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Steffen Theilemann: Harald Schultz-Hencke und die Freideutsche Jugend

Rezensiert von Prof. Dr. Dr. Hans-Peter Heekerens, 27.02.2019

Cover Steffen Theilemann: Harald Schultz-Hencke und die Freideutsche Jugend ISBN 978-3-8379-2802-0

Steffen Theilemann: Harald Schultz-Hencke und die Freideutsche Jugend. Biografie bis 1921 und die Geschichte einer Bewegung. Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG (Gießen) 2018. 450 Seiten. ISBN 978-3-8379-2802-0. D: 61,60 EUR, A: 61,60 EUR.
Reihe: Bibliothek der Psychoanalyse.

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Thema

Das vorliegende Buch verknüpft zwei Dinge: Die Biographie Harald Schultz-Henkes (1892 - 1953), bevor er 1922 seine psychoanalytische Ausbildung begann, und die Geschichte der der deutschen Jugendbewegung, zu der Harald Schultz-Hencke Anfang 1914, also noch vor Beginn des damals noch nicht absehbaren Ersten Weltkrieges stieß. Beides zusammen, also sowohl die Biographie Harald Schulz-Henckes als auch die Geschichte der deutschen Jugendbewegung dürften nur sehr wenige kennen. Das erste ist meist nur psychodynamischen Psychotherapeut(inn)en bekannt (wenn überhaupt noch), das zweite in der Regel lediglich (noch) einigen historisch interessierten (Sozial-)Pädagog(innen); Psychodynamiker(inne)n nur dann, wenn sie das (Steffen Theilemann offensichtlich nicht bekannte) Buch des Psychoanalytikers und Historikers Thomas A. Kohut (2017) „Eine deutsche Generation und ihre Suche nach Gemeinschaft“ gelesen haben. Angesichts dieses Sachverhalts scheint es sinnvoll, zur Horizonteröffnung, zu beiden Elementen, die hier zusammengeführt werden, etwas Näheres zu sagen.

Zur Jugendbewegung seien zunächst kennzeichnende Zitate aus drei Werken wiedergegeben, die das der hiesigen (Sozial-)Pädagogenschaft geläufige Bild zeichnen. Da ist zunächst einmal die – als „klassisch“ geltende Darstellung, wie sie Herman Nohl im ersten Band des „Handbuchs der Pädagogik“ (Nohl & Pallat, 1933) gegeben hat:

