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Martin Hermida: Wie Heranwachsende zu Internetnutzern werden

Rezensiert von Prof. Dr. Erich Hollenstein, 28.12.2018

Cover Martin Hermida: Wie Heranwachsende zu Internetnutzern werden ISBN 978-3-658-17386-9

Martin Hermida: Wie Heranwachsende zu Internetnutzern werden. Persönlichkeit, Eltern und Umwelt als Einflussfaktoren auf Chancen, Risiken und Kompetenzen. Springer VS (Wiesbaden) 2017. 323 Seiten. ISBN 978-3-658-17386-9. D: 49,99 EUR, A: 51,39 EUR, CH: 51,50 sFr.

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Entstehungshintergrund

Die vorgelegte Arbeit von Martin Hermida wurde 2016 von der Universität Zürich als Dissertation angenommen.

Thema

Im Mittelpunkt der Arbeit stehen die Aneignungsprozesse bezüglich des Internets von Kindern und Jugendlichen. Dabei stellt der Autor fest, dass traditionelle Sozialisationsinstanzen abnehmen und Formen der (Medien-)Selbstsozialisation zunehmen. Durch den Blick auf individuelle, familiale und sozialökologische Faktoren soll das Phänomen der Aneignung ganzheitlich erfasst werden. Die Datenbasis findet sich im internationalen Forschungsprojekt EU Kids Online II im, Rahmen dessen 1.000 Kinder und Jugendliche in der Schweiz im Alter von 9–16 Jahren einschließlich ihrer Eltern befragt wurden. Zu den Ergebnissen der empirischen Studie gehört u.a. ein zusammenfassendes Sozialisationsmodell zur Erklärung der Internetnutzung und Internetaneignung von Kindern und Jugendlichen. Das Buch umfasst mit Anhang und Literaturverzeichnis neun Kapitel.

Aufbau und Inhalt

Die ersten beiden Kapitel beschreiben die Absichten, den Gegenstand und die Ausgangslage der Studie. Die mit der Internetnutzung einhergehende und begrifflich schwer zufassende Vielfalt findet folgende Formulierung: „Das Internet ist buchstäblich das, was der einzelne Nutzer daraus macht“ (S. 10). Diese Feststellung führt auch zur Ablehnung pauschaler Bezeichnungen wie z.B. „net-generation“. Sodann wird der Zusammenhang zwischen Mediennutzung und Sozialisation thematisiert und auf diesem Hintergrund werden Chancen, Risiken und das Konzept der Medienkompetenz skizziert. Der Autor macht darauf aufmerksam, dass in seiner Untersuchung die Aufmerksamkeit auf den Risiken liegt, weil das Internet eine „unbewachte“ mediale Infrastruktur darstellt. Unter gesellschaftlichen Bezugspunkten wird sowohl auf die Wissenserweiterung verwiesen als auch negative Seiten des Internets wie Hinweise zu Drogen, Selbstverletzungen und pornografischen Inhalten. Hinzu kommt, dass elterliche Einflussnahme mit zunehmendem Alter der Kinder und Jugendlichen schwindet und generationenspezifische Medienerfahrung zumeist auseinander läuft

Das dritte Kapitel ist auf sozialisationsspezifische Theorien ausgerichtet, die sich insbesondere auf das Kinder- und Jugendalter beziehen und dortige Institutionen und Netze einbeziehen wie z.B. Familie, Schule und Peers. Einen Schwerpunkt stellen Nutzungs- und Sozialisationsmodelle dar, die umfangreich auch durch Schaubilder erläutert werden. So z.B. nach Zusammenhängen zwischen der äußeren Realität (Eltern, Umwelt), der Subjektwerdung (Mediennutzung) und der inneren Realität des Kindes und Jugendlichen. Medienkompetenz wird dabei als zwingend erforderliche Kulturtechnik in der Informations- und Wissensgesellschaft beschrieben. Bei der Erörterung des Kompetenzbegriffes wird auf Chomsky wie auch auf Habermas Bezug genommen. Medienkompetenz ist dann eine Erweiterung kommunikativer Kompetenz im Sinne von Habermas, die im Rahmen von Aneignungsprozessen zur Handlungskompetenz wird (Baacke). Abgeschlossen wird dieses Kapitel mit einer Zuwendung zum pädagogischen Diskurs zur Medienkompetenz von der Bewahrpädagogik bis zum Konzept der kommunikativen Kompetenz. Zu dieser Kompetenz gehört u.a. Medienkunde, Reflexion, Handhabung, Kreativität, Verantwortung, Emotionalität.

Das vierte Kapitel referiert den Forschungsstand der Jugendmedienforschung. Hingewiesen wird, das Datenmaterial betreffend, auf die Forschungen im Rahmen EU Kids Online (I-III). EU Kids Online II von 2010 bildet die Datengrundlage für die vorliegende Studie, die aber 2012 für die Schweiz wiederholt wurde. Auch fliesen Daten von EU Kids Online III in die Untersuchung ein. Verwiesen wird auf weitere Forschungen zu Risiken, Chancen und zur Medienkompetenz. Hervorgehoben wird die Bedeutung von Alter, Geschlecht, Persönlichkeitsmerkmalen, von riskantem Verhalten, Eltern (kulturelles Kapital, soziale Schicht, Mediation also Medienerziehung und Medienvermittlung durch die Eltern). Die Umwelt wird durch folgende Einflussgrößen erfasst: (Ein-)Elternhaushalt, Anzahl der Geschwister, Schule, Peers, Geräteverfügbarkeit, Wohnsituation.

