw. auf die Körperwahrnehmung und den Substanzgebrauch – auswirken können.
- Im dritten Teil des Handbuchs werden – unter dem Titel „Themen der Jugendentwicklung“ – die kognitive, emotionale, motivationale und soziale Entwicklung im Jugendalter sowie Prozesse der Identitäts- und Moralentwicklung vorgestellt. Zudem wird aus Perspektive einer positiven Psychologie beschrieben, wie eine positive Jugendentwicklung verlaufen kann. Auch das Gesundheitsverhalten und die berufliche Entwicklung werden besprochen. Dabei werden die universelle kognitive Entwicklung im Jugendalter sowie Intelligenzunterschiede im Jugendalter thematisiert und u.a. die Entwicklung sprachlicher und mathematischer Fähigkeiten sowie bereichsübergreifender kognitiver Kompetenzen, wie der Metakognition, dargestellt. Zudem wird das Stereotyp der übersteigerten Emotionalität und Impulsivität des Jugendalters aufgegriffen und die AutorInnen erörtern die Emotionalität und Emotionsregulationsstrategien von Jugendlichen und wie diese von Peers, Sozialisationserfahrungen im Elternhaus und der emotionalen Bindung an die Eltern beeinflusst werden. Interessant ist u.a. der Befund, dass Jugendliche teilweise den Wunsch haben, negative Stimmungen aufrecht zu erhalten. Das Kapitel zur Lern- und Leistungsmotivation wirft die Frage auf, wie es um die sogenannte „Null-Bock-Generation“ bestellt sei und beschreibt das komplexe Zusammenspiel von kompetenz- und wertbezogenen Überzeugungen (Erwartungs-x-Wert-Modell) sowie die wesentlichen Bestimmungsstücke der Motivation nach der Selbstbestimmungstheorie. Weiterhin lernen LeserInnen Erklärungsansätze und Einflussfaktoren für die Entwicklung sozialer Kompetenzen im Jugendalter kennen, erhalten eine Übersicht über Förderprogramme und einen Einblick ins Fairplayermanual. Im Kapitel „Identität und Selbst“ werden Theorien der Selbstentwicklung und Identitätsunterschiede zwischen Mädchen und Jungen, homo- und heterosexuellen Jugendlichen und zwischen Angehörigen verschiedener ethnischer oder kultureller Gruppen vorgestellt. Das Kapitel zur moralischen Entwicklung räumt mit dem Stereotyp der verantwortungslosen „jugendlichen Spaß-Gesellschaft“ auf und stellt moralpsychologische Entwicklungstheorien sowie die Entwicklung moralischer Urteile, moralischer Gefühle und der moralischen Identität im Verlauf des Jugendalters dar. Im Handbuch wird auch die objektive Gesundheit, d.h. Statistiken zu Unfällen und chronischen Erkrankungen, die subjektive von den Jugendlichen selbst wahrgenommene Gesundheit und ihr Ernährungs- und Sportverhalten beleuchtet. LeserInnen lernen Modelle kennen, wie die Theorie des geplanten Verhaltens, mit denen sich das Gesundheitsverhalten von Jugendlichen erklären lässt. Schließlich wird im Kapitel „Berufliche Entwicklung“ die prominente Berufswahltheorie von Holland vorgestellt. Auch aktuellere Modelle zur Berufswahl werden beschrieben, wie die Zufallstheorien, welche die Zufälligkeit von berufsbezogenen Ereignissen betonen, die oft kaum vorhersagbar sind, aber gleichzeitig die Chance bieten können, die berufliche Entwicklung aktiv mitzugestalten.
- Unter der Überschrift „Jugend und Gesellschaft“ werden im vierten Teil des Handbuchs drei Kapitel zusammengefasst, die sich mit gesellschaftlichem Wandel und dessen Bedeutung für das Jugendalter befassen, Herausforderungen an Jugendliche mit Migrationshintergrund vorstellen und politische Sozialisationsprozesse im Jugendalter beschreiben. Dabei können sich die LeserInnen in Kapitel 18 zunächst über gesellschaftliche Veränderungsprozesse – wie den demographischen Wandel, die veränderten Qualifikationsanforderungen, Globalisierung und Individualisierung – informieren. Die Autorinnen besprechen auch, wie sich diese Veränderungen auf die Jugendphase auswirken und wie Jugendliche ihrerseits Veränderungen vorantreiben können. In Kapitel 19 werden Akkulturationsstrategien von Jugendlichen mit Migrationshintergrund dargestellt (Integration, Assimilation, Separation, Marginalisierung) und es wird erläutert, welche Adaptationsprozesse die Jugendlichen in der Familie, mit Peers und in der Schule bewerkstelligen. Dabei wird hervorgehoben, dass Jugendliche mit Migrationshintergrund trotz der besonderen Herausforderungen, denen sie sich stellen müssen, natürlich auch mit den typischen biologischen, psychologischen und sozialen Veränderungen konfrontiert sind, die alle Jugendlichen durchlaufen. Kapitel 20 klärt darüber auf, dass Jugendlichen oft zu Unrecht ein grundsätzliches politisches Desinteresse unterstellt wird. Stattdessen zeigen Studien, dass sich Jugendliche durchaus für Themen, wie soziale Ungleichheit und Ressourcenschutz interessieren und engagieren, wenn auch oft nur kurzfristig und in nicht-institutionalisierter Form, bspw. im Rahmen von Demonstrationen. Die AutorInnen erklären, was unter politischer Sozialisation verstanden wird und inwiefern die Familie, Peers, die Schule, die Medien und politische Ereignisse dazu beitragen.
