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Richard Michaelis: Die ersten fünf Jahre

Rezensiert von Svenja Rehse, 18.10.2018

Cover Richard Michaelis: Die ersten fünf Jahre ISBN 978-3-432-10487-4

Richard Michaelis: Die ersten fünf Jahre. Vom Baby zum Vorschulkind: wie sich Ihr Kind entwickelt. Trias (Stuttgart) 2018. 5. Auflage. 229 Seiten. ISBN 978-3-432-10487-4. D: 9,99 EUR, A: 10,30 EUR, CH: 11,50 sFr.

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Thema

Die Publikation „Die ersten fünf Jahre. Vom Baby zum Vorschulkind: Wie sich ihr Kind entwickelt“ von Prof. Dr. Richard Michaelis befasst sich mit einem von ihm beobachteten „grundsätzlichen, bisher kaum wahrgenommenen Wandel im Verständnis kindlicher Entwicklung“(S. 6). Das Buch ist der Impuls des Kinderarztes und Kinderneurologen, das bisherige Verständnis kindlicher Entwicklung als Reifungsprozess zu aktualisieren und neu zu konstruieren. Die Leitfrage: „Wie entwickeln sich Kinder?“ wird in der Altersspanne von null bis fünf Jahren im Buch entsprechend aus der Warte seines differenzierten Entwicklungsbegriffs behandelt. Nach einem theoretischen Überblick über biologische, neurobiologische und entwicklungstheoretische Grundlagen und der Gegenüberstellung und Diskussion kontroverser Ansätze, geht es um die Einführung von Grenzsteinen vorschulischer Entwicklung in Theorie und Praxis.

Anhand von Grundprinzipien erklärt der Autor den Leserinnen und Lesern aktuelle Erkenntnisse. Diese werden als Querschnittthemen eingeführt und sollen Eltern beim Verstehen komplexer Prozesse und bei der Entwicklung von Einsichten unterstützen. Dadurch sollen Eltern „gut informiert, verständnissinnig, respektvoll und mit Kompetenz und Faszination ausgestattet das Kind in seiner Entwicklung begleiten und diese, wenn nötig, auch verändern“ (S. 6).

Autor

Prof. Dr. Richard Michaelis ist ein Experte der frühkindlichen Entwicklung in Deutschland, Europa und in der Türkei und war neben seiner ärztlichen Tätigkeit ein gefragter Autor und Referent.

Geboren 1931 und verstorben in 2017 bringt er in seiner Publikation von 2006 (1.Auflage) langjähriges und tiefgreifendes Wissen aus seiner Tätigkeit als ärztlicher Direktor der Universitätsklinik Tübingen / Abteilung Kinderentwicklung und Kinderneurologie ein. Auf dem Gebiet der frühen kindlichen Entwicklung galt der Autor als führender Experte in Deutschland.

Neben wissenschaftlichen Fachbüchern und Beiträgen schrieb er diesen Ratgeber für Eltern und interessierte Leserinnen und Leser. Sein Anliegen ist es, sachkundig, verständlich aber auch kritisch zu informieren. Aus beruflicher, medizinisch-wissenschaftlicher wie auch aus privater Sicht als Vater und vor allem sechsfacher Großvater hat er sich intensiv mit dem Thema des Buches befasst. Nicht zuletzt aus den vielfältigen Erlebnissen und Erfahrungen mit seinen Enkelkindern und seinen vielen weiteren Beobachtungen von Kindern im Baby- und Vorschulalter und Gesprächen mit deren Eltern entstand dieser Ratgeber.

Entstehungshintergrund

Das Buch wurde erstmalig im Knaur Ratgeber Verlag im Jahr 2006 publiziert, inzwischen liegt die 5. Auflage von 2018 (Trias Verlag in Georg Thieme Verlag KG/Stuttgart) vor.

