Ralf Bohnsack, Alexander Geimer et al. (Hrsg.): Hauptbegriffe Qualitativer Sozialforschung
Rezensiert von PD Dr. phil. Ulf Sauerbrey, 10.12.2018
Ralf Bohnsack, Alexander Geimer, Michael Meuser (Hrsg.): Hauptbegriffe Qualitativer Sozialforschung.
Verlag Barbara Budrich GmbH
(Opladen, Berlin, Toronto) 2018.
4. vollständig überarbeitete Auflage.
324 Seiten.
ISBN 978-3-8252-8747-4.
D: 24,99 EUR,
A: 25,70 EUR,
CH: 32,50 sFr.
UTB.
Thema
Die qualitative Sozialforschung verfügt inzwischen über ein hohes Aufkommen an Methodenliteratur, die sich zwischen breit (und dabei notgedrungen eher oberflächlich angelegten) Einführungswerken einerseits und einzelne Forschungsverfahren stark vertiefenden Spezialwerken andererseits vielfältig aufspannt. Obwohl in den deutschsprachigen Debatten inzwischen durchaus Lexika und umfangreiche Handbücher zur allgemeinen Methodendiskussion zur Verfügung stehen (vgl. etwa Diaz-Bone, Weischer 2015; von Kardorff, Steinke, Flick 2017), scheint insgesamt nur recht wenig Raum für Nachschlagewerke zu bestehen, die einen kompakten Überblick über die Vielfalt an Erhebungs- und Auswertungsverfahren, über relevante wissenschaftstheoretische Paradigmen, Methodologien, ‚Schulen‘ sowie über entsprechende Forschungshaltungen und Fachbegriffe bieten. Das wohl einschlägigste Nachschlagewerk zur qualitativ-rekonstruktiven Sozialforschung mit dem Titel „Hauptbegriffe Qualitativer Sozialforschung“ wurde nun – mit Alexander Geimer als neuem Mitherausgeber anstelle des bisherigen Winfried Marotzki – in einer vollständigen und erweiterten Überarbeitung neu aufgelegt.
Herausgeber
Ralf Bohnsack ist pensionierter Univ.-Professor an der FU Berlin.
Alexander Geimer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der HU Berlin und Lehrbeauftragter an der Universität Klagenfurt.
Michael Meuser ist Univ.-Professor für Soziologie der Geschlechterverhältnisse an der TU Dortmund.
Entstehungshintergrund
Die Neuauflage des Buches hat im Vergleich zur dritten Auflage aus dem Jahr 2011 an Umfang gewonnen: Aus 203 Druckseiten wurden 324, aus 69 Stichwörtern 78. Der Vergleich beider Auflagen zeigt, dass in den vergangenen sieben Jahren Veränderungen bzw. Ausdifferenzierungen in der qualitativen Sozialforschung stattgefunden haben – und diese spiegeln sich auch in der 2018er-Auflage des Buches.
Neu hinzugekommene Stichwörter sind:
- Autoethnografie,
- Computergestützte Analyseverfahren,
- Cultural Studies,
- Dispositivanalyse,
- Fallanalysen im professionellen Handeln,
- Filmanalyse,
- Forschungsethik,
- Gender Studies,
- Generalisierung,
- Habitusanalyse,
- Interviewverfahren,
- Konjunktiver Erfahrungsraum,
- Körperwissen,
- Kunstbasierte Erhebungsverfahren,
- Längsschnittanalyse,
- Mehrebenenanalyse,
- Milieuforschung,
- Online-Forschung,
- Organisationsforschung,
- Paarinterview,
- Postcolonial Studies,
- Praxistheorie,
- Sequenzanalyse,
- Subjektivierungsforschung und
- Videoanalyse.
Vorrangig in die neu verfassten Stichwörter integriert (als eigene Stichwörter aber z.T. auch gegenüber der 2011er Auflage getilgt) wurden:
- Aktionsforschung,
- Autobiografie,
- Computerunterstützung in der qualitativen Forschung,
- Fallanalyse in der Sozialen Arbeit,
- Fallrekonstruktion,
- Film- und Videoarbeit,
- Interaktion,
- Interview,
- Kleine soziale Lebens-Welten,
- Lebenskonstruktion,
- Lebensweltliche Ethnografie,
- Massenmedien,
- Medienkommunikation,
- Online-Ethnografie,
- Thematisches Interview und
- Tiefeninterview.
