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Albert Lenz: Kinder psychisch kranker Eltern

Rezensiert von Susanna Staets, Dr. med Michael Hipp, 31.05.2005

Cover Albert Lenz: Kinder psychisch kranker Eltern ISBN 978-3-8017-1872-5

Albert Lenz: Kinder psychisch kranker Eltern. Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG (Göttingen) 2005. 227 Seiten. ISBN 978-3-8017-1872-5. 29,95 EUR. CH: 49,80 sFr.

Weitere Informationen bei DNB KVK GVK.

Seit Erstellung der Rezension ist eine neuere Auflage mit der ISBN 978-3-8017-2589-1 erschienen, auf die sich unsere Bestellmöglichkeiten beziehen.

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Kontext, Thematik und Autor

Bis Mitte der 90er Jahre konnten die Kinder psychisch kranker Eltern als die vergessenen kleinen Angehörigen gelten. Der Fokus des Interesses der Fachöffentlichkeit lag ausschließlich auf den erwachsenen Angehörigen, die nach Jahrzehnten der Ausgrenzung mit Erfolg auf ihre Bedeutung bei der Versorgung der psychisch kranken Menschen aufmerksam machten. Seither ist eine Perspektivenerweiterung eingetreten. Es hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass die minderjährigen Kinder durch die Auswirkungen der elterlichen Erkrankung in ihrer Persönlichkeitsentwicklung erheblich beeinträchtigt sind. Sie werden dadurch zu einer wichtigen Risikogruppe für die Entwicklung psychischer Störungen. In zahlreichen Fachtagungen und Fortbildungsveranstaltungen wurde die Notwendigkeit präventiver Hilfen anerkannt. Wissenschaftliche Studien bestätigten die nachteiligen Folgen einer gestörten Eltern-Kind-Interaktion (Remschmidt/Mattejat, 1994) und dokumentierten das weitgehende Fehlen von Hilfsangeboten für die betroffenen Kinder in den kooperationsunerfahrenen Institutionen der Erwachsenenpsychiatrie und der Jugendhilfe (Schone/Wagenblass, 2002). Dennoch bleibt die Datenbasis bezüglich Epidemiologie, subjektivem Erleben der Betroffenen, Hilfebedarf und Haltung der Professionellen vor dem Hintergrund institutioneller Beschränkungen unzureichend.

Der Autor möchte mit dem vorliegenden Buch zur Überwindung dieser Defizite beitragen. Als Professor für Klinische Psychologie und Sozialpsychologie an der Katholischen Fachhochschule Nordrhein-Westfalen, Abteilung Paderborn, wählte er seine Arbeits- und Forschungsschwerpunkte in den Bereichen Sozial- und Gemeindepsychiatrie, Beratung und Jugendhilfe, Netzwerke und Empowerment, Theorie und Praxis der Gemeindepsychologie. Diese altersübergreifende, an der psychosozialen Versorgungspraxis orientierte Ausrichtung disponiert ihn zur Erforschung eines Themas, das aufgrund seiner hohen Komplexität nur über die Fähigkeit zum interpersonellen und interinstitutionellen Perspektivenwechsel verstanden werden kann.

Inhalt

Im Mittelpunkt seines Buches präsentiert der Autor die Ergebnisse des Forschungsprojektes "Kinder als Angehörige - Einbeziehung der Kinder in die Behandlung psychisch kranker Eltern", das vom Ministerium für Wissenschaft und Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen finanziert wurde. Die Kooperationspartner waren das Westfälische Zentrum für Psychiatrie und Psychotherapie Paderborn, das St. Marien-Hospital Eickel sowie das Stadt- und Kreisjugendamt Paderborn. Zur Kontextklärung wird der aktuelle Erkenntnisstand in den Bereichen Risikoforschung, Resilienz- und Bewältigungsforschung sowie Vulnerabilitätsforschung erläutert. Daraus leitet sich das Studiendesign mit drei Forschungsebenen ab:

  1. Kinder als Angehörige in der Erwachsenenpsychiatrie. Konsekutive Erhebung und standardisierte Befragung der Patienten/innen mit Kindern unter 18 Jahren auf allgemeinpsychiatrischen Stationen in zwei Kliniken über einen Zeitraum von 6 Monaten. Leitfadengestützte Interviews mit Kindern von Patienten/innen im Alter von 7 - 18 Jahren
  2. Evaluation der Mutter-Kind-Behandlung. Katamnestische Untersuchung der Wirksamkeit der Mutter-Kind-Behandlung. Vergleich von zwei Patientengruppen: Mütter, die gemeinsam mit ihren Kindern (MK-Gruppe) und Mütter, die ohne ihre Kinder (K-Gruppe) behandelt wurden.
  3. Kooperation zwischen Erwachsenenpsychiatrie und Jugendhilfe. Leitfadengestützte Interviews mit Experten/innen aus der Erwachsenenpsychiatrie und der Jugendhilfe.