  • „Die Jugendbewegung als Selbstbewusstsein einer Generation und untrennbar davon ihr Verantwortlichsein gegenüber dem Ganzen des Volkes hatte [in den ersten zwei Jahrzehnten nach der Reichsgründung 1871] noch nicht begonnen… Das geschah erst mit dem Wandervogel [1896].“ (S. 309)
  • „Als 1913 sich die Jugendgruppen verschiedener Art auf dem Hohen Meißner bei Göttingen trafen, um das Fest der Befreiung vom fremden Joch zu feiern, in bewusstem Gegensatz zu den Feiern der älteren Generation, da war der erste Höhepunkt der Entwicklung erreicht: die junge Generation fühlte sich bewusst als in einer Bewegung, deren letzter Sinn war: ‚aus eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortung, mit innerer Wahrhaftigkeit ihr Leben zu gestalten‘. (‚Meißnerformel‘, die unter dem starken Einfluss Gustav Wynekens zustande kam, der wie kein anderer damals von der älteren Generation bei dem Bewußtwerden der Bewegung und der geistigen Problematisierung ihres romantischen Anfangs mitgeholfen hat.) Mit vollem Bewusstsein wird jedes Programm abgelehnt, die Übernahme bestimmter Aufgaben ebenso wie jede Organisation. Man will eine ‚freie Bewegung sein, zu der man nur tatsächlich aber nicht rechtlich gehören kann‘. Bei allem Gegensätzlichem im einzelnen war man doch im Entscheidenden einig, in einem neuen Daseinsgefühl, das man nicht auf Begriffe bringen konnte, sondern spüren musste, von dem aus man aber zu allem, was einem begegnete, ja oder nein sagen konnte. Wenn man es zu zergliedern versucht, so enthielt es vor allem dreierlei: die Erkenntnis von der Eigenbedeutung des Jungseins, das nicht bloß Vorbereitung ist und Gegenstand der Erziehung für andere, die Blickrichtung auf Gegenwart und Zukunft statt auf die Vergangenheit, auf schöpferisches Werden statt auf Tradition, und zu innerst einen neuen Glauben an die Natur des Menschen, seinen Trieb und seine Körperlichkeit. Niemand, der jene neue ‚freideutsche‘ Jugend gekannt hat, in der sich nun die erste Jugendbewegung zusammenschloß, wird ohne tiefen Schmerz an sie denken; die meisten sind im [Ersten Welt-]Krieg gefallen. …
  • Mit diesem Krieg erschein eine neue Stufe der Bewegung, die ‚zweite Jugendbewegung‘. Die Erfahrung vom August 1914 erschien alle ihre Gedanken wahr zu machen, die Liebeseinheit eines ganzen Volkes, und sie gab das große Ziel, das der Jugend erlaubte sich auszuwirken. So trat sie in das männliche Alter ein, und aus einer Jugendbewegung, die zunächst nur der Jugend ein gemäßes Leben schaffen wollte, wurde eine Lebensbewegung, die das kulturelle Leben überhaupt umgestalten will. Hatte sie zunächst vor allem an sich selbst gedacht, so vollzog sich jetzt die Wendung zum Dienst an der Gemeinschaft und zum Gefühl der Verantwortlichkeit gegenüber der Zukunft unseres Volkes. Es handelte sich darum, den Gehalt der romantischen Jugenderfahrung, metaphysisch gesteigert durch die Erfahrung des Krieges, im Ganzen unseres Volkes zu realisieren und dem Ideal der Einheit von Wesen und Erscheinung (Nietzsche) zur Wirklichkeit zu helfen. So mündete die Jugendbewegung ein in den großen gemeinschaftlichen Strom des idealen Willens, der in unserm Volk lebendig war, und alle reformatorischen und revolutionären Bewegungen der Zeit fanden eine Resonanz in ihr, wie umgekehrt ein Feuer von ihr auf alle diese Bewegungen übersprang.“ (S. 311)

Dieses hier angesprochene „Reformatorische“ und „Revolutionäre“ hatte – man denke nur an die „nationalsozialistische Revolution“ – nun aber gar nichts zu tun mit im politischen Sinne „links“ oder gar „ultralinks“. Ganz im Gegenteil: „Die Mehrheit der Mitglieder [von Vereinigungen der deutschen Jugendbewegung] wollte einer gleichgesinnten und mehr oder weniger homogenen Gruppe angehören, in der Außenseiter nicht eigentlich erwünscht waren. Ihr gesellschaftliches Bewusstsein war nicht hoch entwickelt, und der Gedanke, ‚unters Volk zu gehen‘, der eine ganze Generation russischer Studenten so angesprochen hatte, wäre ihnen irgendwie lächerlich und ganz unrealistisch vorgekommen. Missionstätigkeit in den unteren Gesellschaftsschichten blieb das Monopol religiöser und politischer Organisationen.“ (Laqueur, 1962, S. 25)

Der gesellschaftspolitische Konservatismus rührte auch von der sozio-ökonomischen Herkunft der meisten in der deutschen Jugendbewegung her: „Diese Mehrheit rekrutierte sich nicht aus der Arbeiterjugend und nicht aus der Jugend von Aristokratie, Offizierskorps und erfolgreichem Unternehmertum. Sie bestand vielmehr aus Kindern der mittleren Ränge von Funktionsbürgern, also Beamten, Lehrern, Pfarrern, Selbständigen.“ (Müller, 1982, S. 160)

