Martina Löw: Vom Raum aus die Stadt denken
Rezensiert von Alexander Krahmer, 24.06.2019

Martina Löw: Vom Raum aus die Stadt denken. Grundlagen einer raumtheoretischen Stadtsoziologie.
transcript
(Bielefeld) 2018.
196 Seiten.
ISBN 978-3-8376-4250-6.
D: 24,99 EUR,
A: 25,70 EUR,
CH: 31,60 sFr.
Reihe: Materialitäten - Band 24.
Thema
Martina Löw führt mit dem vorliegenden Band in den Ansatz einer „raumtheoretischen Stadtsoziologie“ ein, deren Grundlagen und Potenziale hier erstmals auslotet werden. Dabei verteidigt Löw eine sozialtheoretische Untersuchung des Raumes gegenüber der häufig dominierenden gesellschaftstheoretischen Perspektive auf den Raum und diskutiert im Anschluss mögliche Eigenwirkungen von Räumen und Raumstrukturen. Die neuartige Forschungsperspektive wird entwickelt vor dem Hintergrund einer diagnostizierten spätmodernen „Re-Figuration“ der Räume.
Autorin
Seit 2013 arbeitet die studierte Erziehungswissenschaftlerin und promovierte Soziologin Martina Löw als Professorin im Fachgebiet Planungs- und Architektursoziologie an der TU Berlin (Institut für Soziologie). Zuvor war sie verschiedenenorts als Professorin tätig (u.a. Konstanz, Duisburg und Frankfurt a/M), am längsten jedoch (von 2002 – 2013) an der TU Darmstadt (ebenfalls Institut für Soziologie). Martina Löw war von 2011 bis 2013 Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. Derzeit steht sie, gemeinsam mit H. Knoblauch, als Sprecherin dem Sonderforschungsbereich 1265 „Re-Figuration von Räumen“ (DFG) vor (TU Berlin) und ist u.a. Mitherausgeberin der Reihe „Materialitäten“, in der auch dieser Band erschienen ist. Zentrale Schriften wie Raumsoziologie (Erstauflage 2001) und Die Eigenlogik der Städte (2008, gem. mit H. Berking) liegen in verschiedenen Übersetzungen vor.
Entstehungshintergrund
Bei den Inhalten des Buches handelt es sich größtenteils um Publikationen früherer Aufsätze, deren erneute Veröffentlichung auf eine Anregung des Verlagshauses zurückgeht. Die Autorin nahm Letztere auf, steuerte aber neben der Einleitung noch zwei weitere Beiträge bei, die frühere mit ihren aktuellen Forschungsinteressen verknüpfen. Darüber hinaus orientieren sie den Gesamtband stärker auf besagtes Projekt einer raumtheoretischen Stadtsoziologie.
Aufbau
Das Buch setzt sich aus Aufsätzen der Autorin aus rund achtzehn Jahren zusammen und beinhaltet wichtige Forschungsbeiträge zu Fragen und Debatten der gegenwärtigen Stadtforschung. Die Einleitung widmet sich zunächst allgemein dem Verhältnis von Raum-, Gesellschafts- und Stadtforschung, versucht aber auch die zeitliche Dimension zu berücksichtigen. Aus diesem Anlass wird auf Defizite an den Schnittpunkten besagter Forschungsdisziplinen aufmerksam gemacht. Das zweite Kapitel geht der Bedeutung der Raumforschung zunächst theoriegeschichtlich nach und untersucht vor dem Hintergrund der klassischen Unterscheidung von „Handeln“ und „Struktur“ ob und wie der Raum hier womöglich eine „duale Rolle“ spielt.
Das dritte Kapitel stellt den „Forschungsstand“ (20) der derzeitigen sozialwissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Raum dar, während parallel dazu die Annahme einer spätmodernen räumlichen „Re-Figuration“ als einer zentralen Ausgangsüberlegung des besagten Sonderforschungsbereiches vorgestellt wird. Das vierte Kapitel geht vor dem Hintergrund zunehmender städtischer Vielfalt der Frage nach deren geeigneter Repräsentation nach, folgt aber auch dem Gedanken einer „Differenzlogik der Räume“. Das fünfte Kapitel schließt daran mit method(olog)ischen Überlegungen an, etwa dazu wie ein alltägliches, v.a. praktisches „Raumwissen“ erhoben werden kann.