Das fünfte Kapitel zeigt das grundlegende Analyseschema und die Hypothesenentwicklung. Dazu gehört die durch den Einbezug von Persönlichkeitsmerkmalen, Eigenschaften der Eltern und von Umweltfaktoren erhöhte Erklärungsreichweite gegenüber Untersuchungen mit den Standardvariablen Alter, Geschlecht und Bildung.

Für Chancen wird z.B. die Hypothese formuliert, 1a: „Je höher das kulturelle Kapital der Eltern, desto größer die Anzahl der Chancen, die ihre Kinder im Internet wahrnehmen“ (S. 127).

Zur Medienkompetenz gehört z.B. die These, 2a: „Die Internetversiertheit der Eltern hat einen positiven Einfluss auf die Medienkompetenz der Kinder“ (S. 127).

Und eine Hypothese zu Risiken lautet z.B., 3b: „Mehr Mediation der Eltern reduziert die Anzahl der Risiken der Kinder“ (S. 127).

In der Folge der Hypothesenentwicklung werden die jeweils notwendigen Operationalisierungen dargestellt.

Im sehr umfangreichen sechsten Kapitel „Ergebnisse“ und im siebten Kapitel „Diskussion“ werden die Ergebnisse vorgestellt und diskutiert. Ein Beispiel:

Für die im fünften Kapitel formulierten Hypothesen (s.o.) zeigt sich, dass die Hypothese 1a nicht angenommen werden kann. Die Kinder von Eltern mit höherem kulturellen Kapital nutzen das Internet allerdings eher kommunikativ als rezeptiv. Die Hypothese 2a zur Medienkompetenz kann ebenfalls nicht bestätigt werden. Die Internetversiertheit der Eltern hat also keinen großen Einfluss. Gemessen wurde dies mittels der Internetkompetenz, sogenannten Skills, wie das Blockieren unerwünschter Nachrichten oder die Beherrschung von Filtereinstellungen für Webseiten. Die Hypothese 3b zu Internetrisiken und die Mediation durch die Eltern findet differenzierte Antworten, weil auch Faktoren aus den Bereichen Kind und Umwelt eine Rolle spielen. Zu diesen Faktoren gehört das Alter der Kinder und das Geschlecht; die Internetversiertheit der Eltern wirkt fördernd für den Austausch zwischen Eltern und Kindern hinsichtlich des Internets. Bildungshintergrund und und Umweltfaktoren haben einen geringen Einfluss auf die Mediation der Eltern. Junge Eltern mit niedrigem Bildungshintergrund helfen den Kindern seltener bei Internetangelegenheiten. Insgesamt konnte hinsichtlich der Hypothese 3b ein großer Teil der Varianz nicht geklärt werden.

Die ungemein komplexen Zusammenhänge zwischen den erhobenen Daten werden zum Schluss in ein Pfadmodell der Sozialisation zur Internetnutzung überführt. Der Autor stellt die prognostizierte höhere Erklärungsreichweite gegenüber anderen Modellen dar und hält fest, dass chancenreiche Internetnutzung stark von Persönlichkeitseigenschaften geprägt ist, von einer fördernden Umwelt abhängt und von Eltern, die mit dem Internet vertraut sind. Allerdings lässt im Übergang vom 12. zum 13. Lebensjahr der elterliche Einfluss zu Gunsten selbstgesteuerter Aktivitäten der Jugendlichen stark nach. Risikoreiche Nutzung wird durch persönliche Anlagen der Kinder zu problematischem Verhalten gefördert. Vermehrte Mediation durch Peers führt ebenfalls zu einer risikoreichen Internetnutzung.

Im Rahmen des siebten Kapitels finden sich u.a. kurz gehaltene Handlungsempfehlungen für die Elternbildung, die Schule und die Jugendarbeit. Eine ggf. hierhin gehörende Nutzertypologie findet sich nicht. Folgt man Hermida ist die untersuchte Gruppe zu heterogen.

Diskussion

Die vorgelegte Querschnittstudie zur Internetnutzung in der Schweiz analysiert ein vielschichtiges Phänomen. Dieses führt zu hoher Komplexität in der auch die Heterogenität des Nutzungsverhaltens in der untersuchten Gruppe deutlich wird. Die aus anderen Nutzungsstudien bekannten Typologien lassen sich auf diesem Hintergrund nicht bilden. Ein solches Ergebnis sollte auch den Blick auf andere gängige Forschungsberichte schärfen. Die zum Ausdruck kommende medienwissenschaftliche Qualität und auch Quantität der Studie, die ihren Ausdruck auch in der erreichten Erklärungsreichweite findet, hat allerdings einen Nachteil. Der besteht darin, dass eine medienpädagogische Handhabbarkeit nur schwer herzustellen ist. Dementsprechend sind die medienpädagogischen Empfehlungen sehr reduziert und sehr allgemein. So soll z.B. in der Elternbildung der sehr hohe Stellenwert der Mediensozialisation bewusst gemacht werden, mit dem Ziel auf die Notwendigkeit vieler Chancen, auf Risikovermeidung und auf hohe Medienkompetenz hinzuweisen. Der Hinweis, dass die Schule zum Thema Mediensozialisation Nachholbedarf hat trifft auch auf Deutschland zu.

Fazit

Die Studie ist medienwissenschaftlich von beachtlicher Bedeutung, weil eine sehr große Gruppe von Kindern und Jugendlichen in der Schweiz untersucht wurde. Dies auch mit dem Ziel, ein überzeugendes Sozialisationsmodell zur Internetnutzung zu erarbeiten. Kennzeichen ist eine hohe Komplexität der empirischen Datenanalyse, die u.a. zeigt, dass die in Sozialisationsprozesse eingebettete Aneignung des Internets sehr individuell verläuft: Das Internet ist das was der einzelne Nutzer daraus macht.

Rezension von
Prof. Dr. Erich Hollenstein
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ISSN 2190-9245