Albert Scherr, Aladin El-Mafaalani et al. (Hrsg.): Handbuch Diskriminierung
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 16.01.2019
Albert Scherr, Aladin El-Mafaalani, Emine Gökçen Yüksel, Nicolas Engel (Hrsg.): Handbuch Diskriminierung.
Springer VS
(Wiesbaden) 2017.
833 Seiten.
ISBN 978-3-658-10975-2.
D: 89,99 EUR,
A: 92,51 EUR,
CH: 92,50 sFr.
Reihe: Springer Reference Sozialwissenschaften.
Diskriminierung ist Entwürdigung des Menschlichen
„Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren“, so heißt es u.a. in Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Die Europäische Menschenrechtskonvention bestimmt in Artikel 14, dass die in der „globalen Ethik“ festgelegten Rechte und Pflichten der Menschen „ohne Unterschied des Geschlechts, der Rasse, Hautfarbe, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Anschauungen, nationaler oder sozialer Herkunft, Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt oder des sonstigen Status gewährleistet werden“ muss. Im „Internationen Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung“, das von den Vereinten Nationen am 7. März 1966 proklamiert wurde, wird gefordert, dass „jedem Form und jedes Anzeichen von Rassendiskriminierung überall in der Welt rasch zu beseitigen“ ist. Es ist das aktive Toleranzgebot, das und nur das ein friedliches, gerechtes, gleichberechtigtes, humanes Zusammenleben aller Menschen auf der Erde möglich macht. Wäre diese Menschanschauung selbstverständlich und allgemein anerkannt, bräuchte es keine Auseinandersetzung darüber. Weil aber die Menschheit sich in den Anschauungen, Wertvorstellungen und Einstellungen in der Spannweite von Ego-, Ethnozentrismus, Rassismus und Populismus auf der einen, und Altruismus, Empathie und Zusammengehörigkeitsbewusstsein auf der anderen Seite bewegt, ist es notwendig, wissenschaftlich, faktisch und wahrheitsgemäß zu analysieren, woher Diskriminierung kommt, welche Ursachen diese abweichende Einstellung hat, wie sie erkannt, revidiert und verhindert werden kann.
Entstehungshintergrund Herausgeberteam
Ein „Handbuch Diskriminierung“ ist in den Zeiten von Fake News notwendig. Die Diskriminierungsforschung „untersucht Diskriminierung als ein komplexes soziales Phänomen“, was bedeutet, dass dieses abweichende Verhalten interdisziplinär betrachtet und bearbeitet werden muss. Die wissenschaftlichen Herausforderungen ergeben sich durch die Definition: Diskriminierung entsteht durch die „Verwendung von Gruppen- und Personenkategorien zur Herstellung, Begründung und Rechtfertigung von Ungleichheiten“. Wenn die theoretischen Forschungsfragen und die praktischen Zugänge im wissenschaftlichen Diskurs betrachtet sollen, ist es erforderlich, zum einen „den Stand der Theorieentwicklung und der empirischen Forschung in den relevanten Disziplinen zugänglich zu machen“, zweitens die „Forschungsergebnisse und -desiderate zu den Bedingungen und Formen von Diskriminierung in unterschiedlichen gesellschaftlichen Teilbereichen“ aufzuzeigen, drittens die Anzeichen und Auswirkungen „in Bezug auf heterogene soziale Gruppen- und Personenkategorien darzustellen“, und viertens „Hinweise auf Erfordernisse, Ansatzpunkte, Möglichkeiten und Schwierigkeiten von Praktiken zu geben, die auf die Überwindung von Diskriminierung ausgerichtet sind“.
Der Soziologe und Sozialwissenschaftler von der Pädagogischen Hochschule Freiburg, Albert Scherr, der Politikwissenschaftler und 1978 im Ruhrgebiet geborene Soziologe und Politikwissenschaftler Aladin El-Mafaalani, seit 2018 Abteilungsleiter im nordrhein-westfälischen Ministerium für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration tätig und zuständig für die Organisation und Koordinierung der Integrationspolitik des Bundeslandes (Aladin El-Mafaalani, Das Integrationsparadox. Warum gelungene Integration zu mehr Konflikten führt, 2018, www.socialnet.de/rezensionen/24884.php), und die Wissenschaftliche Mitarbeiterin Gökçen Yüksel geben das Handbuch heraus.
