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Stefan Luft: Die Flüchtlingskrise

Rezensiert von Michael Bertram-Maikath, 11.12.2018

Cover Stefan Luft: Die Flüchtlingskrise ISBN 978-3-406-69072-3

Stefan Luft: Die Flüchtlingskrise. Ursachen, Konflikte, Folgen. Verlag C.H. Beck (München) 2016. 2., durchgessehene und aktualisierte Auflage. 128 Seiten. ISBN 978-3-406-69072-3. 8,95 EUR.
Reihe: C.H. Beck Wissen - 2857.

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Thema

Flucht, Migration, Zuwanderung usw. sind Schlagworte, die spätestens seit 2015 den öffentlichen Diskurs hierzulande dominieren. Diese Überrepräsentation kann kaum mit den faktischen Geschehnissen erklärt werden, da sich das Thema und die Fokussierung auf Schwerpunkte innerhalb dieses Themenkomplexes unverändert in den Medien hält, unabhängig davon, wie viele Geflüchtete Europa und Deutschland (mit Bleibeperspektive) erreichen. Eher deutet sich an, dass Flucht/Migration (was oft fälschlicherweise gleichgesetzt wird) die populistischen Ventile sind und mit zahlreichen Politikfeldern (Wirtschaft, Sicherheit, Kultur, Bildung usw.) vermengt werden, um diffuse Unzufriedenheiten (die sich auch an der z.T. vehementen Ablehnung des politischen Establishment und der „Systemmedien“ zeigen) an komplexen Themen vorbei zu kanalisieren, zu emotionalisieren und so zu instrumentalisieren. Flucht erscheint so als simplifizierendes Brennglas in einer hochkomplexen und für die Subjekte oft unübersichtlichen Welt. Wissenschaft kann und sollte hier differenzierend, nüchtern und zugleich praxisorientiert wirken, weswegen eine verstärkte Zuwendung verschiedener Wissenschaften zum Themenkomplex Flucht, in die sich die vorliegende Publikation einreiht, grundsätzlich zu begrüßen ist.

Autor

Stefan Luft studierte Geschichte und Politische Wissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München, wo er 1992 auch promovierte. Im Jahr 2008 wurde sein Habilitationsverfahren an der Universität Bremen abgeschlossen. Ebenda war bzw. ist Luft seit 2004 als wissenschaftlicher Mitarbeiter, seit 2008 als Privatdozent tätig. Er publiziert seit Jahren zu den Themen Flucht und Migration und ist dabei neben wissenschaftlichen Veröffentlichungen auch durch Beiträge in Zeitungen und Beteiligungen im Rundfunk im öffentlichen Diskurs präsent. Außerdem war er in verschiedenen Funktionen (beratend oder als Sprecher) in der politischen Praxis aktiv.

Aufbau und Inhalt

Luft gliedert seine Arbeit in vier Kapitel, die durch ein Vorwort und einen Ausblick ergänzt werden:

Im ersten Kapitel (8–43) unternimmt der Autor den Versuch die komplexe Situation im Themenfeld in Grundzügen zu umreißen. Der Fokus, den der Band wählt (v.a. Flucht nach Europa und Deutschland), wird hier durch eine weiter gefasste Erörterung der Abstoßungs- und Anziehungsfaktoren im Generellen ergänzt, sodass die Beschreibung der Situation in den typischen Herkunftsstaaten (hier: Syrien, Afghanistan, Irak, afrikanische Staaten, die Ukraine und die Westbalkan-Staaten) und die Motive für die Flucht und die Auswahl eines Zielstaates kontextualisiert werden. Zusätzlich findet, nebst einer Behandlung typischer Fluchtrouten und den vielfältigen Arbeitsweisen von sog. Schleuserorganisationen, eine quantitative Einordnung in Bezug auf globale Bewegungen statt.

Das zweite Kapitel (44–82) beleuchtet die Migrationspolitik der Europäischen Union. Dabei wird der Prozess der Europäisierung der Migrationspolitik entlang der dafür konstitutiven Abkommen nachgezeichnet und wesentliche Strategien der EU und deren Funktionsweisen skizziert. Eine wesentliche Rolle nimmt dabei das, wie Luft diagnostiziert, gescheiterte Dublin-Verfahren ein: Dieses (Scheitern) trägt dazu bei, die Situation weiter anzuspannen: wirtschaftlich erfolgreichere Länder – die zudem häufig durch Kolonialgeschichte oder Gastarbeiter-Politik Erfahrungen mit Zuwanderung haben und u.a. aufgrund dessen für Migrant*innen und/oder Flüchtende als Zielländer attraktiv sind – werden systematisch aus der Lastenteilung herausgenommen, sodass Länder der Peripherie stärker beansprucht werden (würden). Anders formuliert: Staaten, deren Bevölkerung in Teilen mindestens Skeptisch gegenüber Zuwanderung ist, sollen verantwortlich sein für das Verfahren und den Schutz von Menschen, die oft skeptisch gegenüber diesen Staaten sind – ein Zustand, der, wie Luft zeigen kann, historisch verständlich ist und durch ‚Dublin’ zementiert wird.