Bisher wenig erschlossene Praktiken des Raummachens und damit verbundene Machtbeziehungen sind derweil Gegenstand des sechsten Kapitels, das sich schwerpunktmäßig geschlechtsspezifischen Arrangements von Räumen widmet. Das siebte Kapitel stellt einen weiteren theoriegeschichtlichen Einschub dar. Löw rekapituliert die nationale und teilweise internationale Forschungsgeschichte der „Gemeindestudien“ und geht nach anschließender kritischer Betrachtung auf die Suche nach Anschlusspunkten für eine „moderne Gemeindesoziologie“.
Das achte Kapitel ist ihrem eigenem (gemeinsam mit H. Berking entwickelten) Ansatz der „Eigenlogik der Städte“ gewidmet. Versucht wird, mit Rückgriff auf (sinn-)verstehende Soziologien (u.a. Max Weber, Karl Mannheim), die Frage zu beantworten inwiefern Städte eigenständige Erfahrungsräume darstellen. Der Ansatz wird im neunten Kapitel am Beispiel von Salvador de Bahia (Brasilien) vertieft, wo Löw Feldstudien durchgeführt hat. Im zehnten Kapitel werden die Erkenntnisse des Buches im Hinblick auf den angedachten raumtheoretisch-stadtsoziologischen Ansatz zusammengefasst und erneut die Frage möglicher Eigenwirkungen von Räumen auf das Soziale diskutiert. Diese und weitere Anschlussfragen werden abschließend als zukünftiges Forschungsfeld der raumtheoretischen Stadtsoziologie vorgestellt.
Inhalt
Anhand einer Auswahl an Kapiteln gehe ich im Folgenden näher auf Ausgangsüberlegungen des hier vorgeschlagenen Ansatzes ein.
Grundlagen einer Soziologie des Raumes
Die Einleitung (erstes Kapitel) des Buches hebt zu Anfang das vertraute Verhältnis zwischen Raum, Stadt und Zeit hervor, wobei Löw anschließend v.a. auf die enge Beziehung von Raum- und Stadtforschung zu sprechen kommt. Deren Grund vermutet sie im Einfluss von Theoretikern wie Georg Simmel und Henri Lefebvre, die Pionierleistungen in beiden Forschungsfeldern abgelegt haben. Löw macht vor diesem Hintergrund auf eine wichtige Unterscheidungsmöglichkeit aufmerksam, die bei nachfolgenden Forscher*innen zunehmend verschwimme: Die Differenz zwischen einer im weitesten Sinne sozialtheoretisch ausgerichteten Analyse des Raumes und seiner spezifisch gesellschaftstheoretischen Betrachtung.
Der Verlust dieser klaren Unterscheidung (bzw. die folgende „Vermischung“) habe im Forschungsfeld (jedoch v.a. in der „marxistischen Raumsoziologie“; vgl. 33ff) dazu geführt, dass der Raum seitdem stärker in Abhängigkeit von,Prozesslogiken‘ (etwa der kapitalistischen Produktionsweise) reflektiert werde und seine weitere Entwicklung v.a. anhand der zunehmenden Kommodifizierung, Homogenisierung sowie „raum-zeitlichen Kompression“ (David Harvey) beobachtet werde, woneben andere – etwa anthropologische, allgemein sozialtheoretische – Bedeutungen weniger berücksichtigt werden.
Diese gesellschaftstheoretische Beschreibung (im engeren Sinne) decke jedoch nicht alle räumlichen Merkmalen ab und sie entdecke auch nicht alle Raumentwicklungen. Eher fördere sie eine weitere Vereinseitigung in der Wahrnehmung des Räumlichen. Löw stellt besagter Perspektive auf Prozesslogiken deshalb ihren eigenen Ansatz zu einer „raumtheoretisch fundierten Stadtsoziologie“ (13) entgegen. Darin soll die Vielfalt der Räume sichtbar gemacht, der Blick aber auch auf eine duale Bedeutung des Raumes gelenkt werden, der sie sich im zweiten Kapitel ausführlich widmet.
Der Raum, so Löw, in Übereinstimmung mit klassischen und gegenwärtigen Theorien, sei nicht natürlich, sondern werde geformt durch Kontextbedingungen und soziales Handeln und bleibe weiter veränderbar. Daneben – so eine wesentliche Erkenntnis der „marxistischen Raumsoziologie“ – sei er aber auch Ergebnis verschiedener gesellschaftlicher Strukturen. Außerdem jedoch, so Löw, stelle er auch eine „Dualität“ dar (zur „Dualität“ Anthony Giddens, Die Konstitution der Gesellschaft, Frankfurt a/M, 1988). Damit spielt die Autorin darauf an, dass Räume zwar „im Handeln geschaffen werden“, gleichzeitig aber auch „als räumliche Strukturen, eingelagert in Institutionen, Handeln steuern.“ (42f) In diesem Sinne, so Löw, sei der Raum gleichermaßen „konstitutiv“ für das Soziale (17f).