Wer aber, um zum zweiten „Element“ des vorliegenden Buches zu kommen, wer war Harald Schultz-Hencke? Man wünschte sich, nicht nur im vorliegenden Fall, man könnte auf eine „einschlägige“ Monographie verweisen, die nach allgemeiner Ansicht „den Forschungsstand“ wiedergäbe. Gibt es nicht. Stattdessen viele kleine Darstellungen, die, in ihrer Gesamtheit betrachtet, den Eindruck vermitteln: von der Parteien Hass und Gunst verzerrt, schwankt sein Charakterbild in der Geschichte. Ich will davon hier nur einen kleinen Einblick geben.

Auf dem ersten internationalen psychoanalytischen Kongress nach Ende des Zweiten Weltkriegs, 1949 in Zürich, kam es unter den Vertretern aus (West-)Deutschland zu einer Kontroverse zwischen der Gruppe um Harald Schultz-Hencke („Neo-Analytiker“) und jener um Hans Müller-Braunschweig („Freudianer“); beide Männer waren während des Nazi-Regimes Mitglied des „Deutschen Institutes für psychologische Forschung und Psychotherapie“ („Göring-Institut“) gewesen. Die Folge jener öffentlichen Kontroverse:

„Die Internationale Psychoanalytische Vereinigung, deren überwiegender Teil unmittelbar oder mittelbar unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft gelitten hatte, mußte sich nun mit zwei überaus brisanten Fragen auseinandersetzen:

  1. inwieweit die Vertreter der Psychoanalyse durch den Nationalsozialismus korrumpiert worden waren;
  2. ob Schultz-Henckes Position noch als Psychoanalyse gelten konnte.

In der öffentlichen Diskussion gelang es nicht, beide Fragen klar voneinander zu unterscheiden. Unversehens wurde Schultz-Hencke mit dem Nationalsozialismus identifiziert. Während sich an der Position [Felix] Boehms [zur Schultz-Hencke-Gruppe gehörig] wohl die Kritik an der Haltung der deutschen Psychoanalytiker festmachte, galt der Theorie Schultz-Henckes die ideologische ‚Abrechnung‘ mit den ‚Kollaborateuren‘; denn die Diskussion spitzte sich soweit zu, daß deutlich wurde, daß die gesamte deutsche Gruppe nur dann in die IPV [Internationale Psychoanalytische Vereinigung] aufgenommen würde, wenn Schultz-Hencke ausgeschlossen würde. Da Schultz-Hencke nicht zum Austritt bereit war, gründete Müller-Braunschweig [1950] mit einer kleinen Gruppe von Psychoanalytikern die Deutsche Psychoanalytische Vereinigung (DPV) und trat aus der DPG [Deutsche Psychoanalytische Gesellschaft seit 1950, bis dahin seit 1945 Berliner Psychoanalytische Gesellschaft] aus. Der größere Teil blieb bei Schultz-Hencke.“ (Lockot, 185, S. 133)

Die DPV wurde 1951 in die IPV aufgenommen, die DPG erst 2001; beide sind Mitglieder der Deutschen Gesellschaft für Psychoanalyse, Psychotherapie, Psychosomatik und Tiefenpsychologie (DGPT; Kurzdarstellung bei Lockot, o.J.). Beide Verbände reden schon seit Langem wieder miteinander; sie veranstalten zwischenzeitlich auch gemeinsame Kongresse.

Inzwischen hat sich auch der Sturm gelegt, den Harald Schultz-Hencke mit seinen Neuerungen gegenüber der traditionellen Lehre (vgl. dazu Rudolf & Rüger, 1988) früher hervorgerufen hat. Das hat wohl mit Zweierlei zu tun. Zum einen damit, dass die Überlegungen zu Theorie und Praxis des Freudschen Ansatzes selbst solcher Menschen, die dafür vordem aus der psychoanalytischen Gemeinde exkommuniziert worden waren, heute in der Psychodynamik gewürdigt werden; ich denke da auch und im Besonderen an Sándor Ferenczi und Otto Rank. Zum zweiten ist es wohl so, dass Vieles der Schultz-Henckeschen Neuerungen heute selbst in der DPG nur noch eine nebensächliche Rolle spielt.

