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Gesa Lindemann: Strukturnotwendige Kritik

Rezensiert von Arnold Schmieder, 18.12.2018

Cover Gesa Lindemann: Strukturnotwendige Kritik ISBN 978-3-95832-156-4

Gesa Lindemann: Strukturnotwendige Kritik. Velbrück GmbH Bücher & Medien (Weilerswist) 2018. 456 Seiten. ISBN 978-3-95832-156-4. D: 25,00 EUR, A: 25,30 EUR.
Theorie der modernen Gesellschaft, Band 1.

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Thema

Auf drei Bände ist das Werk angelegt, mit dem, wie im Untertitel ausgewiesen, eine Theorie der modernen Gesellschaft vorgelegt werden soll. In diesem nun vorliegenden ersten Band ist bereits im Titel, Strukturnotwendige Kritik, „direkt auf zentrale Besonderheiten dieser Theorie der modernen Gesellschaft“ verwiesen: „Kritik bedarf eines normativen Maßstabs. Moderne Vergesellschaftung basiert darauf, dass mit den Grenzen der Mitwelt zugleich ein normativer Maßstab, das Ethos der Menschenrechte, institutionalisiert wird, der einen moralischen Überschuss enthält. Dies führt zu einer Mehrzahl öffentlicher moralischer Beobachtungen von Vergesellschaftung durch soziale Bewegungen, die sowohl strukturermöglichend als auch strukturbewahrend wirken.“ (S. 26) In diesem Band geht es Frau Lindemann zunächst um zum einen die historische Herausbildung des Körperindividuums und zum anderen um seine Institutionalisierung in den Menschenrechten. Dann buchstabiert sie die wesentlichen Merkmale horizontaler Differenzierung aus, um darin zur Seite mentaler Bestände eine verallgemeinerte Legitimationstheorie zu verorten, die vom Ethos der Menschenrechte durchdrungen ist und in eben strukturell notwendiger Kritik virulent wird. In den Mittelpunkt dieses Bandes stellt die Autorin insoweit „die Sozialdimension sowie die Symboldimension und den Aspekt der sachlichen Ausdifferenzierung von Handlungs- und Kommunikationszusammenhängen“, wobei sich auch zeige, „dass sich moderne Vergesellschaftung durch die Institutionalisierung eines moralischen Überschusses auszeichnet.“ (S. 410)

In ihren Argumentationen will die Autorin um drei wesentliche Aspekte kreisen, nämlich durch Grenzziehung zwischen Personen und anderen Wesen und einen normativ aufgeladenen Status, der in der immer wieder aufgegriffenen Formel „gleich an Freiheit und Würde“ zum Ausdruck kommt – eine orientierende ethische Vorgabe, in der eine permanente Kritik am gesellschaftlichen Zustand gründet, festgemacht an neuralgischen Punkten. Des Weiteren wird die Rolle der Gewalt in Bezug auf Herstellung gesellschaftlicher, d.h. sozialer Ordnung für die Analyse von Vergesellschaftung in der Moderne ausgelotet, wobei der Staat in insbesondere seiner Orientierungsfunktion an unterschiedlichen Handlungslogiken, prominent solchen aus Wirtschaft und Wissenschaft, thematisiert wird. Zum Dritten geht es um die von der Wirtschaft forcierten technologischen Entwicklungen, was auf die aktuellen zielt, durch welche – wie gehabt – die Lebensbedingungen und Lebensformen der Menschen verändert bis umgewälzt werden. In ihrem abschließenden Kapitel des ersten Bandes „Horizontale Differenzierung und technologische Entwicklungen“ greift die Autorin mit der Frage vor, ob Veränderungen, die unter dem Stichwort „Digitalisierung“ gefasst werden können, „eine Gefährdung für die Ordnung horizontaler Differenzierung darstellen“ (S. 410), die sich an sich schon zur Seite ihrer Struktur „durch ein chronisch konflikthaftes Verhältnis zwischen den mitgliedschaftlich verfassten Handlungsbereichen (Politik und Recht) und den weltgesellschaftlichen orientierten Handlungsbereichen (vor allem der Wirtschaft, weniger mit der Wissenschaft)“ auszeichnet. (S. 299) Frau Lindemann meint, der „Mensch gleich an Freiheit und Würde wird ersetzt durch das fürsorglich zu überwachende Datenindividuum, dem die Technik jederzeit zu Diensten steht.“ Die Autorin entlässt in die für eine „Theorie der modernen Gesellschaft“ und das „politische Erkenntnisinteresse“ belangvolle Frage, „welche normativen Ressourcen soziale Bewegungen im Weiteren mobilisieren können, wenn die Institutionen des menschlichen Körperindividuums gleich an Freiheit und Würde in ein verbleibendes Restrisiko prognostischer Sicherheit transformiert wird? Wird es noch soziale Bewegungen geben können, die strukturgefährdende Entwicklungen öffentlich kritisieren und ihre Kritik erfolgreich in die Verfahrensordnung der Gewalt vermitteln können?“ (S. 416)

