Monika Alisch, Martina Ritter et al.: „Irgendwann brauch’ ich dann auch Hilfe …!“ (Ältere Menschen im ländlichen Raum)
Rezensiert von Prof. Kurt Witterstätter, 04.10.2018
Monika Alisch, Martina Ritter, Annegret Boos-Krüger, Christine Schönberger, Roger Glaser et al. (s.u.): „Irgendwann brauch’ ich dann auch Hilfe …!“. Selbstorganisation, Engagement und Mitverantwortung älterer Menschen in ländlichen Räumen.
Verlag Barbara Budrich GmbH
(Opladen, Berlin, Toronto) 2018.
155 Seiten.
ISBN 978-3-8474-2153-5.
D: 32,00 EUR,
A: 32,90 EUR.
Reihe: Beiträge zur Sozialraumforschung - Band 17. Weitere AutorInnen: Yvonne Rubin, Barbara Solf-Leipold.
Thema und Entstehungshintergrund
Der stadtfern-ländliche Raum gilt mit seinen Abwanderungstendenzen von Dienste-Anbietern und jüngeren Familenmitgliedern allgemein als problematisch für die Versorgung der dort gehäuft zurück bleibend vermuteten Altenpopulation. Seit einiger Zeit werden die befürchteten Versorgungsdefizite relativiert, weil einerseits ein Zuzug altersjüngerer Personen in ländliche Gebiete feststellbar ist und andererseits die Selbsthilfepotenziale der Altenbevölkerung zur Revitalisierung auf dem Land beitragen.
Lehrende und Forschende der beiden Hochschulen von Fulda und München sind am Beispiel von drei ländlichen Gebieten in Hessen und Bayern der Frage nach gegangen, wie der Hilfe- und Pflegemix aus Staat, professionellen und privaten Akteuren im ländlichen Raum optimiert werden kann. Ihre Untersuchungen liefen, gefördert vom Bundesminister für Bildung und Forschung BMBF, zwischen 2014 und 2017 unter dem Titel „Bürgerhilfevereine und Sozialgenossenschaften als Partner der öffentlichen Daseinsvorsorge und Pflege. Modellentwicklung zur ergänzenden Hilfeleistung für ältere Menschen in ländlichen Räumen“ BUSLAR. Die transdisziplinären, unter Mitbeteiligung der Akteure als Co-Forschenden entstandenen Ergebnisse liegen nun in dem bei Barbara Budrich erschienenen, 156-seitigen Band „Irgendwann brauch' ich dann auch Hilfe…!“ vor.
Im Ergebnis werden geraume Potenziale der privat Engagierten festgestellt. Sie können dann noch optimiert werden, wenn sich diese mit vor-pflegerischen Diensten helfenden „Caregivers“ noch stärker ihres sozial-kommunikativen Mehrwerts für die Hilfeempfänger bewußt werden und diesen zulassen. Und wenn die beteiligten Kommunen die Potenziale dieser bürgerschaftlich Aktiven mit räumlichen und finanziellen Ressourcen unterstützen.
Autorinnen und Autoren
Professorin Dr. Monika Alisch, Professorin Dr. Martina Ritter, Roger Glaser M.A. und Dr. Yvonne Rubin sind in Lehre und Forschung am Fachbereich Sozialwesen der Hochschule Fulda tätig.
Professorin Dr. Annegret Boos-Krüger, Professorin Dr. Christine Schönberger und Dipl.-Sozialpädagogin Barbara Solf-Leipold M.A. lehren und forschen an der Fakultät für angewandte Sozialwissenschaften der Hochschule für angewandte Wissenschaften München.
Aufbau
Der BUSLAR-Forschungsbericht „Irgendwann brauch' ich dann auch Hilfe…!“ gliedert sich in drei von allen sieben AutorInnen gemeinsam formulierte Teile. Die Deutsche Nationalbibliothek bietet Einblick in das vollständige Inhaltsverzeichnis.
Zu Teil 1
Zunächst werden im ersten Teil die sozialräumlichen und politischen Rahmenbedingungen der unterschiedlichen, untersuchten Flächengemeinden im ländlichen Raum auch mit Hilfe der bei Uwe Fachinger und Harald Künemund vorfindlichen Typologie (mit ländlich-stadtnahen und ländlich-ruralen Ansiedlungen) abgeklärt. Das hessische Tann liegt mit zwei Dritteln statistisch Alten in einem strukturschwachen Abwanderungsgebiet. Großenlüder gehört mit seinem Anteil Lebensalter von etwa einem Fünftel einer strukturstabilen Region im Kreis Fulda an. Das oberbayerishe Markt Gaimersheim grenzt im Landkreis Eichstätt direkt an die Großstadt Ingolstadt und erfreut sich einer prosperierenden, stadtnahen Umgebung; seine Ortsteile beherbergen unterschiedliche Altenanteile.