Aufbau und Inhalt
Auf 833 Seiten thematisieren 54 Autorinnen und Autoren aus den verschiedenen Fachbereichen die bisher vorliegenden theoretischen und praktischen Erträge aus der Diskriminierungsforschung. Die Beiträge werden in fünf Teile gegliedert: Im ersten Teil werden „Ursachen, Formen und Folgen von Diskriminierung“ dargestellt; im zweiten geht es um „gesetzliche Bestimmungen des Anti-Diskriminierungsrechts“; im dritten setzen sich die Autorinnen und Autoren mit „Diskriminierung in gesellschaftlichen Teilsystemen“ auseinander; im vierten werden Aspekte von „Diskriminierung in Bezug auf soziale Gruppen und Personen“ vorgestellt; und im fünften Teil werden Konzepte und Institutionen zur Anti-Diskriminierungsarbeit aufgeführt.
Die Thematik stellt sich in Umfang, Bedeutung und Wirkung vielfältig dar. Den ersten Teil beginnt der Magdeburger Politikwissenschaftler Karl Peter Fritzsche mit seinem Beitrag „Zur Begründung des Diskriminierungsverbots“ auf historische Erfahrungen, philosophische Argumente und menschenrechtliche Grundlagen und betont, dass das Diskriminierungsverbot „als Strukturprinzip der Menschenrechte untrennbar mit ihrer Entwicklung verbunden“ ist. Die Historiker Guðmundur Hálfdánarson und Vilhelm Vilhelmsson von der University of Iceland in Hvammstangi vermitteln mit dem englischsprachigen Beitrag einen Überblick über die historische Diskriminierungsforschung. Albert Scherr setzt sich mit der soziologischen Diskriminierungsforschung auseinander, diskutiert die Begriffsbestimmungen und das methodologische Werkzeug und verweist auf eine eigenständige, genuin soziologische Forschung. Der Bielefelder Sozialpsychologe Andreas Zick entwirft mit seinem Beitrag Perspektiven für eine sozialpsychologische Diskriminierungsforschung und zeigt die wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Herausforderungen auf. Der Germanist Martin Reisigl von der Universität in Bern nimmt mit seinem Beitrag „Sprachwissenschaftliche Diskriminierungsforschung“ die Bedeutung der Sprache als ein zentrales Medium der Diskriminierung auf und erläutert die Herausforderungen für die Angewandte Sprachwissenschaft. Der Rechtswissenschaftler von der Universität in Basel, Kurt Pärli, verdeutlicht mit seinem Beitrag „Rechtswissenschaftliche Diskriminierungsforschung“ die fachbezogenen, rechtsmethodischen und rechtsdogmatischen Grundsätze. Die Erwachsenenbildnerin von der Universität in Wien, Alisha M. B. Heinemann, und der Erziehungswissenschaftler und Migrationsforscher Paul Mecheril von der Universität Oldenburg vermitteln mit dem Beitrag „Erziehungswissenschaftliche Diskriminierungsforschung“ einen Überblick auf die Ursachen und Auswirkungen von Diskriminierung auf Lern- und Bildungsprozesse. Die Erziehungswissenschaftlerin Mechthild Gomolla von der Hamburger Helmut-Schmidt-Universität untersucht mit ihrem Beitrag „Direkte und indirekte, institutionelle und strukturelle Diskriminierung“ die vielfältigen, menschengemachten Ursachen von Ungleichheit und Unterdrückung auf den Gebieten von Integration, Migration und Bildung. Die Kulturwissenschaftlerin Eike Marten und die Differenzforscherin Katharina Walgenbach, beide an der Fern-Universität in Hagen tätig, diskutieren intersektionale Forschungsansätze, indem sie auf die Wechselwirkungen von Diskriminierungsformen in rechtswissenschaftlichen und pädagogischen Diskursen aufmerksam machen. Aladin El-Mafaalani, die Sozialpädagogen und Lehrbeauftragten Julian Waleciak und Gerrit Weitzel von der Fachhochschule Münster richten mit dem Beitrag „Tatsächliche, messbare und subjektiv wahrgenommene Diskriminierung“ ihre Aufmerksamkeit auf die Perspektiven von Betroffenen: Es lassen sich vielschichtige kontraintuitive Zusammenhänge herstellen, die durch theoretische Modelle aus der Sozialpsychologie und der Soziologie erklärt werden. Linda Supik vom Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen greift mit ihrem Beitrag „Statistik und Diskriminierung“ ein umstrittenes, beweislastiges wie missbrauchtes Thema auf. Sie verweist auf Lücken und Leerstellen, die sich beim Diskurs über die Bekämpfung von Rassismus und Diskriminierung bei den deutschen, gesellschaftlichen Aktivitäten ergeben.