Inhalt

In einer sehr ausführlich angelegten Einleitung steckt die Autorin mit ‚übergreifenden Thesen‘ ihre Thematik ab und weist aus, was sie unter ‚strukturnotwendiger Kritik‘ verstanden wissen will, was in der Bemerkung aufscheint: „Moderne Vergesellschaftung bedarf einer strukturrelevanten Kritik, um ihre Strukturen aufrechtzuerhalten.“ Ein Korrektiv also auch, wo die „Institution menschlicher Würde gefährdet“ zu werden droht, „wenn im Rahmen einzelner Handlungszusammenhänge bzw. Organisationen der Mensch zu einem bloßen Mittel wird, um die Zwecke eines jeweiligen Zusammenhangs zu realisieren.“ (S. 29) Neben anderen Beispielen führt Frau Lindemann an, dass die „Notwendigkeit, die eigene Arbeitskraft zu vermieten, (…) zu einer Totalvereinnahmung durch die Wirtschaft führen“ kann und es waren, womit sie auf einen zentralen Punkt ihrer Arbeit kommt, „soziale Bewegungen, die sich gegen die Totalvereinnahmung des Menschen durch die Wirtschaft gestellt haben. Nur auf diese Weise konnte horizontale Differenzierung dauerhaft erhalten werden.“ (S. 31) Daraus erhelle dann auch, „dass moderne Vergesellschaftung von ihrer Struktur her nicht bzw. nicht nur in einer herrschaftssoziologischen Perspektive begriffen werden kann.“ Die Autorin insistiert auf ihrem Argument, wenn sie im Folgesatz betont: „Denn ihre Strukturen können nur aufrechterhalten werden, wenn sie einer kontinuierlichen Kritik durch soziale Bewegungen ausgesetzt werden“, die sich – bezogen auf den „Aspekt des Besitzens sowohl in der Produktion als auch in der Konsumtion“ – „auf dem gleichen Terrain“ wie die „Wirtschaft“ bewegten. (S. 32 f.) Sie würden sich darum sorgen und dagegen angehen, „dass die kreditgetriebene Eigentumswirtschaft den Aspekt des praktischen Besitzens, d.h. den praktischen Umgang mit der Welt, ausschließlich am Prinzip der Gewinnmaximierung“ orientiere. Und nach einer „differenzierteren Konzeption“ von Gesellschaftstheorie dreht es sich in der „Politik (…) nicht nur um Machtgewinn bzw. Machtverlust, sondern auch um die diskursive Auseinandersetzung um Sachpositionen“, wobei die Politik wie die Wirtschaft und „Recht tief in die institutionellen Handlungsabläufe“ eindringt, was von „sozialen Bewegungen beobachtet und kritisiert“ wird. (S. 34 f.) In dieser Argumentation scheint auf, was die Autorin gleich im ersten Satz ihrer Einleitung kundtut: „Die Ausarbeitung dieser Theorie der modernen Gesellschaft folgt zwei Erkenntnisinteressen: einem gesellschaftstheoretischen und einem politischen Interesse.“ (S. 13)

Die leitenden (Erkenntnis-)Interessen der Autorin sind in ihren in zahlreiche Unterkapitel untergliederten drei Hauptkapiteln miteinander verwoben.

  1. In historischem Rückgriff unterscheidet sie zwischen ‚Dividiualisierung‘, ‚Seelenindividuum‘ und schließlich ‚menschlichem Körperindividuum‘; um die sich darin abzeichnenden Veränderungsprozesse adäquat erfassen zu können, scheinen ihr sozialtheoretische Prämissen von Handlungstheorien als auch das Theorem doppelter Kontingenz unzulänglich, insoweit sie in Vorannahmen „von geschlossenen Handlungseinheiten oder Sinnverarbeitungssystemen“ ausgehen. (S. 38) Wichtig zu erkennen sei nunmehr, dass den (heutigen) Menschen „subjektive Rechte“ zukommen, was auch das Recht beinhalte, „sich eine eigene Vorstellung von der Welt zu bilden und dieser im Alltag zu folgen. Solange andere Menschen dadurch nicht in Mitleidenschaft gezogen werden, wird menschlichen Individuen in der Moderne ein sehr weitgehendes Recht auf die individuelle Ausgestaltung ihres praktischen Weltverständnisses zugestanden“, wobei zu beachten ist, „dass die Institutionalisierung des Prinzips der mitgliedschaftlichen Verfasstheit bzw. das Prinzip der Organisation in der Sozialdimension es ermöglichen, übergreifende Sinngeneralisierungen für die alltäglichen Handlungsvollzüge verbindlich zu machen.“ (S. 133 ff.) Diese ‚Beschreibung‘ unterlegt eine These der Autorin, dass der „diesseitig verkörperte Mensch gleich an Freiheit und Würde (…) zugleich mit der horizontalen Differenzierung (entsteht) und (…) mit dieser Differenzierungsform in einem Verhältnis wechselseitiger Voraussetzungen (steht). Der Mensch ist die faktische Strukturbedingung der Existenz horizontaler Differenzierung, und diese ist die faktische Strukturbedingung der Existenz des diesseitig lebendigen Menschen.“ (S. 56)