Ad 1: Es wurden 808 Patienten/innen befragt, die wegen Depression (36 %), Persönlichkeitsstörung/Neurose (26%) oder Psychose (23 %) stationär behandelt wurden. 27 % der Patienten/innen hatten Kinder unter 27 Jahren (Frauen 34 %, Männer 18 %). Aufgrund der schwach ausgeprägten Netzwerkorientierung wurden die Kinder meist durch enge Angehörige versorgt. Kleine Kinder vermieden den Besuch der Eltern im Krankenhaus. Nur eine Minderheit der Kinder zeigte sich über die psychische Erkrankung der Eltern ausreichend informiert. Es wurden 22 Interviews mit Kindern psychisch kranker Eltern qualitativ ausgewertet.  Die Verunsicherung und Überforderung der Kinder manifestierte sich in Ängsten Resignation, Schuld- und Schamgefühlen. Das hohe Verantwortungsbewusstsein führte zu Parentifizierung und Übernahme von Partnerersatzfunktionen. Das Wissen über die psychische Erkrankung der Eltern war gering, Kontakte zu den Therapeuten fanden kaum statt. Bei schwacher Netzwerkorientierung dominierten defensiv-vermeidende Bewältigungsstrategien.

Ad 2: Es wurden 22 Mütter, die mit ihren Kindern stationär behandelt wurden verglichen mit einer Kontrollgruppe von 22 Müttern, die sich ohne ihre Kinder in Behandlung befanden. Zufriedenheit und momentanes Befinden der Patientinnen mit Kindern war statistisch signifikant besser als bei den Müttern der Kontrollgruppe. Die Patientinnen der Mutter-Kind-Gruppe litten weniger unter Schuldgefühlen und erleben weniger sozialen Druck aus ihrem familiären Umfeld. Die Entlastung des Mutter-Kind-Systems führte zu einer Stärkung der Mutter-Kind-Bindung.

Ad 3: Es wurden 29 Experten/innen aus den Bereichen Jugendhilfe und Erwachsenenpsychiatrie interviewt. Die Haltung gegenüber interinstitutioneller Kooperation war ambivalent. Sporadische Kooperationserfahrungen basierten auf persönlichen und fallbezogenen Initiativen  und bestärkten eher die von Vorurteilen und Unkenntnis geprägte Wahrnehmung der anderen Institution.

Entwicklungsperspektiven und Diskussion

Die vorliegende Studie bestätigt die bereits in anderen Forschungsprojekten ermittelten Erkenntnisse bezüglich der Lebenssituation der betroffenen Kinder und ihrer Familien. Ängste, Schuld- und Schamgefühle sowie Überforderung (Parentifizierung) der Kinder sind vor allem auf intra- und extrafamiliäre Kommunikationsverbote, Informationsdefizite, traumatisierende Trennungserfahrungen und soziale Isolierung zurückzuführen. In den Institutionen der Erwachsenenpsychiatrie und Jugendhilfe werden keine spezifischen, auf das gesamte Familiensystem ausgerichtete Hilfsangebote vorgehalten.

In den Mittelpunkt seiner konzeptionellen Überlegungen stellt der Autor die Informationsvermittlung und Aufklärung als übergreifendes Unterstützungsangebot. Er weist nach, dass selbst kleinere Kinder kompliziertere Informationsinhalte verstehen können, wenn diese emotional vorbereitet und kindgerecht vermittelt werden sowie einen praktischen Lebensbezug haben. Dies kann im Rahmen von Einzelkontakten und Familiengesprächen geschehen. Voraussetzung ist die vorherige Einwilligung beider Elternteile, um dem Kind entsprechende Loyalitätskonflikte zu ersparen.  Skeptisch äußert sich der Autor gegenüber der Informationsvermittlung im Gruppensetting. Während sich die meisten Kinder und Jugendlichen mehr Kontakte mit betroffenen Gleichaltrigen wünschen, haben sie doch erhebliche Vorbehalte, die von starken Emotionen begleiteten Informationen über die psychische Erkrankung im Peer-Rahmen zu erörtern.

Die meisten Kinder und Jugendlichen fühlen sich den elterlichen Verhaltensweisen und den darauf folgenden therapeutischen Konsequenzen hilflos ausgeliefert. Um den Kindern partizipative Erfahrungen zu ermöglichen und darüber ihre Selbstwirksamkeitserwartungen zu stärken, befürwortet der Autor ihre Einbeziehung in die Behandlung ihrer Eltern. Als Beispiele nennt er die Angehörigenvisite, Familiengespräche und regelmäßige Kontakte mit den Therapeuten.