Die gesetzlichen Bestimmungen zum Anti-Diskriminierungsrecht werden im zweiten Teil mit zwei Beiträgen thematisiert: Die Rechtswissenschaftlerin Elisabeth Holzleithner von der Universität Wien informiert über „EU-rechtliche Bestimmungen zum Diskriminierungsverbot“. Nina Althoff vom Deutschen Institut für Menschenrechte in Berlin macht auf die Situation zum „Diskriminierungsverbot im nationalen deutschen Recht“ aufmerksam und mahnt an, im gesellschaftspolitischen Diskurs „das Bewusstsein für die vorhandenen Verbote zu stärken, deren praktische Umsetzung sicher zu stellen und den Zugang zum Recht diskriminierungsfrei zu gewährleisten“.
Weil sich Diskriminierung in gesellschaftlichen, lokalen und globalen Teilsystemen ereignet, kommt es im dritten Teil des Handbuchs darauf an, Gebote und Verbote im Diskriminierungsmodus zu unterscheiden. Es klingt wie ein Widerspruch, wenn die Sozialwissenschaftlerin Julia Zinsmeister von der Technischen Hochschule Köln in ihrem Beitrag „Legale Diskriminierung im Rechtssystem“ die Frage stellt: „Wann ist Diskriminierung verboten?“, was ja impliziert, dass es Situationen geben könne, wo Diskriminierung erlaubt sei. Zur Lösung dieses Dilemmas empfiehl t die Autorin eine Kooperation der rechtswissenschaftlichen mit der sozialwissenschaftlichen Diskriminierungsforschung. Die Rechtswissenschaftlerin vom Institut für Kriminologie der Juristischen Fakultät der Universität Tübingen, Rita Haverkamp, und der Sicherheitsexperte von der Universität Wuppertal, Tim Lukas, weisen mit dem Beitrag „Diskriminierung im Strafrecht“ auf die vielfältigen, unterschiedlichen, gesellschaftlichen Entwicklungen hin, bei denen zum einen Diskriminierungen abgebaut wurden, zum anderen aber auch alte Ungleichheiten verfestigt und neue geschaffen werden. Der Organisationswissenschaftler von der Fachhochschule Hamburg, Rafael Behr, nimmt mit dem Beitrag „Diskriminierung durch Polizeibehörden“ einen altbekannten Vorwurf auf und bezieht Position. Er lenkt den vielfach individualisierten, schuldzuweisenden Blick und Fingerzeig hin zu einer systematischen Betrachtung: „Entgegen dieser individualisierenden Sichtweise sehe ich die Organisationskultur der Polizei selbst als eine Ursache für die Unfähigkeit, mit Fremdheit positiv umzugehen, wenn es zu dem Fremdsein an sich noch zusätzliche Attribuierungen gibt“. Der Frankfurter Rechtsanwalt Reinhard Marx weist mit dem Beitrag „Diskriminierung im Zuwanderungs- und Flüchtlingsrecht“ darauf hin, dass „völker- und menschenrechtliche Grundsätze ein durchaus weitergehendes Verständnis von Verfolgungsgründen und Diskriminierungstatbeständen erlauben, als dies in der deutschen Rechtspraxis anerkannt wird“. Die Erziehungswissenschaftlerin Merle Hummrich von der Goethe-Universität in Frankfurt/Main setzt sich auseinander mit „Diskriminierung im Erziehungssystem“. Sie richtet ihren Fokus auf die vorschulische und schulische Bildung und Erziehung und zeigt auf, „dass die Forderung, schlechtergestellte Personen allein auf der Handlungsebene zu integrieren, zu kurz greift und zudem pädagogisch Handelnde strukturell überfordert“. Der Soziologe von der Universität Bern, Christian Imdorf, analysiert „Diskriminierung in der beruflichen Bildung“. Er berichtet über Forschungsergebnisse über die betriebliche Auswahl und Vergabe von Ausbildungsplätzen und empfiehlt, „den Integrationshebel auch bei den Betrieben anzusetzen und nicht nur bei den Jugendlichen, die von erschwerten Zugängen in die berufliche Bildung betroffen sind“. Der Kommunikationswissenschaftler von der Friedrich-Schiller-Universität in Jena, Georg Ruhrmann, diskutiert „Diskriminierung in den Medien“. Er betrachtet die Faktoren und Strukturen der Medienberichterstattung über Minderheiten und weist nach, dass „soziale Ungleichheit und hieraus entstehende Diskriminierungen … weniger eine Folge der Medien (sind)“, vielmehr „werden sie generiert und stabilisiert in der kapitalistischen Produktionsweise und im kapitalistischen Wachstum“. Der Soziologe von der Universität Konstanz, Thomas Hinz und die Soziologin von der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität, Katrin Auspurg analysieren mit dem Beitrag „Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt“ die Situationen beim ungleichen Zugang zum Mietwohnungsmarkt. Sie untersuchen die Ursachen und Tatbestände von ungleicher Versorgung mit Wohnraum und die Entwicklung der räumlichen Segregation nach ethnischer Zugehörigkeit. Der Sozialwissenschaftler vom Bochumer Zentrum für interdisziplinäre Regionalforschung, Sebastian Kurtenbach, spricht von „Diskriminierung und territorialer Reputation“, wenn er darauf verweist, dass und in welcher Weise Diskriminierung aufgrund von Wohnadressen und Wohngebieten verläuft und mit welchen Methoden und Instrumenten die sozialhistorischen, sozialstrukturellen und raumsoziologischen Aspekte ermittelt werden.
Im vierten Teil informiert der Sozialwissenschaftler von der Hochschule Esslingen, Kurt Möller, über Forschungsergebnisse zur „Entwicklung und zum Ausmaß von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“. Es sind Rechtsextremismus, Hasskriminalität, Rassismus, Ego-, Ethnozentrismus und Populismus, die Unverträglichkeit zu einem Menschheitsübel machen. Er stellt ein Modell vor, das darauf fokussiert, „ob und in welcher Weise Lebensgestaltungsbedürfnisse nach Kontrolle, Integration, Sinnerfahrung und sinnlichem Erleben im Kontext von erfahrungsstrukturierenden Repräsentationen und Selbst- und Sozialkompetenzentwicklungen Erfüllung erfahren“. Der Rechts- und Politikwissenschaftler, Referent bei PRO ASYL e.V., Maximilian Pichl, informiert über „Diskriminierung von Flüchtlingen und Geduldeten“. Die unzulässige und menschenunwürdige, alltags- und strukturbestimmte Unterscheidung zwischen „guten“ und „schlechten“ Flüchtlingen bewirkt Diskriminierung. Aladin El-Mafaalani nimmt sich die Bezeichnung „Menschen mit Migrationshintergrund“ vor und zeigt auf, warum die Benennung für die Diskriminierungs- und Rassismusforschung unbrauchbar und irreführend ist. Der Dipl.-Päd. und emeritierte Hochschullehrer von der FH in Jena, Karl-August Chassé, nimmt Stellung zur „Diskriminierung von Armen und sozial Ausgegrenzten“. Er setzt sich auseinander mit der institutionellen und alltagsweltlichen Diskriminierung dieses Teils der Bevölkerung auseinander und weist nach, dass die „Debatte um Armut die innere Widersprüchlichkeit der Gesellschaft zeigt“. Die Soziologin von der Universität in Kassel, Mechthild Bereswill und die Sozialwissenschaftlerin Gudrun Ehlert von der FH Mittweida analysieren mit dem Beitrag „Diskriminierung aufgrund des Geschlechts und der sexuellen Orientierung“ einschlägige Forschungsergebnisse „im Zusammenhang von Ungleichheitsdynamiken und heteronormativen Normalitätskonstruktionen, die hierarchische Geschlechteranordnungen stützen“. Der Berliner Historiker und Vorurteilsforscher Wolfgang Benz erinnert mit dem Beitrag „Antiislamische Diskriminierung“, dass die Diskriminierung von Muslimen historische Wurzeln hat und das Feindbild einer aggressiven Bedrohung und Abwehrmechanismen im gestörten Okzident – Orientdiskurs bedient. Albert Scherr rückt mit dem Beitrag „Diskriminierung von Roma und Sinti“ die historischen, gängigen, strukturell- und alltagsweltlichen Vorurteile gegen diese Bevölkerungsgruppen zurecht (vgl. dazu auch: Albert Scherr/Lena Sachs, Erfolgreiche Bildungsbiografien von Sinti und Roma, 2017, www.socialnet.de/rezensionen/23272.php). Die Professorin für Diversitätsbewusste Ansätze in Theorie und Praxis Sozialer Arbeit von der Alice Salomon Hochschule Berlin, Barbara Schäuble, thematisiert „Antisemitische Diskriminierung“. Die Autorin plädiert „für eine stärkere Berücksichtigung jüdischer Antidiskriminierungsforschung und -praxen aller Epochen, um deren Erkenntnisse stärker zu würdigen und um eine methodologische Passivierung zu vermeiden“. Der Berliner Rehabilitationswissenschaftler Ernst von Kardorff wendet sich mit dem Beitrag „Diskriminierung von seelisch Beeinträchtigten“ der Situation zu, Er arbeitet historisch und aktuell heraus, dass „die Anerkennung der für alle direkt Beteiligten oft schmerzlichen Realität psychischer Beeinträchtigungen und der damit unvermeidlich vorhandenen Mühen ( ) dabei ein wichtiges Moment zur Vermeidung von Diskriminierung (ist)“. Julia Zinsmeister von der Technischen Hochschule in Köln fragt in ihrem Beitrag, wie sich „Diskriminierung von Körperlich und geistig Beeinträchtigten“ zeigt und auswirkt. Angesichts des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (2006) braucht es einen individuellen und lokal- und globalgesellschaftlichen Perspektivenwechsel hin zur Durchsetzung von Selbstvertretungsrechten von Menschen mit Behinderung.
Im fünften Teil entwerfen die Politikwissenschaftlerin Karin Lenhart-Roth von der Hochschule Hannover und der Magdeburger Bürgerrechtler Roland Roth die Vision einer „Anti-Diskriminierung als zivilgesellschaftliches Projekt“. Sie analysieren die Möglichkeiten und Chancen, und sie verweisen auf die Fallstricke und Widerstände. Der Sozialwissenschaftler von der HTW Saar, Dieter Filsinger, plädiert für eine „interkulturelle Öffnung von Kommunen“. Dieses bisher in der Forschung vernachlässigte Feld braucht theoretische Anstöße und praktische Handlungsempfehlungen, die durch „eine Zusammenführung (von) sozialpädagogischer, politik- und verwaltungswissenschaftlicher sowie stadtsoziologischer Forschungsperspektiven … aussichtsreich“ sind. August Gächter vom Wiener Zentrum für soziale Innovation bringt in den Diskurs „Diversity Management als Anti-Diskriminierungsstrategie“ ein. Diversitätsmanagement als ein wichtiges, professionelles Führungsinstrument muss in den beruflichen und betrieblichen Arbeitsabläufen etabliert werden. Der Soziologe von der PH Freiburg und die Pädagogin von der FHNW in der West-Schweiz, Diana Sahrai, setzen sich mit „Inklusion als Anti-Diskriminierungsstrategie“ auseinander. „Inklusive Bildung“ darf nicht nur Menschen mit Beeinträchtigungen ansprechen, sondern muss als gesamtgesellschaftliche Herausforderung verstanden werden. Der Didaktiker für sozialwissenschaftliche Bildung an der Ruhr-Universität Bochum, Karim Fereidooni (vgl. auch: Karim Fereidooni, Hrsg., Rassismuskritik und Widerstandsformen, 2017, www.socialnet.de/rezensionen/22589.php) und die wiss. Mitarbeiterin beim Zentrum für LehrerInnenbildung der Universität in Köln, Mona Massumi, stellen das Konzept „Affirmative Action“ vor. Es sind Fragen, „unter welchen Umständen … ‚Differenzen‘ spezifischer Bürger_innen explizit betont werden (sollen), um Antidiskriminierungsmaßnahmen ergreifen zu können und unter welchen Umständen … ‚Differenzen‘ … explizit nicht betont werden (sollten)“. Der Leiter der Antidiskriminierungsstelle des Bundes, Bernhard Franke und die Projektverantwortliche