  2. Danach wendet sich Frau Lindemann dem sich aus horizontaler Differenzierung wesentlich abzeichnenden Themenkomplex zu, wo sie zunächst laut Überschriften um den „Diskurs als Beschreibung von Handlungs- und Kommunikationszusammenhängen“ kreist, um nach Erörterung der „institutionalisierten Körperindividuen und ihre(n) Mitgliedschaften“ sowie „Horizontale(r) Differenzierung und Organisation“ schließlich auf „Strukturtypen von Handlungs- und Kommunikationszusammenhängen“ zu kommen. Unter Bezug auf ihr „Vierfeldschema“ (vgl. S. 173) nimmt sie „Politik und Recht“, „Eigentumswirtschaft“ und „Wissenschaft“ in den Blick bzw. unterzieht sie unter Aufnahme relevanter soziologischer Theorien einer kritischen Analyse, wobei sie „nicht von der Dominanz eines Funktionssystems“ ausgeht, „sondern von der Dominanz eines Konflikts zwischen unterschiedlichen Typen von Handlungssystemen.“ Sie macht aber zugleich darauf aufmerksam, dass in „dem dadurch gebildeten Rahmen (…) weitere Handlungszusammenhänge wie derjenige der Bildung oder der Medizin (existieren)“, die ob ihrer eigenen „Strukturlogik“ nicht ohne Weiteres zuzuordnen wären, „die aber für den Gesamtzusammenhang horizontaler Differenzierung dennoch relevant sind.“ So etwa stelle die Medizin den „Ausschluss aus dem Kreis der dokumentierten Staatsbürger fest, indem sie den Tod eines Menschen diagnostiziert“, mache aber zugleich die „Verkörperung für die leiblichen Beteiligten verbindlich, deren erlebtes Leiden als etwas begriffen wird, das auf ihre individuellen menschlichen Körper zurückgeführt werden kann, weshalb die Medizin zugleich Schutz vor den diesseitigen Leiden verspricht.“ (S. 172 f.) Und am Ende ihrer Inspektion von ‚Wissenschaft‘ wirft die Autorin ein Problem auf, das sie schon zum Abschluss dieses Bandes konturiert und sie im Fortgang ihrer Gesellschaftstheorie in größerem Rahmen beschäftigen werden wird: „Es gehört zu den wichtigen Fragen der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts, ob es eine Bedrohung für die Ordnung wissenschaftlichen Wissens darstellt, wenn das derzeit technisch wirkmächtigste Wissen, die Konstruktion von Steuerungsalgorithmen, durch private Konzerne (Google, Microsoft, Tesla usw.) erzeugt wird.“ (S. 298)

  3. Unter der Überschrift „Beobachtung und Kritik“ verdeutlicht die Autorin, dass es und warum es um „die Ausbildung einer identitätsstiftenden Kultur des kritischen Sprechens“ geht. (S. 392) Auf der Folie einer Kritik von Individualisierungstheorien konturiert sie (u.a.) die Begriffe Freiheit und Würde und führt unter prüfend ausgeloteter „Institutionalisierung kritischer Beobachtung“ zu dem, dessen eine „Theorie der kritischen Gesellschaft“ bedarf; es geht um das durch „gewaltsame Kämpfe“ errungene „Versprechen, die kritische öffentlich-diskursive Beobachtung zu einem integralen Bestandteil der Ordnung horizontaler Differenzierung zu machen. Es wird weiterhin geherrscht – unter praktisch wirksamer kritischer Beobachtung. Dieses Spannungsverhältnis zeichnet die horizontal differenzierte Vergesellschaftung aus.“ (S. 353) Die ‚Gewaltfrage‘ kommt somit aufs Tapet, welche die Autorin pointiert: „es muss einen kritischen öffentlichen Diskurs geben, dessen Anliegen werden dann zu einer strukturrelevanten Kritik, wenn die kritischen Anliegen in ein Verhältnis zur Verfahrensordnung der Gewalt gesetzt werden. Denn Gewalt stützt Strukturen oder kann sie in Frage stellen. Wie direkte Gewalt im Rahmen ihrer modernen Verfahrensordnung wirkt, hängt davon ab, wie sie kommunikativ vermittelt wird, d.h., ob eine Legitimation gelingt oder nicht.“ (S. 357) Wohl davon ist die „Tragik des Ethos der Menschenrechte“ affiziert und „dokumentiert“, nämlich in „Strukturgefährdungen, die sich durch die Dominanz einerseits der weltgesellschaftlich orientierten Wirtschaft und andererseits durch die Verabsolutierung des mitgliedschaftlichen Bereichs der Politik ergeben.“ (S. 389) Gerade die Dynamik jener „weltgesellschaftlich orientierten Wirtschaft“ würde Initiativen provozieren, die allein durch die „Bedrohung mit Arbeitslosigkeit“ gestiftet werden könnten. Daraus folgt: „Zeiten des Umbruchs der institutionellen Ordnung des praktischen Besitzens sind deshalb auch Zeiten für Gruppenzusammenhänge und besonders für soziale Bewegungen.“ (S. 400) Ganz anders geartet als bei (historischen) totalitären Bewegungen, der nationalistischen und der kommunistischen, seien die Gestaltungsmöglichkeiten heutiger sozialer Bewegungen, die ganz „andere Bedingungen“ vorgefunden haben, (bspw.) „die Frauen- als auch die Umweltbewegung“; diese „anderen Bedingungen“ hätten es ihnen ermöglicht, „ihre Kritik durch Nutzung aller Wege zu entwickeln, die die moderne Verfahrensordnung der Gewalt bietet: gerichtliche Klage, Gesetzgebung und direkte Gewalt. Dabei gelingt es diesen Bewegungen, die Frage nach dem guten Leben in eine öffentliche diskursive Auseinandersetzung zu ziehen und zunehmend mit der strukturnotwendigen Offenheit der Frage bzw. der Antworten vereinbar zu machen.“ (S. 405 f.)