Die soziale Isolierung der Familien wird durch Tabuisierung, Stigmatisierung und psychopathologisch auffälliges Verhalten des kranken Elternteils aufrechterhalten. Eine individuelle Netzwerkförderung muss diese Kommunikations- und Kontaktbarrieren berücksichtigen.  Der Autor kombiniert daher individuelle, therapeutisch inspirierte Interventionen mit unterschiedlichen Formen der Netzwerkkonstruktion.  Berücksichtigt werden dabei sowohl im Krisenfall Schutz bietende Kontakte im Erwachsenenbereich (z.B. Familienpatenschaften) als auch die Förderung sozialer Ressourcen im Peer-Kontext.

Forschungsergebnisse verweisen auf die positive Auswirkung einer stationären Mutter-Kind-Behandlung auf die Bindungsentwicklung des Kindes und die Gesundung der Mutter. Dies hätte jedoch tief greifende Veränderungen auf den betroffenen Stationen der psychiatrischen Kliniken zur Voraussetzungen. Der Autor beschreibt ausführlich die erforderlichen Rahmenbedingungen in den Bereichen Räumlichkeiten, Organisation und. personeller Qualifikation.  Dennoch bleiben die Ausführungen zu Bewertung und Beeinflussung der Mutter-Kind-Interaktion wenig konkret. Die potenzielle Gefährdung des Kindes durch eine Bindungs- und Kontaktstörung der Mutter muss noch stärker in den Fokus gerückt werden. Sonst droht gerade in der Allgemeinpsychiatrie die einseitige Wahrnehmung des Kindes als Ressource für die Genesung der Mutter.

Der Autor beschreibt die Fremdheit zwischen der Erwachsenenpsychiatrie als Teil des Gesundheitswesens und der Jugendhilfe als Teil des wohlfahrtstaatlichen Unterstützungssystems. Zum Aufbau einer wirksamen Kooperation sind Kenntnisse über Aufgaben, Organisations- und Ablaufstrukturen sowie Handlungslogiken des jeweils anderen Kooperationspartners notwendig. Gegenseitige Akzeptanz und Vertrauen erfordern ein Mindestmaß an personeller Kontinuität im Rahmen strukturell klar definierter Zuständigkeiten.

Zielgruppen

Das Buch wendet sich an Experten/innen der Erwachsenenpsychiatrie und Jugendhilfe, die sich trotz Arbeitsüberlastung und knapper werdender materieller Ressourcen ein Interesse an institutions- und zielgruppenübergreifenden Systemanalysen bewahrt haben und die interdisziplinäre Kooperation nicht als Einschränkung ihrer Autonomie sondern als Chance zur Verbesserung ihrer Arbeitsqualität verstehen.

Fazit

Der Autor versucht der Komplexität der Thematik "Kinder psychisch kranker Eltern" gerecht zu werden, indem er die Perspektiven der betroffenen Kinder, ihrer Eltern und der zuständigen Experten/innen aus der Erwachsenenpsychiatrie und Jugendhilfe gleichberechtigt nebeneinander stellt und diese dann in den Kontext neuerer Forschungsergebnisse stellt. Die daraus abzuleitende Multidimensionalität fokussiert sich auf die Ebenen von Individuum, Gesellschaft und Institutionen. Bei den Kindern und ihren Eltern sind Ängste, Scham- und Schuldgefühle, Kommunikationsverbote, symptombedingte Defizite und Vorbehalte gegenüber behördlichen Eingriffen zu berücksichtigen. Gesellschaftlich erschweren Tabuisierung und Stigmatisierung einen konstruktiven und vorurteilsfreien Zugang. Ein gegliedertes, auf Abgrenzung ausgerichtetes psychosoziales Versorgungssystem begünstigt einseitige Problemdefinitionen und verstärkt die desintegrativen Tendenzen in den betroffenen Familien.

Dem Autor gelingt es eindrucksvoll, den unter humanitären, präventiven und therapeutischen Gesichtspunkten bestehenden Hilfebedarf für die betroffenen Familien nachzuweisen. Gleichzeitig wird dadurch die große Kluft zwischen den vorliegenden Erkenntnissen und der aktuellen Realität der psychosozialen Versorgung veranschaulicht. Die dargestellten Lösungsvorschläge laufen auf nichts anderes hinaus als auf die Herausbildung einer Kultur der interinstitutionellen und interdisziplinären Kooperation, die einen umfassenden Mentalitäts- und Strukturwandel zur Voraussetzung hätte. Wie dies vor dem Hintergrund sozialstaatlicher Ressourcenverknappung zu bewerkstelligen wäre, vermag der Autor nur kursorisch anzudeuten. Abschließend bleibt zu hoffen, dass der in diesem Buch vorgelegten Problemanalyse möglichst bald Berichte über neue Initiativen und Projekte folgen, die den betroffenen Kindern und ihren Familien endlich die so lange vorenthaltenen Hilfen anbieten.

Rezension von
Susanna Staets
KIPKEL Präventionsprojekt für Kinder psychisch kranker Eltern
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Dr. med Michael Hipp
Arzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie
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Es gibt 1 Rezension von Susanna Staets.
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ISSN 2190-9245