Wie bereits in früheren Auflagen bleibt es Ziel des Nachschlagewerkes, „zentrale Kategorien“ (S. 7) qualitativer Sozialforschung zu versammeln.
Aufbau und Inhalt
Die Stichwörter im Buch sind alphabetisch geordnet.
Am Schluss jeder Stichwortbeschreibung finden sich zentrale Verweise auf einschlägige Literatur, der Schluss des Buches enthält außerdem eine umfangreiche Literaturliste (69 Seiten). Der Stil früherer Auflagen des Buches, in denen die Beiträge i.d.R. kurz gehalten waren und kompakt sowie systematisch in ein Stichwort einführten (vgl. www.socialnet.de/rezensionen/4217.php), wurde beibehalten.
Die Deutsche Nationalbibliothek bietet Einblick in das vollständige Inhaltsverzeichnis.
Da die Informationsdichte eines solchen Nachschlagewerkes mit keiner Rezension auch nur ansatzweise in angemessener Tiefe erfasst werden könnte, beschränkt sich der Rezensent im Folgenden auf einige ausgewählte und dabei auch in der Systematik des Bandes auffällige Aspekte, die wesentliche – und teils neue – Dimensionen gegenwärtiger Debatten in der qualitativen Sozialforschung abbilden:
Deutlich herausgearbeitet und zugleich kritisch beleuchtet wird die Stellung der qualitativen Inhaltsanalyse im Kontext rekonstruktiver Sozialforschung. Während die qualitative Inhaltsanalyse als Auswertungserfahren alles andere als selten in empirisch angelegten wissenschaftlichen Abschlussarbeiten an Hochschulen verwendet wird und ihr etwa im sozialwissenschaftlich-qualitativen Arm der medizinischen Versorgungsforschung gegenwärtig eine hohe Bedeutung zukommt (vgl. Meyer, Flick 2017; Wollny Marx 2009), hebt Michael Meuser in seinem Stichwortartikel heraus, dass die Inhaltsanalyse mit „einer rekonstruktiven Methodologie nicht kompatibel“ (S. 122) sei. Dieser Umstand habe seinen Grund in der trennscharfen Kategorisierung als zentralem Merkmal jeder Inhaltsanalyse. Rekonstruktive Sozialforschung habe laut Meuser demgegenüber – trotz der unterschiedlichen Verfahren, die unter diesem Flaggschiff segeln – die Aufgabe „die (sinnhaften) Konstruktionen der Wirklichkeit zu rekonstruieren, welche die Akteure in und mit ihren Handlungen vollziehen“ (S. 207).
Pointiert wird dies von ihm auch im Stichwort zur Rekonstruktiven Sozialforschung mit einer Aussage Jan Kruses: „Alle Forschenden, die rekonstruktiv arbeiten, nutzen qualitative Methoden. Aber nicht alle Forschenden, die qualitative Methoden nutzen, forschen rekonstruktiv“ (S. 206, zit. nach Kruse 2015, S. 24, Hervorhebung i.O.). Diese Positionierungen in der Debatte um rekonstruktive bzw. qualitative Forschungsverfahren erscheinen von hoher Relevanz, insbesondere im Fall konkreter Arbeitsschritte in der Auswertung qualitativer Daten, die von Jo Reichertz im Buch unter den Begriffen Abduktion, Induktion und Deduktion beschrieben werden (S. 11-14).