Der Autor teilt in dem Buch „Die ersten fünf Jahre“ Beobachtungen aus seiner beruflichen aber auch privaten Praxis von einer veränderten Auffassung kindlicher Entwicklung mit. Dieser Wandel im Verständnis kindlicher Entwicklung ist so grundlegend und aktuell, dass sie seine Motivation für das Buch werden.

Neben seinen wissenschaftlichen Beiträgen für Fachpublikum wendet er sich mit diesem Ratgeber explizit an Eltern und eine allgemein interessierte Leserschaft, was in einem eingängigen, anschaulichen Schreibstil deutlich wird.

Aufbau

Das Buch ist in zwei Kapitel unterteilt. Es bietet im ersten Teil Informationen medizinisch-biologisch-neurologischer Art, die Generierungsprozesse für Entwicklungsverläufe vorstellen, Zusammenhänge deutlich machen und Hintergrundwissen anbieten. Der zweite Teil befasst sich ausschließlich mit Grenzsteinen der Entwicklung und ist formal immer gleich aufgebaut: sowohl was die jeweiligen Kapitel wie auch die je stichwortartigen One-Pager zu den jeweils sechs Monate dauernden Grenzsteinen betrifft. So bietet das Buch eine klare Struktur und kann entsprechende gelesen und genutzt werden.

Einleitend und dem weiteren Inhalt vorangestellt werden Grundprinzipien genannt (S. 8):

  • Kinder als unverwechselbare Persönlichkeiten,
  • Kinder als Anpassungskünstler,
  • Kinder als Kommunikatoren,
  • Kinder als aktiv Teilhabende und Teilnehmende durch die besonderen Fähigkeiten als Nachahmungslernende, als zielstrebig Handelnde, als Theoriebildende
  • Kinder als standfest, widerstandsfähig und konfliktbereit Verhandelnde sowie
  • Kinder als Respektspersonen.

Diese Grundprinzipien, die angeborene Bereitschaft zu Teilhabe/Teilnahme und Imitation des Kindes und davon abgeleitete weitere Dispositionen sind dem Buch als Querschnittsthemen durchgängig zugrunde gelegt.

Teil 1 (S. 13-104) gibt einen begrifflichen Überblick über die Kindliche Entwicklung, stellt biologische, neurobiologische und lerntheoretische Grundlagen und Aspekte der Persönlichkeits- sowie sozialen Entwicklung dar und reiht sie – wo nötig – in einen historischen Kontext ein bzw. grenzt aktuelle Erkenntnisse ggf. davon ab. Jedes Kapitel umfasst ca. acht bis fünfzehn Seiten.

Die Kapitel beinhalten leicht verständliche Informationseinschübe zu den jeweiligen Kernthemen. Es finden sich im Fließtext graphische Elemente wie Tabellen (zum Beispiel konkrete Entwicklungsverläufe von Beispielkindern, Entwicklungs-Zeitfenster), Bilder (zum Beispiel: „Aufbau des Gehirns“(S. 38)) oder Hintergrundinformationen als „One/Two-Pager“ aufbereitet (zum Beispiel: „Lernen und Bindungsverhalten“ (S. 44-45) oder: „Als ich noch klein war – die Rolle der Gedächtnisse“(S. 62-63)), diese sind durch Einfärbungen leicht erkennbar.

Im letzten Kapitel „Kinder in ihren Familien“ (S. 94 - 104) gibt der Autor im Sinne eines Elternratgebers einen konkreten Einblick in das Leben einer heutigen Familie und deren Herausforderungen im Alltagsleben mit Kleinkindern. Das gewählte Szenario ist ein Transferbeispiel, aus Frauen-/ Muttersicht dargestellt. Es zeigt typische Themen, Herausforderungen, Fragestellungen und Entscheidungsfindungsprozesse im Familienalltag einer Mittelschichtfamilie auf und wie die zuvor behandelten Themen im Alltag einfließen und umgesetzt werden können.