Ich selbst habe mich ab 1976 als Mitarbeiter an einer Erziehungsberatungsstelle bei Heidelberg, die dann 1979 ganz auf die Familientherapie Helm Stierlins einschwenkte, noch mit Harald Schultz-Henckes „Der gehemmte Mensch“ beschäftigen können bzw. müssen. Das Buch war erstmals 1940 bei Thieme in Leipzig unter dem Zusatztitel „Grundlagen einer Desmologie als Beitrag zur Tiefenpsychologie“ erschienen. Mein Exemplar des Buches, 3. Auflage von 1973, trug den seit 1947 üblichen Titelzusatz „Entwurf eines Lehrbuchs der Neo-Psychoanalyse“. An diesem orientiert und unter Supervision einer in Heidelberg ausgebildeten Psychagogin, bemühte ich mich dann bei meinem diagnostischen Tun zu klären, welches „Antriebserleben“ bei diesem Kind oder jenem/jener Jugendlichen vorliegt. Dass in der während der 1960er erfolgten Heidelberger Ausbildung jener Psychagogin dieses Buch eine Rolle spielte, verwundert nicht. Eine der wesentlichen Anstöße zur Ausbildung von Psychagoginnen (vgl. dazu Heekerens, 2016), wenn nicht der entscheidende, kam bereits 1949 von dem oben erwähnten Felix Boehm der Schultz-Hencke-Gruppe.

Autor

Steffen Theilemann, promovierter Diplom-Psychologe arbeitet als Psychologischer Psychotherapeut in eigener Praxis in Potsdam. Er ist Psychoanalytiker (DPG, wie sich versteht) und Balintgruppen-Leiter. Seit vielen Jahren, so die Verlagsangaben, forscht er zu Harald Schultz-Hencke und – damit verknüpft – zur Geschichte der deutschen Jugendbewegung. Nur war von ihm vor diesem Buch nichts von den Resultaten seiner Beschäftigung zu lesen (im Literaturverzeichnis findet sich sein eigener Name nicht). Ab und an scheint er sich in der angesprochenen Sache zu äußern. So findet sich etwa bei Andreas Peglau (2015, S. 615) die Notiz, Steffen Theilemann habe in Berlin auf dem 23. Symposion zur Geschichte der Psychoanalyse im Februar einen Vortrag gehalten mit dem Titel „Harald Schultz-Hencke und seine Lektüre der Jahre 1938 bis 1943“. Das interessiert auch mich.

Steffen Theilemann verfügt über einen besonderen Schatz, von dem man aber eher beiläufig (auf. S. 21 Anm. 24) erfährt: In seinem Archiv befinden sich offensichtlich Tagebuchaufzeichnungen von Harald Schultz-Hencke im Original. Ob diese ganz oder teilweise identisch sind mit jenen im Koblenzer Bundesarchiv lagernden und, Differenz vorausgesetzt, welchen Datums die einen und die anderen sind, ist den Angaben nicht zu entnehmen. Ebenfalls nicht, ob nur bei Steffen Theilemann lagernde Tagebuchaufzeichnungen anderen Forscher(inne)n zugänglich gemacht werden können. Die Tagebuchaufzeichnungen aus beiden Quellen werden im Buchtext ohne differenzierenden Quellennachweis unterschiedslos mit „TB“ und dem jeweiligen Abfassungsdatum aufgeführt.