der Institution, Nathalie Schlenzka, informieren über die europarechtlichen Vorgaben, die Zuständigkeitsbereiche und die Aufklärungs- und Forschungsaufgaben der unabhängigen Einrichtung. Die Leiterin der Abt. Menschenrechtspolitik Inland/Europa des Deutschen Instituts für Menschenrechte, Petra Vollmar-Otto stellt die Antidiskriminierungsarbeit der unabhängigen Bundeseinrichtung vor: „Nationale Menschenrechtssituationen haben eine Brückenfunktion zwischen dem internationalen und dem nationalen Menschenrechtssystem“. Birte Weiß vom Hamburger Verein und staatlich anerkannten Träger sozialer Dienstleistungen, „basis & woge e.V“, berichtet über Konzepte und Erfahrungen bei der Beratungsarbeit gegen Diskriminierung. Sie sieht in der konkreten Antidiskriminierungsberatung das Dilemma, dass eine wirksame, fachliche und professionelle Arbeit bei der dauernden, prekären Unterfinanzierung der Tätigkeit erschwert wird. Die Politologen von der Universität Leipzig, Daniel Schmidt und Rebecca Pates, diskutieren die Möglichkeiten und Zielsetzungen der „Antidiskriminierungspädagogik“. Das bildungs- und erziehungswissenschaftliche Tätigkeitsfeld ist eingebunden in die Theorie- und Praxiselemente von kritischer, interkultureller und Interventionspädagogik und basiert auf dem Bewusstsein, dass „Diskriminierung nicht als Minderheitenprproblem …, sondern als strukturelle, die ganze Gesellschaft“ betreffende Herausforderung verstanden wird. Der Berliner Linguist und Skandinavist Lann Hornscheidt berichtet mit seinem Forschungsbeitrag „Nicht-diskriminierende Sprachverwendung und politische Correctness“, dass – trotz des Bemühens von sprachlich Privilegierten, ihre Kommunikation nicht diskriminierend zu verwenden – sprachliche Diskriminierungen im gesellschaftlichen Umgang sich stabil verhalten. Die Berliner Politologin, Projektleiterin und Bildungsreferentin beim Verein „Dissens – Institut für Bildung und Forschung e.V.“, Katharina Debus, beschließt mit dem Beitrag „Nicht-diskriminierende Sexualpädagogik“ das Handbuch: „Für alle am pädagogischen Prozess Beteiligten ist es hilfreich, eine Haltung Lebenslangen Lernens sowie Ambiguitäts-Toleranz … zu entwickeln. Gelingt dies, bietet Sexualpädagogik … eine gelungene Beziehungsarbeit“.
Fazit
Das „Handbuch Diskriminierung“ erfüllt die Erwartung, dass eine fachliche, interdisziplinäre, theoretische und praktische Auseinandersetzung mit den alltäglichen und strukturellen Problemen von Stereotypenbildung, Vorurteilen, Unrechts- und Diskriminierungserfahrungen auf professionellen, rationalen und empathischen Grundlagen beruhen muss. Die Diskriminierungsforschung liefert dazu die Basis. Die vielfältigen, individuellen und lokal- und globalgesellschaftlichen Ausprägungen von Diskriminierung verweisen auf ein ganzheitliches, humanes Bewusstsein und erfordern das, was in der „Globalen Ethik“, der allgemeingültigen und nicht relativierbaren Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948, zuvorderst proklamiert wird: Die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte bildet die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt.
Das Handbuch gehört in die Bibliotheken von Schulen und Erwachsenenbildungs-Einrichtungen und in die Handapparate der Hochschulen.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 16.01.2019 zu:
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(Wiesbaden) 2017.
ISBN 978-3-658-10975-2.
Reihe: Springer Reference Sozialwissenschaften.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/24869.php, Datum des Zugriffs 18.01.2025.
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