In ihren abschließenden Überlegungen zu horizontaler Differenzierung und technologischen Entwicklungen, nicht systematisch als eigenes Kapital des Bandes ausgewiesen, schließt die Autorin an jenen in moderner Vergesellschaftung institutionalisierten ‚moralischen Überschuss‘ (s.o.) an, was auch zu „methodologischen Fragen der Theoriekonstruktion“ führe, „die das Verhältnis von Sozial- und Gesellschaftstheorie betreffen.“ Auch müsse es um beobachtbare „Veränderungen in der Dimension der Sachtechnik“ gehen (S. 410), was sie auf flächendeckende ‚Digitalisierung‘ fokussiert und (u.a.) im zweiten Band vorstellen will, ob und wie nämlich die technologischen „Möglichkeiten das Potenzial haben, die Strukturen horizontaler Differenzierung zu verändern bzw. zu gefährden.“ (S. 413)

Die Deutsche Nationalbibliothek bietet Einblick in das vollständige Inhaltsverzeichnis.

Diskussion

Gesellschaftstheorien, wie sie seit Herausbildung der Soziologie als Wissenschaft von gesellschaftlicher Ordnung und ihres Stabilitätserhalts vorliegen, brachten und bringen in der Gemeinde der FachwissenschaftlerInnen schnell AnhängerInnen wie auch KritikerInnen auf den Plan. Es formierten und formieren sich Schulen, die, auch heute noch, Seilschaften bilden und sich bisweilen auch im Gerangel um Stellen und Pfründe hart neben der wissenschaftlich gebotenen Auseinandersetzung befeinden. Das darf natürlich nicht davon abhalten, sich mit einem Theorieentwurf wie dem von Gesa Lindemann immanent kritisch wie auch konfrontierend auseinanderzusetzen. Sie geht davon aus und kann damit auf den ersten Blick überzeugen, dass die „Ordnung horizontaler Differenzierung (…) in ihrem gegenwärtigen Zuschnitt ohne soziale Bewegungen nicht möglich“ wäre, ein Aspekt, der „bislang in der Theorie der Differenzierung von Wertsphären im Sinne Max Webers noch gemäß der Theorie funktionaler Differenzierung im Sinne von Talcott Parsons oder Niklas Luhmann bedacht worden“ sei. (S. 26) Assoziiert man zu ihrem Begriff „soziale Bewegungen“ an dieser Stelle bspw. etwa die Arbeiten von Thompson über die Entstehung der englischen Arbeiterklasse und seine Ausführungen zur ‚Klasse im Werden’ oder Sobouls Analyse der Rolle der Sansculotte während der Französischen Revolution und gar Marx’ Analysen der Levellers und Ludditen, der „Maschinenzertrümmerung“ (Marx), fragt man sich zum einen, ob soziale Bewegungen unterhalb der Schwelle von politischen und sozialen, gar sozioökonomischen Veränderungen auf ‚ganz andere Bedingungen’, basale, treffen; zum anderen kommt man zugleich mit dieser Frage in Zweifel, ob ‚strukturnotwendige Kritik‘ empirischer Problemlagen seitens sozialer Bewegungen auf tatsächliche Verursachung zielt (oder zielen kann), die erst noch dingfest zu machen wäre. Stünde doch damit auch ‚Struktur‘ in Frage. Mehr gewinnt man den Eindruck, dass soziale Bewegungen mit ihrer (notwendigen) strukturnotwendigen Kritik für ‚fließgleichgewichtige‘ Erhaltung horizontaler Differenzierung sorgen sollen, initiiert und gespeist aus ursprünglich im (auch tragischen) Ethos der Menschenrechte gründenden ‚Überschussmomenten‘, die dann nicht auf das aus sind, was man unter das Kürzel ‚Transzendierung‘ packen könnte. Banaliter und (konfrontativ) zugespitzt ist dann entgegenzuhalten, dass sie mit dieser Kritik einem Systemerhalt zutragen und höchstens missliche Erscheinungsformen aus Systemzwängen dann so weit als möglich abhelfen, was bisweilen auch gelingt und Wogen glättet – mehr nicht. Und diese Geschichte, mag man sich erinnern, ist schon älteren Datums und nicht allein darum zu verwerfen, weil man sie auch in die Optik möglicher Lernprozesse nehmen kann. Hier aber kollidieren ersichtlich Theoriestränge unterschiedlicher Provenienz, denen auch unterscheidbares „politische(s) Erkenntnisinteresse“ (s.o.) korrespondiert.

