Luke J. Tanner: Berührungen und Beziehungen bei Menschen mit Demenz
Rezensiert von Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind, 28.01.2019

Luke J. Tanner: Berührungen und Beziehungen bei Menschen mit Demenz. Ein person–zentrierter Zugang zu Berührung, Beziehung, Berührtsein und Demenz. Hogrefe AGHogrefe AG (Bern) 2018. 271 Seiten. ISBN 978-3-456-85855-5. 29,95 EUR.
Thema
Berührungen im Bereich der Pflege und Betreuung Demenzkranker im fortgeschrittenen Stadium besitzen eine außerordentlich zentrale Bedeutung in der zwischenmenschlichen Kommunikation. Das Wahrnehmen und Erfassen verbaler Aussagen beschränkt sich zunehmend auf die beziehungsbezogene Dimension („emotionale Prosodie“), denn die geistige Verarbeitung der Worte des Gegenübers kann aufgrund des neuropathologischen Abbauprozesses nicht mehr ausreichend und fehlerfrei geleistet werden. Das somit eingeschränkte verbale Kommunikationsspektrum gibt Raum für die verschieden Formen der nonverbalen Kommunikation wie Blickkontakte, Mimik, Gesten und eben die weitreichenden Formen der Berührungen. Angeborene Verhaltensmuster werden dann hier intuitiv und spontan aktiviert, wie es im Umgang mit Säuglingen und Kleinkindern tagtäglich geschieht. Doch auch in der Pflege und Betreuung Demenzkranker werden diese Kommunikationsformen wie z.B. die „Ammensprache“ (so genannter „Babytalk“) situationsgemäß und zum Wohlbefinden der Demenzkranken praktiziert (1). Die vorliegende Publikation konzentriert sich in diesem Kontext auf den Themenschwerpunkt Berührungen bei Demenzkranken in der Pflege und Betreuung.
Autor
Luke J. Tanner ist Massagetherapeut, Körperpsychotherapeut und Trainer im Bereich Demenzpflege in London.
Aufbau und Inhalt
Das Buch ist in dreizehn Kapitel nebst Einleitung und einem fünfteiligen Anhang untergliedert. Mehrere Fotos, Formulare, Tabellen und Abbildungen illustrieren den Text. Am Ende der Kapitel werden kurz Empfehlungen zur Umsetzung der Inhalte in der alltäglichen Praxis der Pflege und Betreuung gegeben („Schritte zur Veränderung der Kultur“). Die Deutschen Nationalbibliothek zeigt das vollständige Inhaltsverzeichnis.
In Kapitel 1 (Pflegemodell und Berührungskulturen, Seite 33 – 44) entfaltet der Autor sein Konzept unterschiedlicher „Berührungskulturen“ und ihrer Bedeutung für die Adressaten auf der Grundlage seiner Erfahrungen in englischen Pflegeheimen. In dem Modell „klinischer Dienst“ als Prototyp der Aufgabenorientierung in der Pflege stehen die pflegerischen Handlungen im Vordergrund bei gleichzeitiger strikter Beachtung der „professionellen Distanz“. Im Modell „gemischter Dienst“ finden die Bedürfnisse der zu Pflegenden nach zwischenmenschlichem Kontakt theoretisch zwar Berücksichtigung, doch da die Leitlinie in den Einrichtungen von einem Aufgabenorientierten Ansatz bestimmt wird, wagen die Pflegenden keine Berührungen außerhalb des unmittelbaren Pflegeprozesses. Das Modell „kreativer Dienst“ wird als ein beziehungsorientierter Ansatz deklariert, der neben der Pflegequalität auch andere Dimensionen wie Wohlbefinden und Lebenszufriedenheit als Maßstab besitzt. Der „kongruente Dienst“ beinhaltet ein Optimum an stabilisierenden Berührungen nicht nur während der Pflegehandlungen, sondern auch bei allen Kontakten und Begegnungen untertags im Heimalltag.