In der Neuauflage des Buches ist erstmals das Paarinterview als Stichwort enthalten. Konzipiert als „das gemeinsame Interviewen von Partnern“ werde es laut Cornelia Behnke und Michael Meuser insbesondere „in der Paar-, Familien- und der Geschlechterforschung vermehrt angewendet“, wenngleich noch „in deutlich geringerem Maße als das Einzelinterview“ (S. 184). Als Erhebungsverfahren eignet es sich jedoch, um „Arrangements der privaten Lebensführung“ zu erfassen und dementsprechend „ausgehandelte Ordnung[en]“, die sich in der „Verschränkung der Perspektiven beider Partner“ zeigen, zu entfalten (S. 185). Neben der Beschreibung solcher Perspektiven ermögliche das Paarinterview im Vergleich zum Einzelinterview zugleich die Erfassung von Interaktionsausschnitten zwischen den interviewten PartnerInnen. Demgegenüber enthält das Paarinterview jedoch auch den Nachteil einer eingeschränkten Offenheit, etwa bzgl. Tabuthemen, die im Einzelinterview stärker zum Vorschein kommen können. Mit Blick auf möglichen Auswertungsstrategien biete sich beim Paarinterview die Verknüpfung von Narrationsanalyse und Dokumentarischer Methode an.
Zum ebenfalls neu hinzugekommenen Stichwort der Subjektivierungsforschung führt Alexander Geimer aus, dass sich in den vergangenen Jahren „eine Vielzahl von Arbeiten“ fand, die „an Foucaults Subjekttheorie“ anschließen und vor diesem Hintergrund „kollektiv-diskursive Ordnungen […] als primären Ausgangspunkt des Verständnisses von AkteurInnen konzipieren“ (S. 217). Bedeutsam erscheint dieser neue Ansatz qualitativer Forschung u.a. für eine empirische Erforschung von Bildungsprozessen, genauer: von Bedingungen der und Einwirkungen auf die Subjektbildung (vgl. hierzu etwa die Ansätze erziehungswissenschaftlicher Subjektivierungsforschung: Gelhard, Alkemeyer, Ricken 2013). Subjektivierungsforschung geht davon aus, „dass spezifische Diskursformationen die Selbst- und Weltverhältnisse der AkteurInnen anleiten bzw. zu entsprechenden Formen der Selbstregulation führen“ (S. 217). Hierbei sei jedoch die empirische Basis der Arbeiten zur Subjektivierungsforschung laut Geimer noch ausbaufähig. Da Subjektivierungsforschung als gegenstandsspezifische Forschungsrichtung kein eigenständiges Auswertungsverfahren umfasst, könne sie u.a. dokumentarisch, wissenssoziologisch oder interpretativ durchgeführt werden.
Diskussion
Das Buch bietet einen äußerst breit angelegten und zugleich kompakten Überblick. Dabei wurden auch neue Forschungsdimensionen aufgenommen, die in den vergangenen Jahren zur Ausdifferenzierung qualitativer Forschung beigetragen haben. Die einzelnen Stichwörter bieten durch Querverweise innerhalb des Buches zudem durchweg die Möglichkeit zum vertieften Lesen und liefern damit zugleich eine aktualisierte Systematik verschiedener Verfahrensweisen und Paradigmen qualitativer Sozialforschung.
Mit der Veröffentlichung eines solchen Buches sind notgedrungen auch Entscheidungen für und gegen die Aufnahme bestimmter Kategorien verbunden. Die Entscheidung für die o.g. 78 Stichwörter ist mit Blick auf die Vielfalt qualitativer Sozialforschung – allein im deutschsprachigen Bereich – plausibel. Für spätere Auflagen wäre aus Sicht des Rezensenten dennoch zu überlegen, ob die Dokumentenanalyse, obgleich (oder gerade weil) sie quer zu anderen Auswertungsverfahren liegt, mit in das Buch aufgenommen werden sollte. Die bislang geführte methodologische Auseinandersetzung mit diesem Erhebungs- und Auswertungsverfahren in verschiedenen sozialwissenschaftlichen Disziplinen (vgl. etwa Prior 2003; Hoffmann 2012; Glaser 2013; Wolff 2017; insbes. Hoffmann 2018) spricht hierbei durchaus für eine zentrale Kategorie qualitativer Forschung.