Die von Prof. Dr. Richard Michaelis gewählten und möglichen Deutungsangebote sind breit gestreut: sie reichen von historischen vergleichenden über internationale und multikulturelle Verhaltensweisen. So ergibt sich ein reiches Repertoire an Impulsen, die mit der Lebenssituation einer heutigen Familie in Deutschland gespiegelt werden. Es werden keine Einzellösungen oder Verhaltensstrategien aufgezeigt, aber dafür vielschichtige Einblicke und Sichtweisen eröffnet und beispielhafte Entscheidungen dargestellt.

Teil 2 (S. 105 - 218) umfasst die Entwicklung des Kindes in Altersabschnitten, unterteilt in Grenzsteine von je sechs Monaten. Den sieben Kapiteln voran gestellt ist eine einleitende Definition des Begriffes Grenzsteine und Angaben zu deren Nutzen. Die je sechs Lebensmonate umfassende Kapitel „Grenzsteine“ sind formal je gleich eingeteilt:

  • Altersgebundene Entwicklung – Entwicklungspfade,
  • Altersgebundene Besonderheiten und
  • Gefährdungen durch Unfälle

Auch hier wird jeweils eine Zusammenfassung des Grenzsteines als One-Pager angeboten. Jeder Grenzstein-Überblick enthält stichwortartig Informationen zur

  • Bewegungsentwicklung,
  • Bewegung der Hände und der Finger,
  • Sprach- und Sprechentwicklung,
  • Kognitiven Entwicklung,
  • Sozialen Entwicklung,
  • Emotionalen Entwicklung,
  • Ich-Entwicklung und Selbstständigkeitsentwicklung.

Das Buch bietet ein Glossar (219 – 223), ein Literaturverzeichnis (224-225) und ein Register (S. 226)

Zu Teil 1

Teil eins des Buches befasst sich mit der „Entwicklung Ihres Kindes“, was die Voraussetzung für Teil zwei „Entwicklung in Altersabschnitten“ darstellt. In sechs Unterkapiteln werden die Themen:

  1. Reifung und Entwicklung,
  2. Neurobiologische Grundlagen
  3. Gedächtnisse als Stützpfeiler der Entwicklung,
  4. Nachahmung und Teilhabe,
  5. Auf dem Weg zum individuellen Selbst
  6. Kinder in ihrem Familien dargestellt und diskutiert.

Im Teil zwei werden Grenzsteine der Entwicklung im Alter von null bis fünf Jahren in jeweils sechsmonatigen Etappen dargestellt und mit jeweils einer stichwortartigen Übersichtstabelle ergänzt. Hier ist jedes Kapitel nach dem gleichen Schema aufgebaut, auch die Grenzsteine sind genau gleich strukturiert. Auf die ausführliche Beschreibung der körperlichen Entwicklung hat der Autor verzichtet, er verweist auf das Vorsorgeheft (S. 11).

1.1 In diesem ersten Unterkapitel Reifung und Entwicklung werden ebendiese die Begriffe eingeführt und diskutiert. Ausgehend von der vielfach noch bis heute für Entwicklungsbeurteilungen zugrunde gelegten Reifungstheorie von Arnold Gesell / USA (1880 - 1960) ergänzt Prof. Dr. Richard Michaelis diese Theorie der stufenweisen (biologischen) Reifung und führt „Entwicklung als Anpassungsprozess“ (S. 16) ein. Entwicklungsverläufe stellt er als individuelle Anpassungsleistungen dar. Aspekte wie Inkonsistenzen der Entwicklung und individuelle Variabilität in der kindlichen Entwicklung, sowohl die intra- wie die interindividuelle Variabilität werden als normale Entwicklungen vorgestellt. Tübinger Forschungen veranschaulichen seinen ergänzenden Ansatz, wonach Kinder sich individuell unterschiedlich entwickeln und verschiedene auch parallele Entwicklungspfade und auch -zeiten nutzen und dennoch bis zum Schulbeginn keine Auffälligkeiten zeigen. Das adaptive Entwicklungskonzept nach Prof. Dr. Richard Michaelis versteht Anpassungsprozesse als Lernprozesse. Dabei werden Umwelt und Kultur eine wichtige Rolle zugeschrieben. Kinder entwickeln sich nicht auf der ganzen Welt gleich, wie in der Reifungstheorie dargestellt sondern passen sich individuell an die Gegebenheiten an. Individualität wird hier unterschieden nach biologischer und erworbener Individualität. Letztere ist die erfahrungsgesteuert und Ergebnis eines Lernprozesses, der über das Gehirn gesteuert wird, sobald die dazu notwendige Gehirnreife erreicht ist und diese Prozesse ermöglicht.