Aufbau und Inhalt

Das Buch kommt ohne Einleitung und/oder Vorwort gleich mit dem 1. Kapitel (auf S. 9) zur Sache; die letzte Seite des abschließenden 5. (Sachkapitels) trägt die Seitenzahl 402. Knapp 400 Seiten (Sach-)Text, an den sich ein Literatur- und Abkürzungsverzeichnis, ein Personenregister und 13 Schwarz-Weiß-Abbildungen anschließen. Die Deutsche Nationalbibliothek bietet Einblick in das vollständige Inhaltsverzeichnis.

Im 1. Kapitel Die Vorfahren (S. 9-22), wird die Herkunftsfamilie, getrennt nach der väterlichen und der mütterlichen Seite, von den Groß- bis zu den Urgroßeltern ausgeleuchtet. Von der (Eltern-)Familie, wohnhaft in Berlin-Schöneberg und in gesicherten bürgerlichen Verhältnissen lebend, deren Freundeskreis und Haralds Schulzeit – zuletzt am reformpädagogischen Wilmersdorfer Reformrealgymnasium erfahren wir in Kindheit und Jugend (Kap. 2, S. 23-35). Eines trübt das Glück der Familie und ihrer drei Kinder (neben Harald die jüngere Schwester und ein noch jüngerer Bruder): Ende Februar 1904, Harald ist da elfeinhalb Jahre alt, stirbt die Mutter (an einer Krankheit oder einer damit zusammenhängenden missglückten Operation). Der Vater heiratet wieder (eine um 15 Jahre jüngere Frau) und aus dieser zweiten Ehe bekommt Harald eine Halbschwester. Die Stiefmutter erlebt er als weitaus weniger mütterlich als die leibliche; der Vater bleibt, was er schon zuvor war: eher Furcht einflößend.

Das 3. Kapitel führt uns zu HaraldSchultz-Henckes Studium in Freiburg i. Br. ab Frühsommer 1911 (S. 37-64). „Studien“ müsste man präzisierend sagen, denn neben dem Medizinstudium interessiert er sich – selbstverständlich! möchte man mit Blick auf damals sagen – auch für Anderes: für Philosophie (Edmund Husserl etwa) und Psychoanalyse (Sigmund Freud und dem heute weitgehend vergessenen Johann Jaroslaw Marcinowski; die beiden Mitglieder der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung korrespondierten miteinander). Der Freiburger Student lernt auch die „Freiburger Freistudentenschaft“ kennen und damit reformpädagogische Ideen (v.a. von, William Stern, Gustav Wyneken und Siegfried Bernfeld; die beiden letztgenannten waren damals gut befreundet).

Die idyllischen Freiburger Jahre finden im August 1914 ihr jähes Ende. Ab dann ist Deutschland und mit ihm unserer Protagonist im Ersten Weltkrieg (Kap. 4, S. 65-82). Im Herbst 1913 hatte Harald Schultz-Hencke die ärztliche Vorprüfung bestanden und bei Kriegsausbruch mit Abschluss des 7. Semesters rund 80 Prozent des Medizinstudiums absolviert. Ab WS 14/15 ist ihm die Fortsetzung seines Studiums nur teilweise bzw. gar nicht mehr möglich; er ist im Lazarettdienst tätig. Mit Abschluss des Medizinstudiums im Juni 1917 wird er zum Assistenzarzt der Reserve ernannt. Zu Kriegsende hin schreibt er erste Abhandlungen, die man „psychologischer Natur“ nennen kann.