Damit schließt sie im gewissen Sinne an frühere Forschungen zur „Eigenlogik der Städte“ an (123ff, vgl. auch M.Löw, H. Berking, Die Eigenlogik der Städte. Neue Wege für die Stadtforschung, Frankfurt 2008). Dort wie an verschiedener Stelle in den hier folgenden Texten stellt sie wiederholt die Behauptung einer gewissen Eigenwirkung von (städtischen) Räumen auf (25ff), worunter sie überdies auch „leibkörperliche“ Wirkung des Raumes zählt (vgl. 41, 78, 134).
Von der Annahme ausgehend, der Raum spiele also mehr als eine hintergründige Rolle, wird sie selbst bei (post-)marxistischen Autoren wie David Harvey oder Edward W. Soja fündig, konzentriert sich im Anschluss aber verstärkt auf Handlungstheorien, die konkrete Raumpraktiken ins Zentrum stellen. Dabei zitiert sie u.a. Anthony Giddens, der sich um eine Abwägung sozialen Handelns (nach Max Weber) und der gleichzeitigen Prägung des letzteren durch vorhandene Normen, Regeln sowie Ressourcen (und Routinen) bemüht.
Auch wenn Giddens den Raum (neben der Zeit) als „Kernstück der Sozialtheorien“ (zit. n. 37) bezeichnete, erweise sich, so Löw, sein Raum-Begriff als defizitär. Zwar erweise sich soziales Handeln darin in irgendeiner Weise als „lokalisiert“, jedoch wird seine Wirkung im Sinn des selbsttätigen Herstellens solcher räumlicher Arrangements übergangen. Auch „verorte“ Giddens soziale Strukturen sogar gänzlich außerhalb von Raum und Zeit (37). Benno Werlen korrigierte solche theoretische Verengung in Giddens „Theorie der Strukturation“ teilweise, wenngleich er, so Löw weiter, seinerseits kaum über Eigenwirkungen und Potenziale räumlicher Strukturen spreche. Letztere lassen sich aber sehr wohl als Rückwirkungen von Räumen auf die Körper der Handelnden und damit auch in derem Handeln selbst nachweisen (41).
Schon 2001 stellte Löw neben den hier referierten Überlegungen eine eigene Raumsoziologie auf, die ein relationales Verständnis des Raumes anhand von „Spacing“und „Syntheseleistungen“ (ebd.: 158ff) als raumkonstitutiven Handlungen vorschlägt. „Spacing“ beziehe sich dabei auf das „Platzieren“ (oder auch Herstellen) von Dingen, Gütern und selbst Menschen; während sich „Syntheseleistungen“ auf deren Verknüpfung und das Wie dieser Verbindung konzentrieren. Schließlich werden erst „über Wahrnehmungs-, Vorstellungs- oder Erinnerungsprozesse () soziale Güter und Menschen/Lebewesen zu Räumen zusammengefasst.“ (43). Für ein vollständiges Raumverständnis, so Löw, müsse sowohl über die Platzierung von „einzelnen Elemente[n] als auch über die Herstellung von Beziehungen zwischen diesen Elementen“ nachgedacht werden (45).
Konflikthafte Re-Figuration von Räumen in der späten Moderne
Im dritten Kapitel, einer Publikation aus dem Rahmen des DFG-geförderten Sonderforschungsbereichs (1265) „Re-figuration von Räumen“, rekapituliert Löw raumstrukturelle Veränderungen seit den „langen 1960er Jahren“. Der Dominanz neuzeitlicher „Territorialität“ als bislang vorherrschender räumlicher Ordnung stehe spätmodern eine deutlich komplexere, unübersichtlichere Ausgangssituation gegenüber. Nach Löw ergab sich aus diesen Veränderungen auch eine Infragestellung angeblicher räumlicher Homogenitäten und somit auch eine Problematisierung der lange vorherrschenden „Container“-Darstellung des Raumes.