Was in den letzten Jahrzehnten die gesellschaftstheoretischen Diskussionen maßgeblich beeinflusste, waren bekanntlich die Arbeiten von Habermas und Luhmann, die selbstredend auch von der Autorin kritisch, wenngleich da eher marginal aufgenommen werden, wobei sie sich von Luhmann mehr korrigierend abgrenzt, was sie in der Aussage bündelt: „Die hier vorgestellte Theorie des modernen Weltzugangs basiert darauf, dass ausgehend von sozialtheoretischen Prämissen (einem formal-universalen Apriori) materiale bzw. empirische Studien gesichtet und interpretiert werden. Dies führt zu einer material gesättigten Einsicht in die Strukturen moderner Vergesellschaftung (historisches Apriori).“ (S. 412) In ihrer über weite Strecken essayistisch anmutenden Beweisführung (was auch in wissenschaftlichen Texten nicht grundsätzlich ein Manko sein muss) streift sie etliche sozialphilosophische und soziologische Klassiker, nimmt Kritiken an deren Theorien für die Weiterführung ihrer Argumentationsfiguren gleichsam in Form von Korollarien auf, was auch in Bezug auf die von ihr im Einzelnen behandelten Gegenstandsbereiche als Immunisierungsstrategien gegenüber Einwänden hinsichtlich ihrer Theoriekonstruktion, die mit allerdings großem Materialreichtum aufwartet, verstanden werden kann. Allerdings stellt man sehr schnell fest, dass ihre „Einsicht in die Strukturen moderner Vergesellschaftung“ der Erscheinungsebene verhaftet bleibt, ihr Strukturbegriff nicht im Sinne der Kritischen Theorie das ‚Wesen‘ meint oder dem entwachsende ‚Widersprüche‘, wie sie Marx in seiner Analyse der „Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft“ herausgearbeitet hat und wie sie bewusstseins- und handlungswirksam werden können – und als ‚Störvariablen‘ zur Integration anstehen, wozu Adorno sich sozialphilosophisch und gesellschaftskritisch ausgelassen hat. Doch Kritische Theorie, wie sie sich bei Adorno und Horkheimer auf Marx’ Analysen bezieht, ist keine theoretische Referenz für Frau Lindemann. Sie hält – nicht ohne moderate Skepsis gegenüber einem förderlichen Gelingen – den Beitrag sozialer Bewegungen für flexiblen Stabilitätserhalt von Gesellschaft, wie sie ist und mit ihrer horizontalen Differenzierung bleiben sollte, hoch und warnt vor Gefährdungen. Darin lebt zur Seite einer demokratischen, gar einer radikaldemokratischen Orientierung eine Denktradition fort, die allerdings ein anderes Ziel vor Augen hatte, das in ‚strukturnotwendiger Kritik‘ aufkeimen könnte, nicht aber Perspektive der Autorin ist.

Gesa Lindemann scheint auf Spuren Hegels zu wandeln. Nach diesem von ihr nicht bemühten Philosophen entwickelt sich die bürgerliche Gesellschaft zu einem System eigennütziger Bedürfnis- und Interessenvermittlung, befreit von säkularen Bindungen; es ist ein instrumentelles Geschehen, das von ihm als „Wimmeln von Willkür“ bezeichnet wird (Rechtsphilosophie, § 189, Zusatz), das seine eigene Aufhebung erzeugt – die Transzendierung dieses nur äußeren Staates zum sittlich integrierten Staat. Zugleich aber sah er das „Herabsinken einer großen Masse unter das Maß einer gewissen Subsistenzweise“, was die „Erzeugung des Pöbels“ hervorbringe, der „die Ehre nicht hat, seine Subsistenz durch Arbeit zu finden, und doch seine Subsistenz zu finden als sein Recht anspricht“, woher schlussendlich die „wichtige Frage“ komme, „wie der Armut abzuhelfen sei, (…) eine vorzüglich die modernen Gesellschaften bewegende und quälende.“ (ebd. § 244 u. Zusatz) Hegel sah als das Problem der Armut des Pöbels auf der einen und des Reichtums auf der anderen Seite, das nur jenseits ‚wimmelnder Willkür‘ in einem sittlich integrierten Staat angemessen zu handhaben sei. Offenkundig ist das ein Hintergrundrauschen ‚strukturnotwendiger Kritik‘: Kritik ist im Sinne Hegels zu üben, sie ist notwendig, um das ‚Sittliche‘ voranzutreiben, aber so einzuhegen, dass sie nicht in eine „Kritik der Waffen“ (Marx) umschlägt. Eine solche Position kennzeichnete auch die frühe Sozialdemokratie, wofür historisch der Austromarxismus vor allem Adlers und Bauers steht, die neuerdings im Zusammendenken von Marxismus und Sozialwissenschaften wieder diskutiert werden. Im Anschluss wird erneut die Frage nach der Gestaltungsmacht radikaldemokratischer Positionen gestellt, die auch in der Gesellschaftstheorie von Frau Lindemann aufscheint. Darauf wie auch auf jene revitalisierte Diskussion um Marxismus und Sozialwissenschaft bezieht sich die Autorin nicht, könnten sie doch beide Male ihren Theorieentwurf auf die Ebene skeptischer Befragung angesichts vergangenen und aktuellen Bestrebens um ‚mehr Demokratie‘ heben oder gar empfindlich vergällen, zumal diese zumeist jüngeren SoziologInnen die überlegene Erklärungsreichweite marxistischer Ansätze unter Beweis zu stellen vermögen. So müsste sie denn auch in Bezug auf die von ihr zitierte Frauen- und Ökologiebewegung zur Kenntnis nehmen, dass zwar (noch) neben dem Mainstream eines verwissenschaftlichten Feminismus etwa an Clara Zetkins kapitalismuskritische Position zur Frauenfrage erinnert wird und u.a. von marxistisch orientierten PhilosophInnen darauf aufmerksam gemacht wird, dass das Kapital im Hinblick auf die Verwertung des Werts gleichgültig gegen ‚Natur‘ ist, die sie nur als Rohstofflieferant interessiert, als „Gratis Naturproductivkraft“ (Marx). – Solche Kritik ist in sozialen, gegenstandsbezogenen Bewegungen und auch in politisch-parlamentarischer Opposition i.d.R. abgeschattet.