Kapitel 2 (Berührungen in der Pflege, Seite 45 – 56) enthält eine „Typologie der Berührungen“ mit 14 unterschiedlichen Berührungsarten in der Pflege: u.a. prozessuale, empathische, aufgabenorientierte, parentale, schützende, person-zentrierte, sondierende, tröstende, zufällige, sozial normierte, beruhigende, heilende und lenkende. Es folgen Ausführungen über die Auswirkungen der Berührungen bei der Pflege u.a. unter den Gesichtspunkten der Gefühlsebenen, der Zwischenmenschlichkeit und auch der Funktionalität.
Kapitel 3 (Wahrnehmung von Berührungen bei kognitiver Beeinträchtigung, Seite 57 – 67) thematisiert die Wahrnehmung und Verarbeitung der Berührungen bei dem Vorliegen kognitiver Einschränkungen, also demenzspezifischer Krankheitssymptome, die besondere Interaktionsformen im Umgang der Pflege und Betreuung erforderlich machen. Als Beispiel führt der Autor einen Fall an, bei dem er die Verweigerung der Fußmassage einer Bewohnerin dergestalt überwand, indem er sich als Reisebüromitarbeiter ausgab, um in der Eigenwelt der Betroffenen seiner Arbeit nachgehen zu können.
In Kapitel 4 (Tastsinn und Bindung, Seite 69 – 84) wird allgemeines Wissen über Tastsinn und Bindungen für die menschliche Entwicklung und das Wohlbefinden referiert, wobei überwiegend auf die theoretischen Konzepte von Ainsworth und Bowlby zurückgegriffen wird.
Kapitel 5 (Berührung, Verwirrtheit und Ungewissheit, Seite 85 – 93) befasst sich mit arbeitsorganisatorischen Faktoren wie strikte Routinen bei der Pflege und Betreuung ohne angemessene Berücksichtigung der Bedürfnisse und Interessen der Bewohner, die aus der Sicht des Autors zu Reaktionen der Überforderung und des Stresserlebens bei den Demenzkranken in den Heimen führen.
Kapitel 6 (Berührungen und nonverbale Zustimmung, Seite 95 – 101) listet die Signale nonverbaler Zustimmung bei Demenzkranken bezüglich Pflege und Betreuung auf: Berührungen, Nähe, Bewegungen, Gesichtsausdruck, Blickkontakt, Atmung, Geräusche und Haltung. Kritisch wird angeführt, dass „paternalistische und bevormundende Pflegekulturen“ u.a. aufgrund der Fürsorgepflicht Handlungen der Pflege ohne vorherige Zustimmung der Adressaten durchführen.
In Kapitel 7 (Berührungen, emotionale Bedürfnisse und Persönlichkeit, Seite 103 – 114) legt der Autor seinen Orientierungs- und Handlungsrahmen dar: das Modell der so genannten „person-zentrierten Pflege“ von Kitwood mit seinen Kernelementen „Identität“, „Beschäftigung“, „Bindung“, „Trost“ und „Inklusion“. Zur Illustration wird zusätzlich die Abbildung der „Kitwood Blume“ eingefügt, die neben den angeführten Kernelementen als zentrales Element „Liebe“ enthält.
Kapitel 8 (Berührungen, Beziehungen und Intimität, Seite 115 – 128) enthält zu Beginn Allgemeines über die Bedeutung von Berührungen im zwischenmenschlichen Umgang, um anschließend auf die Intimität in professionellen Beziehungen einzugehen. Es folgen Ausführungen zu so genannten „person-zentrierten Berührungen“ in der Pflege Demenzkranker und kritische Ausführungen zum Alltagsgeschehen in englischen Pflegeheimen: die „Uniformen“ der Mitarbeiter, eigene Servierwagen, Becher und Toiletten für die Mitarbeiter und dass Mitarbeiter ihre Mahlzeiten nicht gemeinsam mit den Demenzkranken einnehmen.