1.2 „Neurobiologische Grundlagen“, das zweite Unterkapitel, zeigt den Aufbau des Gehirns und stellt Mechanismen und Funktionen des limbischen Systems als zentraler Ort für Emotionen und Gefühle sowie die Gedächtnisse als Speicher- und Vergleichssysteme für Lernen und Erfahrungen vor. Die Mandelkerne für die Bewertung von Sinneserfahrungen, das neuronale Netzwerk mit dopaminproduzierenden neuronalen Netzwerken, der Hippocampus als Erfahrungsspeicher von Emotionen im Langzeitgedächtnis sind entsprechend ihrer Funktion von grundsätzlicher Bedeutung für erfolgreiches Lernen. Ein kurzer Blick auf die rechte und linke Gehirnhälfte mit ihren entsprechenden Aufgaben verdeutlicht, wie Emotionen und Lernen sich wechselseitig beeinflussen und welche Rolle und wann das Gewissen in der Entwicklung relevant wird. Auch dem Bindungsverhalten ist ein Abschnitt gewidmet und mit dem limbischen System, speziell der rechten Hirnhälfte in Zusammenhang gebracht. Definition, Deutung und Kriterien von Bindung sowie der Zusammenhang von Bindung und Lernen werden deutlich gemacht. Schließlich sind gestörte Bindungen noch ein abschließender Absatz, in dem stichwortartig auf Störfaktoren hinweisen.

1.3 Das Unterkapitel „Die Gedächtnisse als Stützpfeiler de Entwicklung“ erklärt zum ersten, dass es mehrere Gedächtnisse mit je unterschiedlichen Aufgaben gibt und dass diese alle für das Leben, Lernen und Überleben essentiell sind und der Mensch ohne Gedächtnisse nicht überlebensfähig ist. Riesigen neuronale Netzwerke befinden sich durch permanent neues Erleben und Lernen in fortwährender Umstrukturierung, sie werden initiiert und unermüdlich in Gang gehalten aus dem Drang und Willen jedes Menschen zur Teilhabe und Teilnahme. Das Dabei-zu-sein ist schon im Kleinkind als Grundprinzip angelegt und motiviert Kinder und erwachsene Menschen zu immer wieder neuer Lern- und Anpassungsleistung – ihr ganzes Leben hindurch. Dieses Kapitel beschäftigt sich auf 16 Seiten mit unbewussten und bewussten Gedächtnissen. Es hilft zu verstehen, dass und wie die Gedächtnisse der Wiedererkennung, der Handlungsabläufe, des sozialen Verhaltens, des Faktenlernen, der Konditionierungen, der Fakten, Ordnungen und Regeln (semantisches Gedächtnis), das Lebensgedächtnis (episodisches / autobiografisches Gedächtnis) und das Gedächtnis der lebenslangen Orientierung, das Gedächtnis der Integration neuer Erfahrungen durch Skripts und das Arbeitsgedächtnis aufeinander angewiesen sind und zusammenarbeiten.