Merkel muss weg!“ – dies wird gerne skandiert, wenn es darum geht, die vermeintliche Zügellosigkeit der Asyl- und Migrationspolitik zu beenden. Und richtig ist, dass Angela Merkel in diesem Zusammenhang richtungsweisende Entscheidungen getroffen hat; zugleich vergisst diese Personifizierung, dass „l’état c’est moi“ alles andere als konstitutiv für das politische System der BRD ist. Im Gegenteil: Die nationale Politik verläuft entsprechend des Föderalismus auf verschiedenen Ebenen, die durch das Eingebunden-Sein in die supranationale Organisation der EU überformt und so in einen Zusammenhang mit vielfältigen anderen nationalen Interessen gebracht werden. Aber nicht nur die Strukturierung des Staates, auch zivilgesellschaftliche Akteure (Wohlfahrtsverbände, Kirchen, Flüchtlingsinitiativen, Migrant*innenorganisationen, Gewerkschaften, Wirtschaftsverbände) und Medien nehmen Einfluss auf politische Entscheidungen und Prozesse; und letztendlich ist ‚der’ Staat und seine Handlungen das Ergebnis der Funktionsweisen der geteilten Gewalten und ihres Verhältnisses zueinander, womit auch konkrete Vollzugsdefizite nachvollziehbar werden. Kurzum: Politische Steuerung ist ein komplexer, vielschichtiger, z.T. widersprüchlicher, historisch vorgeprägter Prozess, in den Akteurs-, d.h. Interessenkonstellationen, eingebunden in mehr oder minder fluide Machtverhältnisse, involviert sind und auf ihn wirken. Wie sich dies im hier interessierenden Politikfeld konkret gestaltet, was die rechtlichen Grundlagen sind, wie Verfahren typischerweise ablaufen und welche Möglichkeiten und Grenzen es dabei gibt, wird im dritten Kapitel (83–104) diskutiert.

Bedingungen gelingender Integration werden im vierten Kapitel (104–115) thematisiert. Luft plädiert für Realismus, was für Ihn konkret bedeutet: „eine Herangehensweise …, die sich jenseits von Multikulturalismus auf der einen und kulturpessimistischen Untergangsängsten auf der anderen Seite positioniert“ (104). Verständnis um die Mechanismen und Prozessmerkmale von Integration sind dabei die Grundlage dafür, Integration „als Herausforderung, die zur Vergewisserung und Überprüfung des eignen Normengerüst in Deutschland dienen kann“ (ebd. f.) zu begreifen. Konkret bestimmt der Autor als relevante Faktoren: die Religion, den bildungsbiographischen Hintergrund (der Eltern), die Struktur bzw. die Situation des Bildungssystems und Arbeitsmarktes, Kettenzuwanderung, die Bildung ethnischer Kolonien, die Wohnungspolitik, Gelegenheitsstrukturen zur Partizipation an der Alltagskultur, um mit daraus hervorgehenden Herausforderungen, Grenzen, Möglichkeiten und Notwendigkeiten staatlichen Handelns zu schließen.

Geschlossen wir der Band mit einer Projektion: Wie sehen mögliche Perspektiven (116–121) aus? Wenngleich festgestellt wird, dass „Deutschland … auch in Zukunft Wanderungsmagnet bleiben“ (120) wird, ist das Feld zu komplex, um Szenarien eindeutig zu antizipieren: Fluchtgründe verändern sich und die Interessen- und Machtkonstellationen der potenziellen Aufnahmestaaten sind komplex und entscheiden maßgeblich über die Folgen von Flucht. Solidarität und faire, konsensbasierte Lastenteilung innerhalb der EU sind nicht in Sicht, der Druck rechter Parteien und Bewegungen steigt, während Menschen auf dem Weg nach Europa sterben, ohne dass eine legale Einreise unter den gegeben Bedingungen (sinnvoll) in Sicht wäre. Auch die Unterstützung der Staaten, die große Zahlen von Geflüchteten aufnehmen kann noch weiter ausgebaut werden, wohingegen strategisch und/oder ökonomisch motivierte Kooperationen mit Konfliktparteien und das Eingreifen in Konflikte, deren Verlauf offen ist, eher dazu beitragen werden, Menschen dazu zu veranlassen, ihre Heimat zu verlassen.