Vor allem werde sie durch die intensivere Globalisierung, begleitet von zunehmender Mobilität und mediale Vermittlung sowie grenzübergreifende Raumordnungen infrage gestellt (51). Besagte Entwicklung deutete sich im 19., spätestens 20. Jahrhundert bereits im „räumlichen Pedant des nationalen Territoriums“ an – in der Großstadt (48). Als „heterogenes, sozial inklusives Gebilde mit unklaren Grenzen“ (49) machte sie andere Raumordnungen bereits erfahrbar, die sich hier bereits früh widersprüchlicher und konfliktreicher präsentierten. Heute, so Löw, sei dieser qualitative Unterschied als „Re-Figuration“ global allgegenwärtig. Das deute sich in der gesellschaftlichen „Spannung zwischen verschiedenen 'Logiken' und Raumstrukturen“ an, wobei Löw einerseits auf die „Ausdifferenzierung institutionell spezialisierter Systeme“ rekurriert und andererseits auf die Bildung überspannender Netzwerke (52f).
Die Folge des Wandels sei kein Verschwinden des Territorialprinzips, sondern ein sichtbar konflikthaftes Nebeneinander diverser Raumordnungen, also gewissermaßen eine „Figuration der Figuration“ (Elias, zit. n. Löw, 53). Diese Veränderung, die sich nicht nur auf der Makro- sondern ebenso in der Mikroebene des Alltags zeige, präge den „Zustand der spätmodernen Gesellschaft“, weshalb bisherige „Weltwahrnehmung und -strukturierung“ (59) nachhaltig erschüttert werde. Phänomene der „Polykontexturalität“ ebenso wie der „Translokalisierung“ werden allenthalben beobachtbar. Das erstgenannte Phänomen weist darauf hin, dass unser Handeln zunehmend gleichzeitig verlinkt sei mit mehreren Raumniveaus (also z.B. Makro- und Mesobene) und so verschiedene Institutionen, Feldlogiken, Routinen und Regeln verbinde; während Translokalisierung auf Netzwerkbildungen abstellt, die unterschiedliche soziale Einheiten (wie Rolle, Familie, Gemeinschaft u.a.) durch Mobilität und mediale Vermittlung über viele Orte hinweg verknüpfe (57).
Theoretische Anschlussüberlegungen, die sich daraus für Raumform(ung)en ergeben, werden in besagtem Sonderforschungsbereich näher untersucht. Sie lassen sich nach der Autorin besonders in Städten gut beforschen, da dort die entsprechenden Konflikte verdichtet werden (59, auch 69f).
Blickfänge. Räumlich-geschlechtliche Inszenierungen am Beispiel der Prostitution
Spielt in räumlichen Praktiken neben dem Handeln im engeren Sinne auch das Sprechen sowie Körperlichkeit eine wichtige Rolle (78), scheint dieser Zusammenhang nicht zuletzt im Bereich geschlechtsspezifischer Arrangements offensichtlich. Gleichwohl ist hierzu kaum einheitliches (Experten-)Wissen vorhanden, vielmehr, so Löw im sechsten Kapitel, existieren gerade zur Sexarbeit eher unterschiedliche, teils widersprüchliche Mythen. Die Autorin nutzte eine Forschungsaufenthalt in Wien, um „Räume und Orte der Prostitution“ auf „geschlechtsspezifische Arrangements“ (82) zu untersuchen und sie verglich die Ergebnisse anschließend mit Erkenntnissen aus dem Frankfurter Rotlichtviertel. Der Städtevergleich brachte verschiedene „Eigenlogiken“ zutage. So etwa, dass „das Gewerbe“ in Wien räumlich deutlich unauffälliger und dezentralisiert gelegen ist, während man sich in Frankfurt bewusst für eine Konzentrationsstrategie entschied. Der Bevölkerung erlaubt das die Konstruktion (und Marginalisierung) eines „Ortes des Anderen“, verschafft dem Staat aber auch verschiedene Möglichkeiten der Kontrolle.
In ihren ethnologischen „Ortserkundungen“ deckt Löw verschiedene Techniken auf, wie Räume und raumkonstituierende Handlungen genutzt werden, um Illusionen einer „anderer Welt“ (87) in Szene zu setzen, aber auch Zeigen und Verbergen gleichzeitig zu ermöglichen. Dabei werden auch Machtverhältnisse (zumindest temporär) aufgehoben oder umgekehrt (88ff, 93). Zeige dieser Vergleich einerseits die „Heterogenität der Städte“ (97) auf, so Löw, mache er darüber hinaus eine „vergeschlechtlichte“ Wirklichkeit sichtbar, deren räumlichen (Aus)wirkungen sich kaum jemand entziehen kann – selbst die Stadtsoziologin nicht (vgl. 95).
