Michael H. Faulhaber: Eben in diesem Moment in diesem Werk finde ich Dich
Rezensiert von Dr. Florian Salzberger, 04.03.2019

Michael H. Faulhaber: Eben in diesem Moment in diesem Werk finde ich Dich. Phänomenologie der Liebe im Angesicht Komplexer Behinderung.
Athena-Verlag e.K.
(Oberhausen) 2018.
426 Seiten.
ISBN 978-3-7455-1017-1.
34,50 EUR.
Reihe: Schriften zur Pädagogik bei Geistiger Behinderung - 8.
Autor
Michael H. Faulhaber, Dr. phil., geboren 1976, studierte Sonderpädagogik mit dem Schwerpunkt Geistigbehindertenpädagogik an der Universität Würzburg. Er ist langjähriger Mitarbeiter einer Spezialstation für Menschen mit Komplexer Behinderung, die in dauerhaft fragiler Gesundheitssituation der permanenten medizinisch-pflegerischen Betreuung und Überwachung bedürfen.
Entstehungshintergrund
Dem Autor zufolge entstand die Arbeit aus dessen langjähriger Tätigkeit auf einer Spezialstation für Kinder, die einer permanenten medizinisch-pflegerischen Betreuung bedürfen und mitunter stark lebensverkürzend erkrankt sind. Faulhaber verwendet für diese Wirklichkeit den Begriff „Komplexe Behinderung“.
Die Arbeit wurde 2017 von der Universität Würzburg unter der Betreuung von Prof. Dr. Erhard Fischer und Profín. Dr. Ursula Stinkes als Dissertation angenommen.
Thema
Der Autor reflektiert vor allem mit dialogphilosophisch-leibphänomenologischen Ansätzen – hier insbesondere mit dem Hauptwerk „Grundformen und Erkenntnis menschlichen Daseins“ des Schweizer Psychiaters Ludwig Binswanger – die Beziehung(sarbeit) mit den ihm anvertrauten Menschen seiner Station. Faulhaber erarbeitet – illustriert an zahlreichen narrativen Beispielen seiner beruflichen Tätigkeit – auf hochanspruchsvollem erziehungs- und bildungsphilosophischem Niveau methodische Leitfäden für die Forschung der Heil- und Sonderpädagogik und qualitative Kriterien für heil- und sonderpädagogisches Handeln.
Aufbau und Inhalt
Der Arbeit geht es – wie der Untertitel kundtut – inhaltlich und methodisch um eine „Phänomenologie der Liebe im Angesicht Komplexer Behinderung“, also um ein „In-Erscheinung-Treten-Lassen“ des Liebesphänomens, welches – dem Autor zufolge – zentral und fundierend ist in Bezug auf jede (heil-)pädagogische Arbeit. Der Aufbau der Arbeit folgt aber eher einer dialektischen Gliederungsstruktur, was der Natur der Sache bzw. dem „Forschungsgegenstand“ geschuldet ist. Thema ist die Existenz des menschlichen Daseins und deren mögliches „Ganz-Sein“. Die Sterblichkeit der menschlichen Existenz bzw. der Tod bildet die Grunddialektik des Lebens als dessen absolute Verneinung. Aus dieser Tatsache ergibt sich konsequent die Gliederungsstruktur der Arbeit, die zunächst als existenzphilosophische beginnend Heideggers Philosophie von „Sein und Zeit“ aus Binswangers Perspektive darlegt und als Reduktionismus bzw. als rein instrumentelles „Nehmen-bei“ im Umgang mit Anderen erweist (vgl. hierzu nach der thematischen Exposition der Fragestellung das Kapitel II der Arbeit „Vorbereitung der Fundamentalanalyse der Unsrigkeit“).
Einen möglichen Überstieg im Sinne des menschlichen Ganzseins zeigt Faulhaber im dritten Kapitel: „Phänomenologie der Liebe“: Hier muss aber die Dialektik zugunsten eines konkret gelebten Dialogs verlassen werden. Erst die Liebe, im Sinn eines nicht-selbst-erwirkten Angesprochen-Werdens bzw. Sich-Ansprechen-Lassens, lässt die Todesdialektik des Daseins hinter sich. In der liebenden Wirheit entfalten Menschen ihr Selbstsein aneinander und nur sie lassen in dieser liebenden Beziehung einander ganz sein. Eine weltlose Liebe ohne Sorge ginge jedoch ebenso schnell unter, wie ein liebloses sorgendes Dasein nicht aus sich heraus ganz werden kann. Daher der zwischen Sorge und Liebe oszillierende dialektische Aufbau der Arbeit, der die heideggersche Fundamentalanalyse nicht nur als Vorbereitung, sondern insgesamt auch für den binswangerschen „Liebesabschnitt“ als Rüstzeug braucht. Dieses der wahren Liebe eigene Schwingen zwischen den konstitutiven Polen Mitwelt / Liebe („Eben in diesem Moment“) und Welt / Sorge („in diesem Werk“) zeigt sich bereits im Titel. So ist dieses „Schwingen“ und „Oszillieren“ zwischen philosophischen Begriffen und Einblendungen konkret narrativ dargestellter lebensweltlicher Erfahrungen die der Liebe angemessene Form: Die Unterbrechungen der wissenschaftlichen Abhandlung durch konkrete Ereignisse, die in den Alltag einbrechen und Faulhabers Schreiben auch unterbrechen (meistens akute Vorfälle auf der Station), sind nicht nur methodische Rückgriffe auf die berufliche Welt des Autors. Letztlich zeigen sie, dass dessen Schreiben nicht in luftleerem Raum stattfindet, sondern dass dies die Diktion eines persönlich verantwortlichen und in „liebender“ Beziehung stehenden Autors ist. Dieser Autor gibt seine Antworten auf An-Sprüche seiner Mitmenschen und dies in der Hauptsache nicht nur in Buchform.