Den größten Raum des Buches nimmt mit mehr als 400 Seiten das 5. Kapitel ein: Die Zeit in der Freideutschen Jugend (S. 83-402) in den Jahren 1914–1922 (ohne den Abschnitt „Nachwirkungen“). Kamen die früheren Kapitel mit zwei bis drei Abschnitten aus, so sind es jetzt 22. Unter diesen Umständen scheint mir die einzig sinnvolle Möglichkeit, Aufbau und Inhalt gleichermaßen und auf engem Raum darzustellen, der zu sein, ein fein gegliedertes Inhaltsverzeichnis wiederzugeben:

  1. Einführendes
  2. Der Weg in die Freideutsche Jugend
  3. Schultz-Hencke und Gustav Wyneken
    • Das Werk Gustav Wynekens
    • Harald Schultz-Henckes Positionen
    • Vergleich der Ideen
    • Die persönliche Beziehung
  4. „Freideutsche Jugend und religiöse Entwicklung“
  5. Zur Geschlechterfrage
    • Aufsätze
    • Alfred Kurella und Margret Hahlo
  6. Privatleben: Teil 1
    • Freiburg im Breisgau
    • Freunde in der Freideutschen Jugend
    • Karlsruhe (Karl und Mia Bittel, Hans und Hilde Kampffmeyer, Schwester Martha und die „Kinder“, Martha Ida Paul-Hasselblatt)
  7. Im Führungszirkel der Freideutschen Jugend<
    • Erste Freideutsche Woche, Verfassungsausschuss und Führeraussprache in Nürnberg
    • Ordensidee
    • Angebote zur Geschäftsführung des Verbandes Freideutsche Jugend
    • Schriftleiter der Zeitschrift Freideutsche Jugend
    • Auf kleineren Tagungen von Wandervögeln und Freideutschen
  8. Die Auseinandersetzungen mit völkischen Standpunkten und mit dem Jungdeutschen Bund
  9. Ausgangslage
  10. Der Standpunkt Harald Schultz-Henckes
  11. Freideutsche Jugend und Jungdeutscher Bund (Kampf zwischen Sozialisten und Völkischen sowie um die Führung der freideutschen Bewegung)
  12. November 1918 bis Anfang Januar 1919
    • Politische Positionen
    • Versuch einer Neuordnung der freideutschen Bewegung
    • Privatleben: Teil 2
  13. Freie Volkshochschule Marloffstein (bei Erlangen): Teil 1
    • Planungen und Konzept
    • Zwischenspiele in Karlsruhe und Freiburg im Breisgau
    • Max Bondy
  14. Die Jenaer Tagung (11. bis 19. April 1919)
    • Einleitendes
    • Freideutsche Jugend und Politik
    • Die Auseinandersetzung mit Friedrich Vorwerk
    • Die Vorstellung der Freien Volkshochschule Marloffstein
    • Entscheidungen zur Organisationsstruktur der Freideutschen Jugend
    • Knud Ahlborn und Harald Schultz-Hencke als Führungsfiguren
    • Geselligkeiten
  15. Im Vorfeld von Politik
    • Die Heppenheimer Tagung (11. bis 14. Juni 1919)
    • Zwei Berliner Vorträge und ein Selbstbekenntnis
    • Freie Volkshochschule Marloffstein: Teil 2 (Leben in Spardorf, südlich von Marloffstein, mit Max Bondy, Fluchtgedanken)
  16. Im Feld der Politik
    • An der Reichzentrale für Heimatdienst (RfH)
    • Die „Politische Jugend“ und „Die Überwindung der Parteien durch die Jugend“
  17. Freie Volkshochschule Marloffstein: Teil 3
    • Finanzierung
    • Vortragsreise: „Ein Weg zur Überwindung des Materialismus – Freie Volkshochschulen“
  18. Entscheidungen (berufliche, 1919/1920)
  19. Privatleben: Teil 3
    • Partnerschaft und Sexualität in der Freideutschen Jugend
    • Partnerschaft und Sexualität Harald Schultz-Henckes
    • Gertrud Bondy und Martha Hasselblatt
  20. Begegnungen mit Walther Rathenau
  21. Das Jahr 1920
    • Politische Schriften
    • Der Kampf um die Zeitschrift „Freideutsche Jugend“
    • Die Tagung in Hofgeismar (26. September bis 2. Oktober 1920; Vorfeld, Tagungsereignisse, Fazit und Nachhall)
    • Der (Neue) Sinntalhof (bei Bad Brückenau) als „geistiges Zentrum“
  22. Das Ende der Freideutschen Jugend
  23. „Das Wollen der neuen Jugend. Eine Auseinandersetzung mit den Grundfragen der Zeit“
  24. Neuausrichtungen (1921/1922)
    • Zuwendung zum Arztberuf und zur Psychoanalyse
    • Private Entwicklungen
  25. Nachwirkungen (ab 1923)