„Die Eigenlogik der Städte. Grundlagen für eine sinnverstehende Stadtsoziologie“
Werden räumliche Eigenwirkungen im Band an verschiedener Stelle thematisiert, so steht im achten (und neuntem) Kapitel explizit der Ansatz der „Eigenlogik der Städte“, konzeptuell und phänomenologisch, im Zentrum. (Vgl. auch M. Löw, H. Berking, Die Eigenlogik der Städte, Frankfurt 2008). Löw verwehrt sich gegen eine Reduktion des städtischen Raumes auf ein bloßes pars pro toto für Gesellschaft und betont dessen kulturelles, räumliches und ebenso soziologisches Eigengewicht (134). Die Idee städtische Sinndeutungen und „historisch verfestigte kulturelle Ordnungen“ (133, 165) als Eigenlogiken zu interpretieren, ist v.a. inspiriert von den Soziologien Max Webers, Alfred Schütz‘ und Karl Mannheims. Zur Auswertung entsprechender Darstellungen und Deutungsmuster in einer Stadt zieht sie v.a. Aussagen von Bürger*innen der Städte heran, wobei sie eine Erhebung lebensweltlich „invarianter Grundstrukturen der sinnlichen Konstitution“ anstrebt (ebd.). Diese bilden, so Löw, gemeinsam das „Sinngewebe“ (135) einer Stadt aus, seien als „Wissen“ jedoch überwiegend „unbewusst“ und nur in Praktiken präsent (138f).
Inhalte einer solchen Eigenlogik werden im folgenden Kapitel anhand von Salvador de Bahia (Brasilien) vorgestellt, wo Löw ebenfalls Feldstudien durchgeführt hat. Seit ungefähr den 1970ern sei dort ein vorkoloniales „Erbe“ als Narrativ der Stadtgeschichte aktiv gefördert wurden und werde heute über Erzählungen und Praktiken der Bewohner*innen der Stadt weiterhin bewahrt. Als Konstruktion einer lokalen Identität werde besagtes „Sinngewebe“ (152) außerdem durch ein den Nationalstaat Brasilien als ganzen umgreifendes Narrativ der „Vermischung“ aufrechterhalten, worin Salvador als das „Herz schwarzer Kultur“ (154, 158f) firmiere.
Grundlagen der raumtheoretischen Stadtsoziologie
Das zehnte Kapitel greift die präsentierten Gedanken erneut auf und führt einige der vorgebrachten Argumente noch einmal systematisch – inklusive eines Ausblicks – zusammen.
Nochmals wird die besondere Rolle „räumlicher Prozesse“ hervorgehoben, die in „fundamentaler Weise“ unser „In-der-Welt-Sein“ bestimmen, sei es über das vorhandene, räumlich geprägte Wissen, sei es durch raumschaffende und gleichzeitig -bedingte Handlungen (161). Räume haben einen konstitutiven Anteil an der Entstehung des Sozialen und seien Grundlage unserer „Weltproduktion“.
Aus gesellschaftstheoretischer Perspektive stelle sich dabei in jeder gegebenen Gesellschaft die Frage nach den vorherrschenden „räumlichen Ordnungsmustern und der Tradierung alter Anordnungen“ sowie nach den sich darin ausdrückenden Machtbeziehungen, bzw. davon beeinflussten Konflikten (162). Die zentrale Frage, „die jede Raumanalyse uns aufgibt“ ist für Löw demgegenüber jene, nach den Aus- und Rückwirkungen räumlicher Arrangements „auf Dritte und Drittes“ (162). Vor dem Hintergrund dichterer global-räumlicher Verflechtungen keine leicht zu beantwortende Frage, selbst wenn sich global-lokale Zusammenhänge an Alltagsgegenständen längst nachweisen lassen (vgl. 162f). Abzuzeichnen beginnt sich derweil auch im Mikrobereich eine immer stärkere Beeinflussung des Sozialen von unterschiedlichen räumlichen Faktoren und Raumebenen (ebd.).