1.4 „Nachahmung und Teilhabe“ ist das Unterkapitel, in dem es um in ihrer Bedeutung einerseits nach Prof. Dr. Richard Michaelis weltweit offensichtliche, aber andererseits doch lange vernachlässigte und unterschätzte Antriebsfaktoren der Entwicklung geht. Hier werden Funktionen des Nachahmungsverhaltens als wichtigster Faktor für die Entwicklung sozialer und emotionaler Kompetenzen, als Kompetenzerwerb für die Übernahme kultureller und gesellschaftlicher Normen, religiöser Gebräuche, und geschlechtsspezifischen Verhaltens, als direkte spontane Nachahmung vorgestellt. Die verschiedenen Nachahmungsverhalten werden als Ereignisse oder Handlungen beschrieben, die die Kinder beeindrucken und die ihnen zum Zweck und Ziel des Dabeiseins, der Teilhabe und Teilnahme dienen, die nahestehende Personen betreffen, immer nachvollziehbar, zweckgerichtet und emotional veranlasst sind – also umgekehrt nie sinnlos oder zufällig passieren – und ihnen durch einen angeborenen, präzise, effektiv und schnell arbeitenden neuronalen Lernapparat möglich sind. Auslöser von Nachahmungsverhalten umfasst „Andere Kinder als imitationsauslösende Akteure“ sowie „Verzögerte Nachahmung“ und schlussendlich wird auch die „Lebenserhaltende Funktion der Nachahmung“ mit Blick auf andere Gesellschaften und Jahrhunderte beschrieben. Ein Blick auf „Nachahmung als Störfaktor“ in der heutigen Zeit und Welt und eine Exkurs zum Thema „Kinder suchen Konsens, nicht Konflikte“ runden dieses Themensegment ab. Im Absatz Nachahmen als „Aktives Teilhaben“ wird der Ansatz des Autors sehr anschaulich. Sein Konzept der Teilhabe und Teilnahme der Kinder am alltäglichen Leben der Erwachsenen, ihr Drang, sich in das soziale Gefüge von Beginn an einzubringen, wird anhand von Beispielen theoretisch und praktisch dargestellt. Dieses ist auch eines seiner Grundprinzipien der kindlichen Entwicklung und wird in seinen Facetten, in positiven wie negativen Konsequenzen diskutiert.

1.5 Dem Unterkapitel: „Auf dem Weg zum individuellen Selbst“ stellt Prof. Dr. Richard Michaelis Faktoren und Gelingensbedingungen für eine eigene Entwicklung voran. Die Herausbildung einer Bewusstheit des Selbst, einer Vorstellung von sich selbst, ist ein Entwicklungsschritt und wird als Voraussetzung für die Entstehung der eigenen Persönlichkeit erklärt. Hierzu greift er seine Deutung der Entwicklung auf, bringt die verschiedenen beteiligten Anteile und Aspekte der Persönlichkeitsbildung ein, erläutert die dabei relevanten Aufgaben des Gehirns und grenzt seinen Ansatz von der Reifungstheorie ab. Die „Deutung der eigenen Erfahrungswelten“ bietet einen Überblick über die Entwicklung von Theorie- und Hypothesenbildung im Entwicklungsverlauf des Kindes.

1.6 Das sechste Unterkapitel des ersten Teils: „Kinder in ihren Familien“ ist den Eltern und dem Erziehungsalltag mit seinen Herausforderungen, Anforderungen und möglichen Unsicherheiten gewidmet. Hier greift er auf frühere Familienstrukturen zurück und gibt einen Überblick über die Herausbildung der heutigen Kleinfamilien und die vielfältigen Lebensmodelle, die dieses Familiensystem berühren und beeinflussen können. Insbesondere Doppelbelastungen wie Familie und Karriere, Entscheidungsfindungen und Einbindung der Großeltern werden anhand kurzer Beispielsequenzen in ihren Möglichkeiten und Konsequenzen diskutiert. Sowohl neurobiologische wie soziale Aspekte einer lebenslangen Lernfähigkeit runden dieses Kapitel ab, sodass Eltern in ihrem Lebens- und Familienmodell vielfältige Anregungen und Unterstützungen erfahren, wie sie den Entwicklungsprozess ihrer Kinder verstehen, einschätzen und beeinflussen können.