Diskussion

Man merkt dem Buch von Anfang bis Ende Dreierlerlei an:

  1. Es ist getragen von einer tiefen Sympathie des Autors für den Hauptakteur,
  2. es zeugt von profundem Quellenwissen bis ins Detail und einer gediegenen Allgmeinbildung – und
  3. es stammt aus der Feder eines Psychoanalytikers.

Der Autor ist kein Fachhistoriker und er ist affektiv nahe dran an seinem Protagonisten. Ob das eine oder andere seine Sicht getrübt habe, vermag ich nicht zu beurteilen. Tatsache ist: Viele, wenn nicht die meisten monographischen Abhandlungen zu frühen Vertretern der psychodynamischen Bewegungen stammen von Autor(inn)en, die keine Fachhistoriker(innen) sind und eine Sympathie für die von ihnen Porträtierten nicht verhehlen.

Im das Buch schließenden Abschnitt Nachwirkungen (S. 398-402) resümiert der Autor: „Aus seiner Zeit in der Freideutschen Jugend und der Jugendbewegung bleibt Schultz-Hencke zumindest zweierlei erhalten – und das lebenslang: eine innere Zuneigung den Idealen seiner jugendbewegten Zeit gegenüber und eine persönliche gegenüber Max und Gertrud Bondy.“ (S. 399)

In einem Brief an Knud Ahlborn, verfasst gute drei Wochen vor seinem Tod, bringt Harald Schultz-Hencke zum Ausdruck, was seine Zeit bei der Freideutschen Jugend für sein psychotherapeutisches Denken bedeutet: „Ich meine wirklich sagen zu können, dass ich ohne die Gefühlshaltung, die in der Freideutschen Bewegung so lebendig war, mit Sicherheit nicht in die Lage gekommen wäre, das Problem der Schizophrenie in der besonderen theoretischen und praktischen Weise zu fördern, wie ich es getan zu haben vermeinte [vgl. Schultz-Hencke, 1952]. Dahin also hat sich in mir der Geist der Jugendbewegung erstreckt, so hat er sich in meinem persönlichen Leben und in meinem Werk, wie man das meistens nennt, auskristallisiert.“ (zitiert nach dem Text auf S. 402)

Das ist der Wunsch, den man nach Lektüre des vorliegenden Buches verspürt: eine monographische Abhandlung von Leben und Werk des Harald Schultz-Hencke, die uns ihn und seine Arbeit verständlich macht auf dem Hintergrund seiner biographischen Erfahrungen auch vor 1922. Eine solche Biographie könnte uns Harald Schultz-Hencke in seiner Besonderheit nahebringen und zugleich aufzeigen, dass und weshalb er – aber das ist die Meinung eines Außenstehenden – zu den Pionieren der modernen psychodynamischen Theorie und Praxis gehört. Wer anderer könnte eine solche Arbeit leisten als der Autor des vorliegenden Buches?