In Kapitel 9 (Berührungen im Rahmen pflegerischer Aufgaben, Seite 129 – 144) vertieft Tanner eingehend die „aufgabenorientierten Berührungen“ hinsichtlich ihrer Funktionen und Wirkungen als Macht- und zugleich auch Kontrollinstrumente, die die Gepflegten zu bloßen Objekten eines umfassenden Handlungsprozesses degradieren. Hierbei bezieht er sich auf den Philosophen Martin Buber mit seinem Modell der „Ich/Es-Beziehung“, die bei diesen Gegebenheiten zum Leidwesen der Betroffenen an die Stelle „Ich/Du-Beziehung“ treten. Als Belege für diese Fehlentwicklungen werden die routinebasierte Pflege, die Gestaltung der Gemeinschaftsbereiche und das Infektionsmanagement angeführt. Zum Abschluss werden Veränderungen bei den „Berührungskulturen“ mit konkreten Vorschlägen angeführt (Routinen lockern u.a.).
Kapitel 10 (Widerstand gegenüber Berührungen im Pflegekontext, Seite 145 – 163) geht zu Beginn auf Verhaltensweisen der Pflegeverweigerung bei so genannten „aufgabenorientierten Berührungen“ wie z.B. schreien, fluchen, sich verstecken, spucken, beißen, kratzen, schlagen, treten, weglaufen und fliehen ein. Anschließend expliziert der Autor anhand von sechs Fallbeispielen, wie die Zustimmung der Demenzkranken bei pflegerischen Handlungen mithilfe verschiedener Beeinflussungsmodalitäten erzielt werden kann. Folgende Vorgehensweisen werden hierbei u.a. praktiziert: Gemeinsames Singen, Einsatz von Puppen, Verkleidung und ordinärer Sprachstil, Hilflosigkeit simulieren und mit Rasierschaum rumspielen.
In Kapitel 11 (Erotische Berührungen und sexuelle Intimität, Seite 165 – 184) werden Aspekte der Pflege Demenzkranker im Bereich der Intimpflege mit den damit verbundenen Schwierigkeiten der Beteiligten erörtert. Des Weiteren werden demenzspezifische Krankheitssymptome der Enthemmung im Kontext des sexuellen Verhaltens wie öffentliches Masturbieren und Entkleiden beschrieben. Es folgen Hinweise und Empfehlungen, wie mit diesen milieustörenden Problemen angemessen umgegangen werden kann.
Kapitel 12 (Mit Dingen in Berührung kommen, Seite 185 – 204) ist dem Thema sensorische Stimulierung des Tastsinns gewidmet. Es werden kritisch die reizarmen Innenwelten der Heime beschrieben, in denen alles verschlossen aufbewahrt wird: Haushaltsartikel und Nahrungsmittel, Putzmittel und Putzutensilien, Geschirr und Besteck. Eingefordert werden u.a. Regale und Tische mit Gegenständen zum Kramen und Sortieren, Wandbehänge zum Streicheln und Betasten und mehr. Zur Verdeutlichung dienen 12 Fotos aus englischen Altenheimen mit vorbildlicher Milieugestaltung als konkrete Praxisbezüge.
In Kapitel 13 (Schlussbetrachtung, Seite 205 – 210) fasst der noch einmal kurz seine Erfahrungen über den Umgang mit Demenzkranken in stationären Einrichtungen in England zusammen und knüpft anschließend Hoffnungen und Erwartungen an ein grundsätzliches Umdenken in der Pflege und Betreuung in Richtung auf eine Zentrierung auf die Bedarfe und Wünsche der Adressaten.
Der Anhang (Seite 211 – 252) besteht u.a. aus einem „Tool“ zur Beobachtungen von Berührungen, Beobachtungsformulare und Trainingsübungen.
Diskussion und Fazit
Das Anliegen der vorliegenden Publikation besteht vor allem darin, bestehende Missstände und Unzulänglichkeiten in der Pflege und Betreuung Demenzkranker in englischen Pflegeheimen mittels neuer Perspektiven und Vorgehensweisen zu überwinden. Den recht weitschweifigen, redundanten und moralisierenden Ausführungen fehlt jedoch aus Sicht des Rezensenten die hierfür erforderliche Fachlichkeit, Praxisbezogenheit und auch Ausgewogenheit, um zur Verbesserung der Lebensumstände in den Heimen gravierend beitragen zu können. Diese inhaltlichen Minderleistungen werden wie folgt belegt:
- Der Autor konstruiert ein strikt dualistisches Berührungs- und Pflegemodell im Bereich des Umgangs mit Demenzkranken, das von den Gegensätzen „Aufgabenorientierung“ und „Personzentrierung“ getragen wird. Diese recht simple Schwarzweißmalerei ist ein Grundpfeiler des Ansatzes von Kitwood, der dem Autor als entscheidender Bezugsrahmen seiner Argumentation dient. So ist dann auch von „bösartigen Kulturen“ (Seite 89) und der „Zerstörung der Persönlichkeit“ (Seite 136) u.a. in Anlehnung an die Begrifflichkeit „maligne, bösartige Sozialpsychologie“ (Kitwood) die Rede (2).