Der letzte Abschnitt „in statu nascendi – Pädagogik im Angesicht Komplexer Behinderung“ endet etwas kryptisch mit dem Hinweis auf die Hermetik persönlicher Daten, Sterbetage, Erinnerungsspuren. Aber auch hier bleibt Faulhaber konsequent und „verschwiegen“, als wolle sein Schweigen über die hinter den Daten stehenden gelebten Beziehungserfahrungen beredt werden und sagen, dass Liebe letztlich nur lebbar ist. Es ist, als wollte der Autor uns als Leser Mut machen, Liebe selbst zu leben, ja sich dem Leben in Gänze mit all seinen Härten auszusetzen und sich seinen Mitmenschen zu öffnen. „Hab den Mut, Dich von ihnen berühren zu lassen!“ würde Faulhaber Kant wohl umformulieren. Methodisch macht pädagogisches Schreiben nämlich nur als bezogenes, in Beziehung-Seiendes Schreiben Sinn. Faulhaber möchte die Sonderpädagogik mit seinem Werk vor allem daran erinnern, dass sie Beziehungswissenschaft ist. Sein Anliegen ist kein geringeres als dieses Fach leib-dialogisch zu reetablieren.
Überhaupt könnte das Motiv des Buches Melvilles Roman „Moby Dick“ entspringen: Ein letzter Überlebender ist angetreten, um zu künden, um Erinnerungsarbeit zu leisten, ja auch um vor einem Wal, den er noch gesehen hat, zu warnen. Faulhaber kennt und erkennt noch den postmodernen Wal des Konstruktivismus und Szientismus, der jedes Beziehungsdenken vernichtet hat. Er will nun Erinnerungsarbeit leisten, erinnern und erzählen, um etwas der postmodernen Gleichgültigkeit zu entreißen und auf Bedeutsames hinweisen, das nicht dem Vergessen anheimgegeben werden darf. Auf „Vergessene Zusammenhänge“ – aber in anderem Sinne als Mollenhauer – will dieser engagierte Autor verweisen, nämlich auf die Liebe, die als erfüllte Wir-Beziehung jeden pädagogischen Vollzug fundieren sollte. Dies ist jedoch keine Sozialromantik, sondern hartes Argument: Eine Pädagogik wäre nicht ganz und damit unvollständig, hätte sie die Liebe nicht: (Heil-)Pädagogik geht es als Wissenschaft um den ganzen Menschen. Da der Mensch nur „ganz“ sein kann in einer liebenden Beziehung, muss die Heil- und Sonderpädagogik um die nicht-quantifizierbare Unendlichkeitsdimension der Liebe erweitert werden. Letztlich – so Faulhabers Argument – ist eine Heil- und Sonderpädagogik, der es wirklich um den Menschen geht, nur als Beziehungswissenschaft möglich. Das Menschsein erfüllt sich erst in einem in Liebe vollzogenem Miteinandersein, und für dieses Menschliche am Menschsein müssen wir uns immer wieder entscheiden, auch und vor allem in der methodischen Herangehensweise einer Wissenschaft vom Menschen für Menschen.