Nicht zuletzt Städte stehen deshalb vor anspruchsvollen Aufgaben; manifestieren sich doch die Widersprüche und Konflikte, die im Zusammenhang mit den dynamischen Veränderungen stehen, v.a. in ihren Räumen (164). Dennoch, so Löw, bleiben daneben auch Einflüsse von Fremd- und Selbstwahrnehmung deutlich, prägen etwa als Eigenheit eines bestimmten Ortes, als damit verbundene Erinnerungen und als gemeinsame Erfahrungen die Entwicklung einer Stadt. Während Löw der sinnverstehenden Stadtsoziologie somit v.a. die Aufgabe zuzudenken scheint, diesen „Sinn“ bzw. besagte Eigenlogik spezifischer Städte zu ermitteln, geht es in der hier vorgeschlagenen raumtheoretischen Perspektive v.a. um die Vielschichtigkeit räumlicher Verknüpfungen, damit zusammenhängende Veränderungen der sozialen Struktur und der Machtbeziehungen sowie deren Sichtbarwerdung über Konflikte. Für die raumtheoretische Stadtsoziologie lautet „die Aufgabe“ entsprechend, „das anwesend zu machen, was ohne sie unsichtbar bliebe (…): die Muster der Verflechtung.“ (166)
Für die Durchführung dieser Aufklärungsarbeit unterscheidet Löw drei systematische Forschungsfelder (166f): (1) „Städte als Räume“: Darin soll erforscht werden, wie Städte vernetzt sind, was ihre Eigenlogik ausmache und wie sich diese auf spezifische Prozesse der Vergesellschaftung auswirkte (2) „Räume in Städten“: Hier geht es schwerpunktmäßig um sich auf das Soziale auswirkende, es gleichfalls konstitutierende räumlichen Arrangements; etwa um Segregationsmuster, Gentrifizierungsprozesse, aber auch Phänomene wie die räumliche Zentralisierung. Schließlich (3): „Städte als Teile vielfältiger räumlicher Gefüge“. Hier ist eine detailliertere Untersuchung der räumlichen Relationen zwischen Städten angedacht, aber auch zu anderen Raumform(ung)en und -ebenen (u.a. Quartiere, das nationale Territorium oder diverse „Bahnräume“; vgl.:167).
Als „dringlichste Aufgaben“ einer raumtheoretische Soziologie fasst Löw jedoch abschließend zusammen: Eine genaue Analyse der seit den 1960ern sich entwickelnden, spätmodernen „Re-Figuration der Räume“, um zu verstehen, welche Wirkungen Phänomene wie die besagte Translokalisierung und Polykontexturalität tatsächlich ausüben, aber auch um beantworten zu können, was in „hochmobilen, mediatisierten Gesellschaften“ (167) dennoch gleich geblieben sei. Darüber hinaus soll die Bedeutung des Raumes in der Konstitution des Sozialen differenziert geprüft werden (was neben der Handlungs-, auch die kognitiv-mentale Ebene umfasst). Außerdem gilt es, sozialwissenschaftlich Inhalte und Verwendungsweisen eines relationalen Raumbegriffs genauer aufzuklären (169).
Diskussion
Während die Autorin den Vorschlag einer „raumtheoretischen Stadtsoziologie“ anfänglich noch als „Projekt“ (13) bezeichnet, macht sie im Buch umfangreich deutlich, welche Perspektivverschiebungen dafür nötig sind. So argumentiert sie für eine geringere Dominanz der gesellschaftstheoretischen Perspektive, um daneben andere, v.a. sozialtheoretische Erkenntnisse zum Raum sichtbarer zu machen. Aufbauend auf Letzteren macht sie außerdem auf verschiedene Eigenwirkungen räumlicher Phänomene aufmerksam und bringt sie mit der konstitutiven Rolle räumlicher Strukturen (als Ergebnissen räumlichen Handelns) in Verbindung. Insbesondere die neu geschriebenen Beiträge (Einleitung, drittes und zehntes Kapitel) heben diese konstitutive Bedeutung des Raumes für das Soziale und damit auch für soziales Handeln deutlich hervor.
Das Buch und die darin geäußerte Kritik an einer noch immer sichtbar eingeschränkten Beachtung räumlicher Effekte schließt insofern in überzeugender Weise an den Spatial turn an. Darin ging es ja zunächst v.a. um die (sozial-)wissenschaftliche Rehabilitierung des Raumes überhaupt und um eine stärkere Beachtung seiner Merkmale in der wissenschaftlichen Debatte. An dieser Stelle nimmt Löws Buch gewissermaßen den Faden auf und spinnt ihn weiter in Richtung der Interdependenzen von Raum und Sozialem sowie Eigenwirksamkeiten räumlicher Strukturen.