- Dem Autor scheint nicht bewusst zu sein, dass er in seiner Darstellung den Kernthesen Kitwoods widerspricht. So führt er so genannte „personale Detraktionen“ wie „Betrug: Einsatz von Formen der Täuschung. Um eine Person abzulenken, zu manipulieren oder zur Mitwirkung zu zwingen“ (2) (Seite 65: „Reisebüromitarbeiteridentität“ zwecks Durchführung einer Fußmassage und Seite 151: Verkleidung, Sprache und Gestik einer Verwahrlosten, um die Pflegeverweigerung zu beenden) und „Infantilisieren“ (2) (Seite 151: Verwendung von Puppen bei der Grundpflege, Seite 154: Spielereien mit Rasierschaum) als praxistaugliche Beispiele und damit als Orientierungswissen an. Hier liegt somit ein klassisches Beispiel einer Falsifikation vor, indem Tanner unbeabsichtigt den Nachweis der Praxisferne und damit auch Untauglichkeit des Kitwood-Konzeptes erbringt.
- Der entscheidende Schwachpunkt der Argumentation ist aus der Sicht des Rezensenten jedoch das fehlende theoretische Wissen über die Erkrankung Demenz mit ihren verhaltensbezogenen Veränderungen und damit zugleich auch hieraus folgend die fehlenden praktischen Kenntnisse über die Regeln des Umgangs im fortgeschrittenen Stadium bei der Pflege und Betreuung. So wird z.B. strikt der Einsatz von Routinen in der Pflege abgelehnt, denn sie würden verhindern, dass sich die Demenzkranken im Heim wie zuhause fühlen könnten (Seite 89). Das Gegenteil jedoch ist der Fall. Denn erst durch die strenge Ritualisierung aller Pflege- und Betreuungsleistungen im Sinne einer Anpassungsstrategie an die verminderten kognitiven Kompetenzen bei angemessener Berücksichtigung der biografischen Eigenheiten der Erkrankten wird ein angemessenes Einleben in die Lebenswelt Pflegeheim ermöglicht (3).
Es bleibt das betrübliche Fazit zu ziehen, dass beim Fehlen von theoretischen und auch praktischen Erfahrungen und Erkenntnissen über Demenzen und die Demenzpflege kein neues Wissen über diese Gegenstandsbereiche entwickelt werden kann. Somit enthält das hier vorgestellte Modell einer so genannten „person-zentrierten Berührungskultur“ keine neuen Impulse für die Pflege und Betreuung Demenzkranker.
Literatur
- Sachweh, S. (2000) «Schätzle hinsitze!». Kommunikation in der Altenpflege (2., durchgesehene Auflage), Frankfurt am Main: Peter Lang.
- Kitwood, T. (2000) Demenz. Der personenzentrierte Ansatz im Umgang mit verwirrten Menschen. Bern: Verlag Hans Huber.
- Sachweh, S. (2008) Spurenlesen im Sprachdschungel. Kommunikation und Verständigung mit demenzkranken Menschen. Bern: Verlag Hans Huber (www.socialnet.de/rezensionen/6389.php)
Rezension von
Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind
Gerontologische Beratung Haan
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Zitiervorschlag
Sven Lind. Rezension vom 28.01.2019 zu:
Luke J. Tanner: Berührungen und Beziehungen bei Menschen mit Demenz. Ein person–zentrierter Zugang zu Berührung, Beziehung, Berührtsein und Demenz. Hogrefe AGHogrefe AG
(Bern) 2018.
ISBN 978-3-456-85855-5.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/24970.php, Datum des Zugriffs 24.09.2023.
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