Fazit
In den deutschsprachigen Debatten um qualitative Sozialforschung sind die „Hauptbegriffe“ bislang einzigartig, bieten Sie doch stärker, übersichtlicher und zugleich kompakter als jedes bislang bekannte Einführungswerk Einblicke in die gängigen Begriffe, die die Erhebungs- und/oder Auswertungsverfahren spezifischer metho(dolog)ischer Schulen und entsprechender Paradigmen kennzeichnen. Da qualitative Sozialforschung in ihrer jeweiligen Ausprägung spezifische Terminologien verwendet, erscheint ein solches Werk, das die Begriffe untereinander entweder verbindet oder aber voneinander abgrenzt, nicht zuletzt aus systematischen Gründen unabdingbar. Vor diesem Hintergrund erweist sich der vorliegende Band aus Sicht des Rezensenten nicht nur für Studierende und im Rahmen von Qualifikationsarbeiten arbeitende ForscherInnen als äußerst nützlich. Er kann ebenso Lehrenden und ausgewiesenen ForscherInnen dienen, den gegenwärtigen Stand und die Trends qualitativer Sozialforschung zu reflektieren. In diesem Sinne liefert das Buch wahrscheinlich nicht nur den status quo in einem höchst beweglichen Forschungsfeld, sondern wird vermutlich selbst zur weiteren Ausdifferenzierung des Forschungsfeldes beitragen.
Literaturnachweise
Diaz-Bone, R., Weischer, C. (Hrsg.) (2015): Methoden-Lexikon für die Sozialwissenschaften, Wiesbaden: Springer.
Gelhard, A., Alkemeyer, T., Ricken, N. (Hrsg.) (2013): Techniken der Subjektivierung, München, Paderborn: Fink.
Glaser, E. (2013): Dokumentenanalyse und Quellenkritik, in: Friebertshäuser, B., Langer, A., Prengel, A. (Hrsg.): Handbuch Qualitative Forschungsmethoden in der Erziehungswissenschaft, Weinheim, München: Juventa, S. 365–375.
Hoffmann, N. (2012): Dokumentenanalyse, in: Dörner, O., Schäffer, B. (Hrsg.): Handbuch Qualitative Erwachsenen- und Weiterbildungsforschung, Opladen/Farmington Hills: Barbara Budrich, S. 395–406.
Hoffmann, N. (2018): Dokumentenanalyse in der Bildungs- und Sozialforschung. Überblick und Einführung. Weinheim: Beltz Juventa
Kruse, J. (2015): Qualitative Interviewforschung. Ein integrativer Ansatz, Weinheim: Beltz Juventa.
Meyer, T., Flick, U. (2017): Methoden der qualitativen Forschung, in: Pfaff, H., Neugebauer, E., Glaeske, G., Schrappe, M. (Hrsg.): Lehrbuch Versorgungsforschung. Systematik – Methodik – Anwendung. 2., vollständig überarbeitete Auflage, Stuttgart: Schattauer, S. 77–83.
Prior, L. (2003): Using Documents in Social Research. New Delhi, India: SAGE.
von Kardorff, E., Steinke, I., Flick, U. (Hrsg.) (2017): Qualitative Forschung. Ein Handbuch, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.
Wolff, S. (2017): Dokumenten- und Aktenanalyse, in: von Kardorff, E., Steinke, I., Flick, U. (Hrsg.): Qualitative Forschung. Ein Handbuch, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, S. 502–513.
Wollny, A., Marx, G. (2009): Qualitative Sozialforschung – Ausgangspunkte und Ansätze für eine forschende Allgemeinmedizin. Teil 2: Qualitative Inhaltsanalyse vs. Grounded Theory, in: Zeitschrift für Allgemeinmedizin 3/2009, S. 467–476.
Rezension von
PD Dr. phil. Ulf Sauerbrey
Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Universitätsklinikum Jena und Privatdozent an der Fakultät für Sozial- und Verhaltenswissenschaften der Friedrich-Schiller-Universität Jena
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Zitiervorschlag
Ulf Sauerbrey. Rezension vom 10.12.2018 zu:
Ralf Bohnsack, Alexander Geimer, Michael Meuser (Hrsg.): Hauptbegriffe Qualitativer Sozialforschung. Verlag Barbara Budrich GmbH
(Opladen, Berlin, Toronto) 2018. 4. vollständig überarbeitete Auflage.
ISBN 978-3-8252-8747-4.
UTB.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/24935.php, Datum des Zugriffs 13.01.2025.
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