Dementsprechend will Frau Lindemann nicht von der „Dominanz eines Funktionssystems“ ausgehen (s.o.), sieht aber in der „Dominanz“ der „weltgesellschaftlich orientierten Wirtschaft“ deutliche „Strukturgefährdungen“ (s.o.), die viele Menschen träfen und die soziale Bewegungen auf den Plan rufen würden. Deren Gestaltungsmöglichkeiten, weil nach „moderne(r) Verfahrensordnung der Gewalt“ zu initiieren, seien andere als die zu Zeiten der „nationalistischen Bewegungen“ und der „kommunistischen Bewegungen“, die im Rahmen einer „anderen Verfahrensordnung der Gewalt“, nämlich „im Rahmen direkt gewaltsamer Auseinandersetzungen“ entstanden seien. (S. 405) Abgesehen davon, dass ihr Seitenblick hier historisch gewagt weil holzschnittartig ist, ihr Ursachen und Ziele von Widerständen und deren Instrumentalisierung nicht einmal eine Anmerkung wert sind und sie den Gewaltbegriff nicht etwa wie etwa bei Galtung differenziert (ein lässliches Ärgernis, wäre es nicht symptomatisch), rückt sie damit in die Nähe einer schon lange anhaltenden und immer noch geführten wissenschaftlichen und politischen Diskussion, die weniger besorgt um Korrekturen von ‚Struktur‘ ist und deren theoretischer Ausgangspunkt die vorliegende Marxsche Analyse der zerstörerischen Wirkung jener übrigens schon länger „weltgesellschaftlich orientierten Wirtschaft“ ist, vulgo Kapitalismus, gegen dessen ökonomischen, gesellschaftlichen und vor allem sozialen Folgen sich Menschen nicht nur vorgestern und gestern, sondern auch heute noch zur Wehr setzen. Schon Engels hatte in seiner „Einleitung zu Marx’ ‚Klassenkämpfe in Frankreich‘“ (die bisweilen als sein Testament bezeichnet wird) auf im Zuge einer ökonomisch und politisch veränderten Situation ebenfalls veränderte Kampfbedingungen aufmerksam gemacht und gemeint, das Proletariat sei noch „weit entfernt“ davon, „den Sieg mit einem großen Schlag zu erringen“ und es müsse „in hartem, zähem Kampf von Position zu Position langsam vordringen“. Und er formuliert eine gleichsam radikaldemokratische Position vor, der „Bourgeoisie jeden Posten streitig“ zu machen, was sie dahin brächte, „sich weit mehr zu fürchten vor der gesetzlichen als vor der ungesetzlichen Aktion der Arbeiterpartei, vor den Erfolgen der Wahl als vor denen der Rebellion.“

Ob dieses (Industrie-)Proletariat mitsamt seinen Organisationen weggebrochen ist und ob es in anderer Gestalt noch aufzuspüren ist und wer überhaupt als ‚geschichtsmächtiges Subjekt‘ zu identifizieren ist, darüber gibt es innerhalb links-oppositioneller Gruppierungen und auch unter marxistischen WissenschaftlerInnen eine höchst kontroverse Debatte – die auch immer im Blick hat, auf welchem Weg der Kapitalismus zu überwinden ist. Eine andere Richtung will gar „herausfinden (…), ob und in welcher Weise der vor 200 Jahren geborene Karl Marx etwas zur Erkenntnis der Gegenwart beitragen kann“, weshalb „zunächst die – im besten Fall – historisch gewordenen Anteile seines Werkes freigelegt werden“ müssten, was Jan Gerber in seiner Biographie „Karl Marx in Paris“ in seinem Prolog vorausschickt. Da wird eine Tastatur angeschlagen, könnte man Marx’ und Engels’ Vorstellungen von der ‚historischen Mission‘ des Proletariats in Richtung Sozialismus/Kommunismus ad absurdum führen, würfe das möglicherweise auch einen Schlagschatten auf deren (dann interessierte) Analyse des Kapitalismus und ließe somit das Ziel seiner Abschaffung spektakulär werden. Damit kommt man in die Nähe eines Zungenschlages, mit dem der ‚junge‘ gegen den ‚alten‘ Marx gehalten und mehr noch gleichsam ausgespielt wird, um sein Gesamtwerk nächst seinen Vorstellungen vom Gang der Geschichte um deren politischen Gehalt zu depotenzieren, womit in diesem Zuge günstigenfalls Marxens Analysen im „Kapital“ hinsichtlich der (aktuell überdeutlichen) Krisendynamik oder des Finanzkapitals noch Thema bleiben (wobei anders wie z.B. sein Wertbegriff und seine Analyse der Grundrente einer oftmals nur schwerlich nachvollziehbaren Kritik unterworfen wird). Unter einer solchen Marx-Rezeption, deren Rechtfertigung auch biographisch nachgespürt wird, sinkt dann eine Zielorientierung in „bewussten Kampfaktionen des internationalen Proletariats“ zur Mär ab, wie sie Rosa Luxemburg in ihrer Schrift „Krise der Sozialdemokratie“ der Alternative „Triumph des Imperialismus“ oder „Sieg des Sozialismus“ voraussetzte. Dass der „Triumph des Imperialismus“ ins Haus steht und ‚Barbarei‘ bereits anklopft, bleibt in solchen Marx-Deutungen wie in dieser „Theorie der modernen Gesellschaft“ von Frau Lindemann außen vor oder wird in letzterer als Menetekel aus Digitalisierung und jener zurzeit heftig diskutierten ‚Industriellen Revolution 4.0‘ ausgepinselt, wobei wir unsere Hoffnung darauf richten dürfen, dass über „strukturnotwenige Kritik“ mögliche desaströse Entwicklungen abgewendet werden. Ob solcherlei Kritik, in der sich eine gleichsam ‚positivistische‘ Aufnahme Marxscher Kategorien und die wie vorliegende „Vergesellschaftungstheorie“ annähern oder in politischer Perspektive gar verschwistern können, jener Demokratie „als aufgelöste(m) Rätsel aller Verfassungen“ auf die Sprünge hilft, für die sich der ‚junge‘ Marx in Kritik an Hegel aussprach, kann angesichts eines Ist-Zustandes als Projekt kultiviert werden, das in der Rede von radikaler Demokratie vorgehalten wird und von Sachzwangargumenten, die Systemzwänge sind, abgeblockt wird: „Hegel geht vom Staat aus und macht den Menschen zum versubjektivierten Staat; die Demokratie geht vom Menschen aus und macht den Staat zum verobjektivierten Menschen.“ Diesen Absatz in der „Kritik des Hegelschen Staatsrechts“ beendet Marx mit einer Feststellung, wie sie dem Inhalt nach noch heute als Legitimation in Dienst genommen wird: „Die Demokratie verhält sich zu allen übrigen Staatsformen als ihrem alten Testament. Der Mensch ist nicht des Gesetzes, sondern das Gesetz ist des Menschen wegen da, es ist menschliches Dasein, während in den andern der Mensch das gesetzliche Dasein ist. Das ist die Grunddifferenz der Demokratie.“