Neben Eigenlogiken urbaner Räume, ausgedrückt in räumlichen Handeln, städtebaulichen Leitbildern, architektonischen Strukturen, Atmosphären oder auch dem „Sinngewebe“ einer Stadt, steht immer wieder die „Dualität des Raumes“ im Zentrum der Überlegung, besonders wie sie als „strukturierte und strukturierende Struktur“ (Bourdieu) auf das Handeln Einfluss ausübt. Um diese Wirkungen herauszuarbeiten, rezipierte Löw nicht nur raumtheoretische Klassiker oder die „marxistische Stadtsoziologie“ (wobei genauer zu klären wäre inwiefern Henri Lefebvre hier tatsächlich dazugehört), sondern auch zeitgenössische handlungstheoretische Ansätze, wie die „Theorie der Strukturation“ (Giddens). Löw greift von hier die Anregung zur „Dualität von Handeln und Struktur“ auf, kritisiert aber auch die raumanalytischen Defizite. Überzeugend ist an dieser Stelle ihr Argument, dass nicht nur die Stadtsoziologie, sondern die Sozialwissenschaften überhaupt „raumtheoretisch“ noch besser fundiert werden müssen, woraus sich für die Autorin zahlreiche Anschlussfragen ergeben: z.B. zum Verhältnis von Struktur, Handeln und Raum; nach dem Einfluss kommunikativer neben performativen Raumpraktiken; nach der räumlicher,Inszenierungen‘ und körperlichen Prägung desbzw. durchden Raum, aber auch Fragen nach dem Verhältnis von Wissen und Macht und eben der „Eigenlogik der Städte“.
Solche (und weitere) Fragen werden, wie das dritte Kapitel darlegt, vor dem Hintergrund der spätmodernen „Re-Figuration der Räume“ wichtiger, die aus globalen Krisen und (nicht nur) räumlichen Umwälzungen seit den 1960ern Jahren hervorging. Eine eingehendere Beschäftigung mit raumtheoretischen Fragen ist vor diesem Hintergrund wichtig, um die zentralen Veränderungen unseres „In-der-Welt-Sein“ zu verstehen wie sie sich in der Zunahme von Phänomenen wie „Polykontexturalität“ und „Translokalisierung“ zeigen. Sicher ist unterdessen, dass besagter Wandel nicht etwa nur kosmopolitische Milieus betrifft, sondern durch deren raumverändernde Effekte auch das Lokale und damit alle. Darauf deutet auch die Debatte um die „planetare Urbanisierung“ hin, auf die Löw hier jedoch nicht eingeht.
Löws Vorschlag, die „Stadt vom Raum aus zu denken“, weist in berechtigter Weise auf Nachholbedarf im Bereich der sozialwissenschaftlichen Raumforschung hin. Die vielfach auf gesellschaftstheoretische Fragen zugespitzte Rezeption räumlicher Phänomene zeige deutliche Ausbaumöglichkeiten. Löws Ansatz erweist sich insbesondere an den Stellen als lehrreich und fruchtbar, wo er die sozialwissenschaftlich relevante Vielfalt räumlicher Phänomene und Praktiken betont, aber auch die Beachtung von Körperlichkeit und allgemein der Eigenwirkung von Räumen einfordert.
Ihre Rezeption einiger an der Schnittstelle von Raum- und Sozialforschung aktiver Raumtheoretiker könnte derweil sicher ergänzt werden. So steuerten Lefebvre und Harvey noch weitergehende Überlegungen, z.B. zum Verhältnis von Raum und Körper (in der Stadt) bei, die auch den hier vorgeschlagenen neuen Forschungsansatz unterstützen könnten. Bei Lefebvre ist das insbesondere in seinem letzten Buch (Éléments d’un rhythmanalyse, Paris 1992) der Fall. Dort geht er verstärkt auf „Körperrhythmen“ im Stadtraum ein, auf deren besondere Effekte, aber auch eine mögliche „Arrythmia“, wofür er einige Beispiele präsentiert. Außerdem weist er auf „verborgene Rhythmen“ des Körpers hin und bezieht in seine Analyse schon deutlich stärker als es Löws im vorliegenden Buch gelingt, neben der räumlichen auch die zeitliche Dimension in die Reflexion mit ein. Dabei wären aber auch diverse Effekte sozialer Beschleunigung zu beachten und welche Folgen sie auf gesellschaftliche Strukturen, das soziale Zusammenleben und sogar unser Vermögen „Resonanzen“ in städtischen Räumen wahrzunehmen, nehmen (vgl. P. Virilo, Rasender Stillstand, Frankfurt 1997; H. Rosa, Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt 2005, ders., Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, 2016).
Im Fall David Harveys finden wir nicht nur in einem kurzen Text über „The Body as referent“ (1999) Hinweise auf die Zusammenhänge von anthropologischer und gesellschaftstheoretischer Reflexion des Körpers, sondern auch eine kritische Argumentation gegenüber einseitigen bzw. defizitären Vorstellungen über,den Körper‘ (vgl. auch D. Harvey, „The body as an accumulation strategy“, in: ders., Spaces of Hope, 2000, Berkeley).