Alle drei Flächengemeinden besitzen als eingetragene Vereine organisierte Bürgehilfevereine mit jeweils zwischen 100 und 200 Mitgliedern mit den Zielen, Alltagshilfen für alte Menschen unter generationsübergreifenden Aspekten zu leisten und so zur Einlösung der Aufgabe der Daseinsvorsorge beizutragen. Tann besitzt den Verein Füreinander-da-sein mit Kommunikations- und Alltagshilfen sowie Veranstaltungsangeboten. Großenlüder hat den Verein Miteinander-Füreinander mit Unterstützung Pflegebedürftiger und Angehöriger, aber auch Babysitting, Besuchsdienst und Friedhofs-Fahrdienst. In Markt Gaimersheim existiert die Bürgergesellschaft mit dem Ziel, Versorgungslücken im Alter zu schließen und dadurch eigenständiges Wohnen zu erhalten auf Gegenseitigkeit der Dienste untereinander in einer Art von Genossenschaft.
Zu Teil 2
Im zweiten Teil der Untersuchung werden unter Vorschaltung methodischer Einsichten die in den Untersützungs-Arrangements wirksamen Bedürfnisse und Interessen ermittelt. Die Untersuchungen wurden transdisziplinär anhand eines an den Defiziten der Hilfe-Adressaten geführten Praxispfades und mit einem am Welfare-Mix nach Thomas Klie ausgerichteten Wissenschafts-Pfad geführt. In der Exploration von Engagierten und Adressaten wurde das Konzept der Zukunftswerkstätten benutzt in der lockeren Atmosphäre der World-Cafés. In Vernetzungsrunden wurde mit den professionellen und den Kommunalvertretern kommuniziert. In den Runden mit den Experten der Organisationsentwicklung wurden Critical Incidents (kritische Momente) aufgeworfen.
Es stellte sich heraus, dass die engagierten Caregivers der Bürgerhilfevereine von folgenden Motiven geleitet waren: Etwas Sinnvolles zu tun, der Gesellschaft etwas zurück zu geben, Kontakte zu finden, verloren gegangene Dienste auszugleichen und dereinst bei eigener Hilfebedürftigkeit selbst geholfen zu bekommen, woraus der Buchtitel „Irgendwann brauch' ich dann auch Hilfe…!“ entstand. Diese Engagierten lehnten Überforderung und ein Ausufern ihrer praktischen Besorgungs- und Begleit-Hilfen in eine zu starke emotionale Nähe und Dauer-Beanspruchung ab gemäß der Devise „Hilfe statt Bespassung“.
Anders stellten sich die Erwartungen der Adressaten dar: Die Hilfe-Empfänger wünschten jenseits der ihre Defizite ausgleichenden Versorgungs- und Verkehrsangebote auch Informationen, Kontakte und Gehör. Mitunter war die Hilfe-Nachfrage nur Vorwand für soziale Kontakt-Suche. In den von den Forschern ermutigten Lernprozessen für ein Vertrauen zwischen Helfern und Empfängern wuchsen persönliche Bindungen und weichten sich die ursprünglichen formalen Regeln auf. Anstelle „Hilfe statt Bespassung“ lautete die Formel nun „Vom Fahrdienst zur Kaffeestunde“. Die begrenzt technizistische Hilfe-Leistung entwickelte einen Eigensinn zu einer Hilfe mit dem Sozial-Emotionalen als sozialem Kern.
Zu Teil 3
Damit war der dritte Teil des Begleitforschungs-Berichts mit der Organisationsentwicklung erreicht. Die Hinwendung zu den sozial-emotionalen Kontakten zwischen Hilfe-Gebern und Hilfe-Empfängern wurde auch in den Leitbildern der Bürgerhilfevereine verankert. Die praktische und soziale Sorgearbeit wurde als Gemeinschaftsaufgabe im Mix von Familie, Bürgerhilfevereinen, pflege-professionellen und kommunalen Dienste-Agenturen verstanden. Ressourcen sollten austauschbar genutzt werden können. Die Bürgerhilfevereine sollten von bürokratischer Überforderung verschont bleiben.