Zu Teil 2

Im zweiten Teil des Buches „Entwicklung in Altersabschnitten“ werden die Grenzsteine der Entwicklung vorgestellt und jeweils für ein halbes Jahr facettenreich, d.h. mit überblicksartigen theoretischen Erläuterungen und vielen Beispielen erläutert. In der Fülle der vorgestellten Situationen zeigt sich der reichhaltige Fundus an Erfahrungen und Beobachtungen des Autors. Eingängig und plastisch werden diese Szenarien als Erklärungen für bestimmte Entwicklungsstadien und zur Erklärung von Verhaltensweisen eingebracht. So werden beide Teile des Buches miteinander verzahnt und den Eltern eine lebensnahe Hilfestellung zum Verstehen von Verhaltensweisen von Kindern gegeben. Auch andere Leserinnen und Leser erfahren viele interessante Situationen und Deutungen, die in der Begegnung oder Arbeit mit Kindern spannende Wege des Umgangs eröffnen.

Diskussion

Das Buch ist ein Meisterbeispiel für medizinisches Infotainment. Es bietet großen Nutzen für die Entwicklung und Unterstützung elterlicher Kompetenz. Grundlegendes medizinisch-neurologisches Fachwissen wird überblicksartig und lesefreundlich aufbereitet und immer mit Blick auf die Alltagsanwendung beschrieben. Zusammenhänge werden leicht verständlich dargestellt und führen zunächst zu einem Verständnis von Abläufen und vom Zusammenspiel verschiedener körperlicher Prozesse. Das kindliche Verhalten und elterliche Verstehen von Befindlichkeiten, Hintergründen und Denk- und Entscheidungsprozessen wird insbesondere im zweiten Teil durch einprägsame Beispiele deutlich gemacht.

Die jahrzehntelange Erfahrung als praktizierender Kinderarzt und Neurologe und die Gespräche mit besorgten, verunsicherten, ratsuchenden Eltern kommen dem Buch zugute. Auf Augenhöhe und mit Respekt beschreibt der Autor Szenarien, die Erwachsene und Kinder in Verwirrung stürzen können und forscht nach dahinterliegenden Ursachen und Erklärungsansätzen. Er übersetzt die unverständlichen kindlichen Verhaltensweisen und bietet Grundlagenwissen für Deutungen und Verstehen an. Das Anliegen, Kindern von null bis fünf Jahren ein verstehendes und verständnis-volles familiäres Lebensumfeld zu bieten wird durchgängig deutlich. Aus medizinischer Sicht werden zum Beispiel im Teil zwei „Grenzsteine“ immer auch Unfallrisiken dargestellt.

Die Sprache und der Schreibstil des Ratgebers sind dem Genre entsprechend eingängig und leicht verständlich. Unterhaltsam und informativ, im beinahe beiläufigen Plauderton werden Inhalte vermittelt, miteinander verknüpft und auch besonders im zweiten Teil mit Humor betrachtet. Der Arzt im Untersuchungsraum ist nicht zu verkennen. Das Anliegen des Autors ist jedoch ein durchaus sehr ernsthaftes und ernstzunehmendes, das unterhaltsam und respektvoll für Eltern aufbereitet ist.

Sachlich und fachlich versiert werden vom Autor wichtige und nützliche Informationen geboten, die Spaß machen zu lesen. Das Buch ist kurzweilig und vermeidet Wiederholungen, der Fokus liegt klar auf dem neuartigen Ansatz und dieser wird eingängig und anschaulich eingeführt.