- Schließlich werden im fünften Teil psychische Störungen des Jugendalters beschrieben und Präventions- und Interventionsansätze dargestellt. Vorgestellt werden internalisierende Störungen, Essstörungen und Adipositas, Lernstörungen, Aufmerksamkeitsstörungen, Störungen des Sozialverhaltens und substanzbezogene Störungen. Erklärt wird auch, was unter Resilienz verstanden wird und welche generellen Konzepte zur Prävention und zur Entwicklungsförderung im Jugendalter vorliegen.
Diskussion
Das Handbuch vermittelt einen guten Überblick über die aktuelle psychologische Forschung zur Entwicklung und zu spezifischen Herausforderungen im Jugendalter. Dabei spannt das Handbuch einen weiten Bogen von der neurowissenschaftlichen und physiologischen bis hin zur kognitiven, motivational-emotionalen und sozialen Entwicklung. Auch pathologische Entwicklungen, d.h. für das Jugendalter relevante Störungsbilder werden thematisiert. Zudem nimmt es die Bedeutung der sozialen Umwelten – insbesondere der Familie, der Peers und der Schule – aber auch der Medien in den Blick. Darüber hinaus wird das Jugendalter aus soziologischer Perspektive im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Veränderungen beleuchtet und es werden auch Themen besprochen, mit denen sich PsychologInnen womöglich seltener befassen, wie die politische Sozialisation und Akkulturationsprozesse von Jugendlichen mit Migrationshintergrund.
Bei der Betrachtung dieser Aspekte werden sowohl universale Prozesse beschrieben, die bei allen Jugendlichen ablaufen als auch Faktoren herausgearbeitet, die Unterschiede zwischen Individuen erklären können. Viele Kapitel zeichnen sich dadurch aus, dass sie theoretische Modelle und empirische Ergebnisse der psychologischen Grundlagenforschung vorstellen, aus denen aber auch Implikationen für eine gelingende Förderung von Jugendlichen abgeleitet werden. Das Handbuch ist ein thematisch vielseitiges Übersichtswerk und die behandelten Themen können entsprechend nicht in ihrer Gesamtheit beleuchtet werden. Insbesondere die schulischen Herausforderungen, die sich im Jugendalter stellen, werden dabei nur sehr punktuell besprochen. Für interessierte LeserInnen wird am Ende der einzelnen Kapitel vertiefende Literatur empfohlen.
Der Herausgeberband ist überwiegend sehr gut verständlich geschrieben. Den AutorInnen gelingt es häufig sehr gut, an Stereotype anzuknüpfen, die über das Jugendalter existieren – bspw. das Stereotyp der „jugendlichen Spaß-Gesellschaft“ – und auf der Grundlage der Forschungslage differenziert zu beantworten, inwiefern diese Stereotype zutreffen. Vereinzelt wird der Praxisbezug auch durch die Verwendung von Fallbeispielen erreicht. Das Handbuch bietet sich daher als Überblickswerk für PädagogInnen an, die in der Sekundarstufe oder in der Jugendarbeit tätig sind, für PsychologInnen in Schul- und Familienberatungsstellen und für Kinder- und JugendpsychotherapeutInnen, die sich Grundlagenwissen über die Entwicklung im Jugendalter aneignen wollen. Auch für Studierende der Psychologie, der Bildungswissenschaften und des Lehramts sowie für interessierte Eltern mag die Lektüre des Handbuchs gewinnbringend sein.
Fazit
Das Handbuch ist gut geeignet für Leser/innen, die sich einen Überblick über die aktuelle psychologische Forschung zur Entwicklung von Jugendlichen und über Herausforderungen im Jugendalter verschaffen wollen.
Rezension von
Dr. Andrea Westphal
Wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Empirischen Unterrichts- und Interventionsforschung an der Universität Potsdam
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