Diese Bestimmung von (aus Marxens Sicht: politisch anzustrebender) Demokratie bleibt richtig und es kam ersichtlich anders und man darf skeptisch bleiben, ob eine solche Vorstellung von Demokratie durch ‚strukturnotwendige Kritik‘ zu restaurieren ist, damit sie real werde. Es scheint müßig, hier die Kenntnisnahme von Horkheimers und Adornos „Dialektik der Aufklärung“ und „Negative Dialektik“ wie überhaupt die Beiträge der Kritischen Theorie anzumahnen, dabei auch das Augenmerk auf die Dauerschleife aus Desintegration und Integration zu legen, nicht nur weil auch diese theoretische Erklärung keine Referenz für die Autorin ist, sondern weil jene „strukturnotwendige Kritik“ dann insoweit unter dem Blickwinkel einer Affirmation und Legitimation des ‚Systems‘ zu sehen wäre, weil sie Ursachen unberührt lässt, gegen das „Ganze“ (im Sinne Adornos) skotomisiert. Schon länger wird dieser Verdacht gegenüber Sozialen Bewegungen und ihrer Reichweite laut, nicht nur aus der Beobachterperspektive, auch von Akteuren selbst. So machte schon vor längerer Zeit Sarah Ertl in ihrem Buch „Protest als Ereignis“ darauf aufmerksam, dass sich bei mehr Sozialen Bewegungen und insbesondere solchen, die sich auf das Wirtschaftssystem (und seine Folgen) kaprizieren, eine Handlungstendenz verbreitet, „die Reproduktion von Machtverhältnissen aufzulösen“, wobei die „Rückgewinnung von Handlungsmacht zentral (ist) und die Auflösung von Ohnmacht bedeutend.“ Ertl vergewissert sich bei Holloway und zitiert ihn, in jedem von uns sei „in irgendeiner Form ein zapatistisches ‚Ya basta‘ vorhanden“. Solche Bemerkung mag man als reißerisch bis plakativ abtun und sich an die Arbeit der Aufdeckung von Widersprüchen machen und den langen Weg der Aufklärung unbeirrt weitergehen; was auch immer sich da bewegt und ganz anders ‚überschießt‘, als es Frau Lindemann in ihrem Begriff des „moralischen Überschusses“ (s.o.) definiert, in die Modalitäten einer „horizontalen Differenzierung“ wird es sich kaum einfügen lassen. Und jenem „Ethos der Menschenrechte“ (s.o.), einer laut Präambel zutiefst achtbaren Absichtserklärung, wohnt insoweit tatsächlich eine „Tragik“ (s.o.) inne, als es, schaut man sich nah- und fernweltlich um, auf recht tönernen Füßen steht – und ein heiter befreiendes Satyrspiel steht nicht im Programmheft. Bei aller abwägenden Kritik gegenüber seinen Definitionen, kann man auf diese Verhältnisse durch die Optik von Galtungs Begriffen hierzulande vor allem der „strukturellen“, weiter aber auch der „personalen“ und „kulturellen Gewalt“ gucken. Darauf stoßen soziale Bewegungen und diese Formen der Gewalt sind (auch) Gegenstand ihrer Kritik; doch häufig prallen sie auch auf scharfe Grenzziehungen ihrer Aktivitäten, sind abgestuft mit Macht und Herrschaft konfrontiert, worum man weiß oder was man ahnen kann, weshalb es oftmals auch tunlich scheint, kapitalismuskritische Töne nicht nur in einem wie auch immer gearteten vorauseilenden Gehorsam zu dämpfen.