Betrieben wurde die organisationale Optimierungsberatung vom bayerischen Genossenschaftsverband (Markt Gaimersheim) und von der Agentur für Entwicklung und Betreuung integrativer Regionalprojekte im EU-Raum (Tann, Großenlüder) unter teilnehmender Beobachtung der Projektpartner aus den Hochschulen. Die Verwirklichung von Sinnstiftung und Anerkennung bei den Engagierten und die Stärkung der sozialen Bindungen mit den Hilfeempfängern sollten in die Leitbilder Einzug halten, auch um neue aktive Mitglieder zu werben, um so die Arbeit aufrecht zu erhalten. Die Allzuständigkeit der Vereins-Vorstände sollte zugunsten einer breiteren Verteilung von Aufgaben und funktionierender Koordination unter den Mitgliedern eingeschränkt werden. Mit der veränderten Organisationskultur verstärkte sich die Identifikation der Mitglieder mit ihrem Bürgerhilfeverein.
Im Ergebnis wurden an Bedingungen für gelingende Arbeit festgestellt die Selbstbestimmung der Caregivers, ihr Recht auf Ablehnung von Überforderung, die Nutzbarmachung ihrer Vorerfahrungen, die Hilfe der Kommunen zur Vernetzung mit den Pflege-Professionellen, überhaupt die kommunale Unterstützung und eine positive Einstellung der Kommunen zur Arbeit ihrer bürgerschaftlich aktiven Akteure.
Diskussion
Das BUSLAR-Projekt zur Optimierung vor-pflegerischer bürgerschaftlicher Hilfen für alte Menschen in hessischen und bayerischen Gemeinden der Hochschulen Fulda und München gibt wichtige Hinweise für ein erfolgreiches zivilgesellschaftliches Engagement. Alltags-, Besorgungs- und Mobilitäts-Hilfen lösen sozial-emotionale Bindungen aus, die zuzulassen sind. Kommunale Unterstützung mit Ressourcen und bei der Vernetzung mit professionellen Diensten ist unerläßlich.
Der zur Erhellung der Hifenotwendigkeit benutzte Begriff der Daseinsvorsorge wurde nicht in seinem verwaltungsrechtlichen Ursprungs-Aspekt gesehen; auch sein Urheber, der Öffentlichrechtler Ernst Forsthoff, wurde nicht erwähnt. Überhaupt wurden gerade auch gerontologische Termini unterschiedlich vertiefend erklärt. So wurde der hier wichtig erhellende Begriff der vor-pflegerischen Hilfen gar nicht benutzt.
Die geringe Vernetzung der Bürgerhilfevereine mit den professionellen Pflegediensten vor Ort konnte weder durch die begleitende Hochschulforschung noch durch die Organisationsberatung verstärkt werden und ist der zeitlich hohen Auslastung der Mitarbeiterschaft in den Pflegeeinrichtungen geschuldet.
Die Inhalte der kommunalen Zielpapiere zur Altenhilfe wurden den Forschungsüberlegungen zugrunde gelegt, ohne ihre tatsächliche Verwirklichung genauer zu überblicken.
Nicht geklärt werden konnte, warum alte Menschen, die anderen Milieus als die engagierten Caregivers entstammten, mit den Hilfen nicht erreicht werden konnten.
Fazit
Eine Stärkung ehrenamtlicher vor-pflegerischer Hilfen alter Menschen bei Alltagsbedarf und Mobilitätswünschen kann der Versorgungs-Ausdünnung im ländlichen Bereich entgegen wirken und zugleich die sozial-emotionalen Bindungen der Alten-Klientel zu den Hilfe-Gebern verstärken. Organisationale und kommunikative Hilfen sind willkommen und werden durch die Veröffentlichung des BUSLAR-Projekts der Hochschulen Fulda und München aufgezeigt.
Rezension von
Prof. Kurt Witterstätter
Dipl.-Sozialwirt, lehrte bis zur Emeritierung 2004 Soziologie, Sozialpolitik und Gerontologie an der Evangelischen Fachhochschule Ludwigshafen - Hochschule für Sozial- und Gesundheitswesen; er betreute zwischenzeitlich den Master-Weiterbildungsstudiengang Sozialgerontologie der EFH Ludwigshafen
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Zitiervorschlag
Kurt Witterstätter. Rezension vom 04.10.2018 zu:
Monika Alisch, Martina Ritter, Annegret Boos-Krüger, Christine Schönberger, Roger Glaser et al. (s.u.): „Irgendwann brauch’ ich dann auch Hilfe …!“. Selbstorganisation, Engagement und Mitverantwortung älterer Menschen in ländlichen Räumen. Verlag Barbara Budrich GmbH
(Opladen, Berlin, Toronto) 2018.
ISBN 978-3-8474-2153-5.
Reihe: Beiträge zur Sozialraumforschung - Band 17. Weitere AutorInnen: Yvonne Rubin, Barbara Solf-Leipold.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/24901.php, Datum des Zugriffs 23.01.2025.
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