Derart in Beziehung stehende Menschen lassen sich aufrütteln und sind mit den ihnen lieben Menschen verbunden, auch wenn sie gerade von ihnen räumlich getrennt sind. Faulhaber selbst gibt hierfür ein gelebtes Beispiel, ja Zeugnis. Dieses Liebesphänomen nennt er mit Binswanger „Überräumlichung“ und setzt so einen Kontrapunkt zu den an den eigenen Körpergrenzen endenden Konstruktivismen jeder Art. Die „Überzeitlichung“ der Liebe reicht sogar über die Grenze des Todes hinaus und überwindet somit die existentielle Grunddialektik menschlichen Lebens: Die Liebe besiegt den Tod, weil sich in ihr Menschen einander in ihren Herzen eingeschrieben haben, was auch über das biologische Ableben fortbesteht. Diese leibliche Ein-Bildung ist gewissermaßen die ursprüngliche Bildungserfahrung des Menschen, der sein „eigentliches“ Selbst erst aus liebender Wir-Einheit entfalten kann. Das wechselseitige Ineinander-Einbeschrieben-Sein als unvergleichliches, „einsames“ Selbst kann selbst der physische Tod des Du nicht beeinträchtigen. Faulhaber gelingt es mit seiner Arbeit diese leibliche Ein-Bildung als „erotisches“ und grundlegendes Bildungsverhältnis und -verständnis wieder aufzuweisen. Er legt damit klar dar, dass hierzu – auch für die Wissenschaft – die Bereitschaft gehört, sich von einer Unendlichkeit anrühren zu lassen und sich der Ewigkeitsdimension einer möglichen Transzendenz nicht zu verschließen.
Diskussion
Zu diskutieren wäre an Faulhabers Werk vor allem der Liebesbegriff Binswangers und dessen Übernahme auf die pädagogische Beziehung. Binswanger erhellt in „Grundformen und Erkenntnis menschlichen Daseins“ insbesondere die partnerschaftliche und die freundschaftliche Liebe: Partnerschaftliche Liebe betrifft das Dasein im Ganzen, die freundschaftliche Liebe in wesentlichen, aber lediglich partiellen Bereichen, so die binswangersche Unterscheidung in der hier gebotenen Kürze. Faulhaber umschifft nun aber in seiner Arbeit die nötige Frage, ob sich Binswangers Liebesbegriff überhaupt auf den pädagogischen Bezug applizieren lässt.
Auch wenn die Liebesphänomene etwa der Überräumlichung, Überzeitigung, der wechselseitigen Teilnahme und „Ein-Bildung“ Phänomene sind, die in jeder Liebesform aufzuweisen sind, und damit auch in der pädagogischen Liebe, so hätte man sich doch eine klarere Unterscheidung der unterschiedlichen Liebesdimensionen gewünscht. Diese Dimensionen gibt es ja zweifelsohne, denn auch Binswanger unterscheidet etwa zwischen freundschaftlicher und partnerschaftlicher Liebe. Faulhaber jedoch trifft keine klare Abgrenzung der pädagogischen Liebe von anderen Formen bzw. verortet diese nicht.
Eine weitere kritische Anfrage wäre Faulhabers Lesart von Wilhelm Pfeffer. Faulhaber kritisiert vor allem leibphänomenologische Autoren im Gefolge Pfeffers, die versuchen, aus der Leiblichkeit pädagogische Ziele abzuleiten. Pfeffer gehe es – laut Faulhaber – nicht darum, sondern es gehe ihm im Wesentlichen um die Fülle des gemeinsam gelebten Augenblicks. Auch wenn dem letzten Teil dieser Behauptung natürlich zuzustimmen ist, so ließen sich zahlreiche Gegenbeispiele im Werk Pfeffers finden, die sehr wohl aus der Ansprüchlichkeit des Leibes pädagogische Ziele und Möglichkeiten der Förderung ableiten.
Fazit
Das Werk besticht und fasziniert durch das gelebte Beispiel des Autors, das durch jeden Satz, ja jedes Wort hindurch scheint. Der Sonderpädagogik, die sich heutzutage oft nur als Sonderschulpädagogik versteht, wäre zu wünschen, den Blick mehr als bisher für die Menschen zu öffnen, deren Leben Faulhaber beschreibt. Für diese Menschen versucht Faulhaber eine ihnen gerechter werdende Umgangsart und Wissenschaftsauffassung zu erarbeiten und zu beschreiben, denn sie bilden letztlich den Prüfstein jeglicher Sonderpädagogik. Nicht nur mit seinem nun veröffentlichten Buch, sondern insbesondere mit seinem gelebten Zeugnis in seiner Arbeit auf dieser Station geht Faulhaber uns mit gutem Beispiel voran auf dem, wie er selbst ausführt, für jeden Sonderpädagogen weiten Weg „Vom Machen zum Sein“.
Rezension von
Dr. Florian Salzberger
M.A., Studienrat an der St.-Notker-Schule Deggendorf (Förderzentrum mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung), Lehrbeauftragter im Fach Philosophie an der Universität Passau
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Zitiervorschlag
Florian Salzberger. Rezension vom 04.03.2019 zu:
Michael H. Faulhaber: Eben in diesem Moment in diesem Werk finde ich Dich. Phänomenologie der Liebe im Angesicht Komplexer Behinderung. Athena-Verlag e.K.
(Oberhausen) 2018.
ISBN 978-3-7455-1017-1.
Reihe: Schriften zur Pädagogik bei Geistiger Behinderung - 8.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/24896.php, Datum des Zugriffs 07.06.2023.
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