Fazit

„Die wahre Theorie muss innerhalb konkreter Zustände und an bestehenden Verhältnissen klargemacht und entwickelt werden“, notierte der (‚junge‘) Marx in einem Brief an Oppenheim. Legt man diese Elle an den ersten Band der „Theorie der modernen Gesellschaft“ von Frau Lindemann, so sind Zustände und Verhältnisse durchaus Bezugspunkte, wobei in der Theorie nicht einmal bestritten wird, dass ‚Wirtschaft‘ auf die Verfasstheit von Gesellschaft einen Einfluss haben kann; dass die Ökonomie die Gesellschaft ‚prägt‘ und auch horizontale Differenzierung in die basalen Voraussetzungen ihres Fortbestands eingewoben bleibt, wird nicht thematisiert, obwohl es sich bei näherer Betrachtung der Anknüpfungspunkte von Kritiken, wie sie strukturnotwendig sein sollen, den AktivistInnen aufdrängen kann, nicht muss – „diese Welt ist nicht die ihre, sondern die des Kapitals.“ (Horkheimer) Bezieht man auf die „Theorie der modernen Vergesellschaftung“ (S. 13) Adornos Wort: „Theorie ist unabdingbar kritisch. Darum aber sind aus ihr abgeleitete Hypothesen, Voraussagen von regelhaft zu Erwartendem ihr nicht voll adäquat“, gerät „strukturnotwendige Kritik“ als zu intensivierendes Projekt in die Perspektive einer heilbringenden Offerte. So stellt sich auch die Frage nach der Funktion von Theorie: In seiner Schrift „Traditionelle und kritische Theorie“ argumentiert Horkheimer, dass „Theorie in der traditionellen Gestalt, die Beurteilung des Gegebenen anhand eines auch im einfachsten Bewusstsein noch wirksamen herkömmlichen Begriffs- und Urteilsapparats (…), eine positive gesellschaftliche Funktion ausübt.“ Dann handelt es sich um eine „Tätigkeit, die zur Existenz der Gesellschaft in ihren gegebenen Formen beiträgt“, die nicht „wertbildend“ sein muss: „Trotzdem kann sie zu dieser Ordnung gehören und sie mit ermöglichen, wie dies bei der Fachwissenschaft wirklich der Fall ist.“ Dessen sollte man sich bewusst sein. So gesehen versteht sich allerdings auch, warum Kritische Theorie und Marxens Analysen der „Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft“ (worin Kritische Theorie gründet und was den Maßstab für all das abgibt, was sich einer Attitüde folgend als ‚kritisch‘ bezeichnet) keine theoretischen Bezugspunkte für die Autorin sind. Ebenfalls versteht man, warum Luhmanns „Soziale Systeme“ in kritisch erweiterter Form schon eher theorietauglich scheinen. Insofern provoziert die Autorin kritische Nachfragen und Einreden, eben nicht nur wissenschaftliche, sondern auch in einem weiteren Sinne politische, was ihr Anspruch ist. Da ist dann aber auch die Erklärung basaler Strukturen von Gesellschaft erheischt, die in den Erscheinungsformen nicht unmittelbar zu erkennen, aber durch Analyse darzulegen sind. Da möchte man wiederum Adorno ins Gespräch bringen mit seinem Hinweis, dass „ohne Beziehung auf Totalität, das reale, aber in keine handfeste Unmittelbarkeit zu übersetzende Gesamtsystem, nichts Gesellschaftliches zu denken ist, dass es jedoch nur soweit erkannt werden kann, wie es in Faktischem und Einzelnem ergriffen wird, verleiht in der Soziologie der Deutung ihr Gewicht.“ Demnach, so Adorno, sei „das Moment von Unmittelbarkeit (…) im Fortgang der Erkenntnis aufzuheben“, wobei er in seinen soziologischen Schriften auch gegenüber dem „Primat des Problems“ darauf aufmerksam macht: „Denn der Gegenstand der Soziologie selbst, Gesellschaft, die sich und ihre Mitglieder am Leben erhält und zugleich mit dem Untergang bedroht, ist Problem im emphatischen Sinn.“ Es mag LeserInnen geben, die sich unter dieser Sicht auf Spurensuche in der „Theorie der modernen Vergesellschaftung“ (s.o.) von Gesa Lindemann machen. Gespannt darf man daher nicht nur auf die Folgebände sein, sondern auch auf die Diskussionen über diesen Band, die wünschenswert sind, denen man wünscht, dass sie in „Freiheit und Würde“ geführt werden, dann im Sinne bürgerlichen Anstands, wie er sich dem Geist des deutschen Idealismus verpflichtet weiß.

Rezension von
Arnold Schmieder
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Zitiervorschlag
Arnold Schmieder. Rezension vom 18.12.2018 zu: Gesa Lindemann: Strukturnotwendige Kritik. Velbrück GmbH Bücher & Medien (Weilerswist) 2018. ISBN 978-3-95832-156-4. Theorie der modernen Gesellschaft, Band 1. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/24968.php, Datum des Zugriffs 10.12.2023.


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