Meines Erachtens würdigt Löw im Buch außerdem zu wenig andere Versuche, die Eigenwirkung von Räumen zu theoretisieren (etwa auch aus der (Neo-)Phänomenologie). So legte der von ihr zitierte Edward W. Soja mit „Thirdspace“ (Los Angeles, 1996) eine eigene, theoriekritische Konzeptionalisierung des Raumes vor, die eine scheinbare Passivität des Raumes kritisiert und ihn auf selber Stufe wie die Zeit (hier verstanden als „Geschichte“), aber auch das Soziale (verstanden als „Gesellschaft“) behandelt. Soja führt mit „thirdening-as-Othering“ im besagten Buch zudem ein Analysetool ein, das in die Lage versetzen will, ein kritisches Raumbewusstsein zu etablieren, indem es immer neu die Unabschließbarkeit des Raumes demonstriert (vgl. A. Krahmer, „Edward W. Soja. Thirdspace“, in Frank Eckardt, Schlüsselwerke der Stadtforschung, Wiesbaden, 2017). Über die Frage nach dem Eigengewicht des Raumes entspann sich zwischen Soja und Peter Marcuse bereits 2008, im Rahmen einer Pariser Konferenz zum „Right of the City“ eine Debatte, die z.T. in der Zeitschrift CITY wiedergeben ist.
Für die weitere Ausarbeitung der vorgeschlagenen raumtheoretischen Stadtsoziologie wird es sicher auch lohnend sein, einige der Kritikpunkte am Ansatz der „Eigenlogik der Städte“ aufzugreifen. Schließlich ist nicht auszuschließen, dass in Fortführung dieser Debatte und auch im Anschluss an den hier vorgeschlagenen Ansatz die Frage aufkommen wird, auf welchem Wege die raumtheoretische und die gesellschaftstheoretische Diskussion wieder aneinander angenähert werden können – mit Gewinn für beide Seiten. (Für eine kurze Übersicht zum „Perspektivenstreit“ vgl. etwa Frank, S., Schwenk, J., Steets, S., Weidenhaus, G., „Der aktuelle Perspektivenstreit in der Stadtsoziologie“, in: LEVIATHAN, 41. Jg., Heft 2, 2013; außerdem die publizierten Beiträge zur Tagung „Der,eigenlogische‘ Forschungsansatz in der sozialwissenschaftlichen Stadtforschung: Rekonstruktion – Kritik – Alternativen“, Berlin, 2010.)
Fazit
Das Buch bietet, aufbauend auf früheren Veröffentlichungen Martina Löws, Einblicke in wichtige Beiträge zu Debatten und empirischen (u.a. ethnologischen) Untersuchungen der Autorin. Gemeinsam mit drei neu geschriebenen Texten werden sie hier verknüpft zu einem neuem Forschungsansatz: der „raumtheoretischen Stadtsoziologie“. Vor dem Hintergrund einer für die Spätmoderne diagnostizierten „Re-Figuration der Räume“ macht Löw einerseits deutlich, dass sich eine eingehendere Auseinandersetzung mit dem Raum auch nach dem Spatial turn lohnt, auf der anderen Seite dafür aber einer vertieften Analyse räumlicher Phänomene, Praktiken und auch Wirkungen nötig ist. Die im Band vorgenommene Verknüpfung zwischen Raum- und Stadtforschung erweist sich unterdessen als weiter ausbaufähig, v.a. im Hinblick auf die Thematisierung der von der Autorin selbst vorgeschlagenen Einbeziehung der Zeit-Dimension, aber auch hinsichtlich einiger der rezipierten Autoren.
Rezension von
Alexander Krahmer
M.A.,
Stadtsoziologe am Department für Stadt- und
Umweltsoziologie des Helmholtz Zentrums für Umweltforschung Leipzig
Website
Mailformular
Es gibt 6 Rezensionen von Alexander Krahmer.
Zitiervorschlag
Alexander Krahmer. Rezension vom 24.06.2019 zu:
Martina Löw: Vom Raum aus die Stadt denken. Grundlagen einer raumtheoretischen Stadtsoziologie. transcript
(Bielefeld) 2018.
ISBN 978-3-8376-4250-6.
Reihe: Materialitäten - Band 24.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/24870.php, Datum des Zugriffs 05.10.2023.
Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen
für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.