Fazit

Das Buch „Die ersten fünf Jahre. Vom Baby zum Vorschulkind: Wie sich ihr Kind entwickelt“ von Prof. Dr. Richard Michaelis ist ein leicht verständlicher Ratgeber für Eltern und interessierte Leserinnen und Leser. Es teilt sich in zwei große und Unterkapitel. Auf 228 Seiten werden „Die Entwicklung des Kindes“ und die Entwicklung in Altersabschnitten behandelt. Der erste Teil befasst sich mit den Generierungsprozessen, die Entwicklungsverläufe auslösen, antreiben und steuern. Dazu werden neurobiologische Zusammenhänge erläutert. Im zweiten Teil des Buches werden Altersabschnitte und altersrelevante Besonderheiten besprochen und die Grenzsteine der Entwicklung dargestellt.

Mit dieser Publikation wird ein bisher vielfach verbreitetes, stufenweises Reifungsmodell durch ein Entwicklungsmodell ergänzt, das Entwicklungsschritte des Kindes von null bis fünf Jahren zeitlich und Inhaltlich neu verortet und in je sechsmonatige Grenzsteine der Entwicklung teilt. Entwicklung verläuft nach diesem Modell nicht notwendigerweise linear und aufeinander aufbauend (nach und nach ausreifend) sondern kann in verschiedenen Entwicklungspfaden auch unterschiedlich schnell und ausgeprägt, sprunghaft, parallel, chaotisch erfolgen, ohne dass ein Kind bei Schuleintritt Entwicklungsauffälligkeiten aufweist. Eltern als Beobachterinnen und Beobachter werden bestärkt und ermutigt, anhand der Grenzsteine individuelle Entwicklungsverläufe als normal wahrzunehmen.

Das Kind und seine Integrität von Geburt an stehen im Mittelpunkt des Buches. Der Autor stellt die individuelle Persönlichkeit und die angeborene Bereitschaft des Kindes zu Teilhabe und Imitation heraus. Diese sind als Antrieb zu sehen und ermöglichen Lern-/ und Entwicklungsfortschritte, die als Anpassungsleistungen definiert werden.

Das Buch ist lesenswert, thematisch zeitgemäß und informativ. Der Autor ist fachlich versiert und integer. Sein sachlicher Schreibstil aber auch sein alltagssprachlicher und teils humorvoller Ton kommen „gut rüber“. Beispiele aus dem Alltag verdeutlichen seine vorangestellten theoretischen Darstellungen sehr anschaulich und bieten Eltern viele Zugänge, um ihr Kind und dessen Verhalten einzuordnen und besser zu verstehen.

Mit diesem gelungenen niedrigschwelligen Ratgeber-Format können viele Eltern erreicht werden und die Entwicklung ihres Kindes verantwortlich beobachten. Sie lernen, Abweichungen anzunehmen, ohne sofort beunruhigt zu sein, wenn sich Verzögerungen in einzelnen Entwicklungsaspekten zeigen. Hinweise für Warnzeichen werden genannt, auch auf Entwicklungstests oder Diagnostik durch den Kinderarzt verwiesen.

Neben Eltern und Fachpersonen in der Erziehungspraxis können insbesondere auch ehrenamtlich mit Kindern Tätige können von diesem eingängigen und informativen Werk profitieren.

Rezension von
Svenja Rehse
M.A., Dozentin Pädagogik (Fach-/Hochschulen) und Kunsttherapie
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Es gibt 8 Rezensionen von Svenja Rehse.

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Zitiervorschlag
Svenja Rehse. Rezension vom 18.10.2018 zu: Richard Michaelis: Die ersten fünf Jahre. Vom Baby zum Vorschulkind: wie sich Ihr Kind entwickelt. Trias (Stuttgart) 2018. 5. Auflage. ISBN 978-3-432-10487-4. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/24893.php, Datum des Zugriffs 06.12.2023.


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