Diskussion

Wünschenswert wäre eine historische Skizze der Wanderungsaktivitäten der Menschheit, da sich aus einer solchen unumgänglich ableiten lässt, dass geographische Bewegung eine anthropologische Konstante ist: Auch nach der Neolithischen Revolution sind Menschen nie (lokal) Sesshaft geblieben – und damals wie heute ging es, pointiert formuliert, immer darum den Ist-Zustand gegen die Option auf ein besseres Leben oder überhaupt das Überleben einzutauschen. M.a.W.: Wenn Menschen nicht mehr (zusammen) leben können, ziehen sie weiter. Die Gründe sind immer existenziell, gleich, ob sie – und dies trifft auf alle Zeiten zu – klimatisch, infrastrukturell, wirtschaftlich, politisch oder religiös sind; die Grenzen sind ohnehin fließend. Dieser Hinweis soll natürlich nicht verschleiern, dass diese Kontinuität kontinuierlicher Wandelung ausgesetzt ist: dass es einen Unterschied macht, ob eine Gruppe von Menschen vor 11.000 Jahren nach neuen Weidegründen sucht, und dabei durch Landschaften zieht, die niemandem Gehören, oder ob sich Menschen wegen Kriegen aufmachen, in Gruppen und Territorien vorzustoßen, die nationalstaatlich verfasst sind, liegt auf der Hand. Diese Forderung ist zu relativieren: Das, was Luft sich hier zum Thema gemacht hat, behandelt er stark; und die hier veranschlagte Perspektive würde nicht nur den quantitativen Rahmen dieser Arbeit sprengen, sondern auch aus dem unmittelbaren Zusammenhang fallen. Nichtsdestotrotz erscheint dieser Kommentar angebracht, da, so zumindest meine Wahrnehmung, die historische Normalität von Bewegungen in der Öffentlichkeit unter die Räder der Geschwindigkeit und Emotionalität des Diskurses geraten: Wir haben es mit einem genuin anthropologischen Phänomen zu tun, dessen Charakter sich wandelt und immer neue und komplexere Lösungsansätze fordert, aber diese Herausforderung ist nicht neu, sie ist anders.

Diskutabel ist die Wahl des Titels. Alternativ ließe sich auch von einer Solidaritätskrise innerhalb der EU sprechen (Saracino 2018) oder, so hat es die Bundeszentrale für politische Bildung gelöst, in der die erste Auflage dieser Arbeit ebenfalls erschienen ist, ein neutralerer, weniger aufgeladener Titel wählen (Luft 2016). Dabei muss man in diesem Fall herausstellen, dass Luft sich auf den ersten Seiten dem Begriff der Krise widmet, ihn politische und historisch kontextualisiert und feststellt, dass „zuallererst die Krise der Flüchtlinge selbst in den Blick genommen werden“ (9 f.) muss und dass die „Fluchtursachen … in erster Linie in einer Krise der Herkunftsländer zu suchen [sind], in denen sich langandauernde humanitäte Krisen zuspitzen und verdichten“ (10). Es kann unterstellt werden, dass, weil der Begriff in aller Munde ist, so erhöhte Aufmerksamkeit generiert werden kann, was durchaus zu begrüßen ist, wenn der Begriff derart mit Inhalt gefüllt wird, wie es hier der Fall ist.

Fazit

Durch den Umstand, dass Luft in der Rubrik Wissen im Verlag C. H. Beck publiziert, ergibt sich eine Herausforderung, die für diese Reihe unumgänglich ist: einen komplexen Sachverhalt so umfangreich darzustellen wir nötig, damit ein vertiefender Einstieg in die Thematik möglich wird, und diesen dabei zugleich so essenziell darzustellen wie möglich. Dabei arbeitet der Autor beruhigend sachlich und differenzierend – was für eine wissenschaftliche Publikation eigentlich nicht der Erwähnung wert wäre, würde sie sich nicht auf ein so emotional-normativ aufgeladenen Themenkomplex beziehen –, was vor allem wohltuend ist, da sich diese Reihe nicht exklusiv an ein Fachpublikum, sondern gerade auch an die Öffentlichkeit wendet. Insgesamt kann konstatiert werden, dass Luft mit dieser Arbeit der Spagat zwischen thematischer Tiefe und Breite gelungen ist, der es dem Publikum – auch ohne politikwissenschaftliche Vorkenntnisse – ermöglicht ‚einzusteigen’ und bei Bedarf weiter zu vertiefen. Es kann also nur gehofft werden, dass diese Arbeit weite Verbreitung findet und da für Sachlichkeit steht, wo sie dringend von Nöten ist.

Literatur

Saracino, D.: Solidaritätsbrüche in der europäischen Asylpolitik. Warum die ‚Flüchtlingskrise’ in Wirklichkeit eine Solidaritätskrise ist; in: Zeitschrift für Politik 3/2018: 283–303

Luft, S.: Flucht nach Europa. Ursachen, Konflikte, Folgen, Bonn 2016

Rezension von
Michael Bertram-Maikath
B.A. Soziale Arbeit, M.A. Soziologie/Politikwissenschaft
Beruflich in der Sozialen/politischen Arbeit mit geflüchteten Menschen tätig
Lehrbeauftragter an der Hochschule Magdeburg-Stendal
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Es gibt 23 Rezensionen von Michael Bertram-Maikath.

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ISSN 2190-9245