Fazit

Wem kann man das Buch zur Lektüre empfehlen? Einmal denen, die an Harald Schultz-Henke interessiert sind; über dessen Geschichte vor dem Kontakt mit der Psychoanalyse (1922) wussten wir bislang nämlich recht wenig. Zum anderen allen an der Geschichte der deutschen Jugendbewegung Interessierten; welche Rolle Harald Schultz-Henke dort spielte ist selbst denen, die sich darin auszukennen glauben, weitgehend unbekannt. Schließlich all jenen, die sich fragen, welche Verbindungen zwischen der Jugendbewegung und der jungen psychoanalytischen Bewegung in Deutschland und dem deutschsprachigen Raum bestanden. Von später als Psychoanalytiker zu Namen Gelangten, die in jungen Jahren in der Jugendbewegung aktiv waren, kannte man gemeinhin bisher nur einen: Siegfried Bernfeld (1892 - 1953); jetzt tritt mit Harald Schultz-Hencke (1892 - 1953) ein zweiter dazu.

Es ist eine bislang von niemandem angenommene Herausforderung Leben und Werk dieser beiden vergleichend in den Blick zu nehmen. Sie sind, obschon der eine aus Lemberg/Galizien (heute Lwiw/Ukraine), der andere aus Berlin stammt, hineingeboren in den gleichen Kulturkreis und sie gehören derselben („tragischen“) Generation (der meiner Großeltern) an. Nur ist ab 1933 der eine „Jude“ und der andere ein „Arier“.

Literatur

  • Heekerens, H.-P. (2016). Kinder- und JugendlichenpsychotherapeutInnen – ein berufsgeschichtlicher Abriss. In H.-P. Heekerens, Psychotherapie und Soziale Arbeit (S. 117-142). Weitramsdorf: ZKS-Verlag (online verfügbar unter; letzter Zugriff am 14.1.2019).
  • Kohut, Th.A. (2017). Eine deutsche Generation und ihre Suche nach Gemeinschaft. Gießen: Psychosozial-Verlag (Original: A German Generation: An Experiential History of the Twentieth Century. New Haven – London: Yale University Press, 2012).
  • Laqueur, W.Z. (1962). Die Deutsche Jugendbewegung. Eine historische Studie.
  • Köln: Verlag Wissenschaft und Politik (zeitgleich die englischsprachige Fassung: Young Germany: A History of German Youth Movement. New York: Basis, 1962).
  • Lockot, R. (1985). Erinnern und Durcharbeiten. Zur Geschichte der Psychoanalyse und Psychotherapie im Nationalsozialismus. Frankfurt am Main Fischer-Taschenbuch-Verlag (Neuauflage im Psychosozial-Verlag, 2002).
  • Lockot, R. (o.J.). Chronik zur Geschichte der Psychotherapie und zur Psychoanalyse von 1918 bis 1975 (online verfügbar unter www.dgpt.de; letzter Zugriff am 14.1.2019).
  • Müller, C.W. (1982). Wie Helfen zum Beruf wurde. Eine Methodengeschichte der Sozialarbeit. Bd. 1: 1883–1945. Weinheim – Basel: Beltz.
  • Nohl, H. & L. Pallat, L. (Hrsg.) (1933). Handbuch der Pädagogik Bd. 1: Die Theorie und Entwicklung des Bildungswesens. Beltz: Langensalza (zitiert nach der Faksimileausgabe von Beltz in Weinheim, 1966).
  • Peglau, A. (2015). Unpolitische Wissenschaft? Wilhelm Reich und die Psychoanalyse im Nationalsozialismus (2. Aufl.). Gießen: Psychosozial-Verlag (socialnet Rezension online verfügbar unter www.socialnet.de/rezensionen/18421.php).
  • Rudolf, G. & und Ulrich Rüger, Z. (Hrsg.) (1988). Die Psychoanalyse Schultz-Henckes. Stuttgart – New York: Thieme.
  • Schultz-Hencke, H. (1952). Das Problem der Schizophrenie. Analytische Psychotherapie und Psychose. Stuttgart: Thieme.

Rezension von
Prof. Dr. Dr. Hans-Peter Heekerens
Hochschullehrer i.R. für Sozialarbeit/Sozialpädagogik und Pädagogik an der Hochschule München
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Es gibt 184 Rezensionen von Hans-Peter Heekerens.

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ISSN 2190-9245