Sonja Preissing: Jugend am Rande der Stadt
Rezensiert von Prof. Dr. Frank Eckardt, 07.02.2019

Sonja Preissing: Jugend am Rande der Stadt. Eine vergleichende Studie zu Marginalisierung und Raumaneignung in Deutschland und Frankreich. Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH (Wiesbaden) 2018. 388 Seiten. ISBN 978-3-658-23606-9. D: 49,99 EUR, A: 51,39 EUR, CH: 51,50 sFr.
Thema
Das Aufwachsen in benachteiligten Stadtteilen ist in Frankreich und Deutschland nach wie vor ein wichtiges wissenschaftliches und politisches Thema. Obwohl nun mit Programmen wie „Soziale Stadt“ und „politique de la ville“ jene Stadtteile, denen man heute euphemistisch lediglich einen „besonderen Handlungsbedarf“ zuerkennt, seit Jahrzehnten Aufmerksamkeit geschenkt wird, hat sich an der Stigmatisierung von Jugendlichen dort nichts geändert. Genauer betrachtet haben sie nur immer in Konjunkturen das Interesse von Politik und Sozialwissenschaften gefunden. Das gilt für Frankreich für die Zeit nach den Aufständen 2005 und in Deutschland immer dann, wenn es um Parallelgesellschaften geht. Aber was wissen wir wirklich über die Situation von benachteiligten und ausgegrenzten Jugendlichen?
Wie Sonja Preissing überblicksartig die Forschungsliteratur zusammenfassend darstellt, bleiben erhebliche Lücken. Anders als die stadtsoziologische Forschung, die sich über die objektiven Benachteiligungen wie fehlende Schulbildung, Arbeitsplätze, soziale Infrastruktur und soziale Segregation dem Thema widmet, geht es Preissing in ihrem Buch um das Aufdecken der Stigmatisierungen, mit denen die benachteiligte Jugendliche als „anders“ etikettiert werden. Randständiger Raum ist für sie „Raum des Wissens“ (S. 5), den es hinsichtlich der Reflektion über Prozesse der Marginalisierung in der Stadtgesellschaft zu analysieren gelte. Sie leistet damit einen Beitrag zur Erkenntnis der sozialen Ungleichheitskonstruktionen in den post-industriellen Gesellschaften der heutigen spätmodernen Stadtgesellschaften.
Autorin
Sonja Preissing wurde in Sozialwissenschaften an der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln promoviert. Sie leitet derzeit die Arbeitsstelle Kinder- und Jugendpolitik am Deutschen Jugendinstitut e.V.?
Entstehungshintergrund
Das Buch stellt die Publikation der Promotion der Autorin an der Universität zu Köln dar, die von der dortigen Humanwissenschaftlichen Fakultät im Juli 2016 angenommen wurde. Die Promotion wurde von Wolf-Dietrich Bukow und Alexa Färber begutachtet. Das Buch erschien in der Reihe „Interkulturelle Studien“ des Springer-Verlags.
Die Arbeit beruht auf einer eineinhalbjährigen Feldforschung zwischen 2012 und 2013 in Köln (Porz-Finkenberg) und Lyon (Vaulx-en- Velin und Bron).
Aufbau
Das Buch ist theoretisch durch unterschiedliche Diskurse zum Thema Marginalisierung motiviert.
- Die Autorin arbeitet diese fokussiert in der Einleitung und im Detail in den Kapiteln 2 bis 4 aus. Kurzgefasst nimmt sie die Position ein, dass erstens die Konstruktion des Bildes von der Jugend in einem hochkomplexen Prozess stattfindet. Dieser Prozess kann aber auf die Akteur/innen zurückgeführt werden, die in der Interaktion mit den Jugendlichen stehen oder sich mit dem Thema medial oder in der Verwaltung damit beschäftigen.
- Zweitens greift Preissing das Konzept der territorialen Stigmatisierung von Wacquant auf. Damit rückt für die Autorin die Frage nach dem Umgang der Jugendlichen mit diesen Stigmatisierungen in den Vordergrund.
- Drittens gliedert sie ihre Forschung in eine transnationale Perspektive ein. Damit soll verdeutlicht werden, inwiefern es sich bei den Praktiken der Akteur/innen um transnationale und globale Muster handelt.
Die Deutsche Nationalbibliothek bietet Einblick in das vollständige Inhaltsverzeichnis.
Inhalt
Im zweiten Kapitel des Buches – die Einleitung stellt das erste Kapitel dar – wird der Stand der Forschung zum Thema Jugend in marginalisierten Stadtteilen in Deutschland und Frankreich aufgearbeitet. Hierbei ist vor allem hervorzuheben, dass die Autorin an Studien anschließt, die die Raumaneignung von Jugendlichen und deren urbane Kompetenzen in den Mittelpunkt der Forschung stellen. Der damit geforderte Perspektivenwechsel in der Forschung wird weitergehend als Begründung einer transnationalen Forschungsperspektive verstanden.
Anschließend an die herausgestellte Bedeutung von Raumbildern, wird im dritten Kapitel die Konstruktion randstädtischer Räume als „Problemorte“ thematisiert. Hier wird eine zugespitzte Rekapitulation der Entstehungsgeschichte der erforschten Stadtteile in Köln und Lyon geleistet, die die gesellschaftliche Transformation der Großsiedlungen banlieues verständlich macht. Sowohl das Programm „Soziale Stadt“ als auch sein französische Pendant haben hingegen, wie die Autorin darstellt, nichts an der Stigmatisierung der Jugendlichen aus diesen Orte geändert. Kritisch verweist die Autorin auch auf den Anteil der Wissenschaft an der Konstruktion von „Problemstadtteilen“, wobei sie beispielsweise Hartmut Häußermann die Konstruktion von „reißerischen Bedrohungs- und Verfallszenarien“ (S. 49) vorwirft. Dem setzt die Autorin ihren Auffassung einer postmodernen Stadtgesellschaft gegenüber, in der es gelte, „Alltagsphänomene in ihrer Vielschichtigkeit und in ihren Ambivalenzen zu betrachten und zu analysieren“ (S. 63). Dabei agieren Jugendliche in der Stadt als einem Aushandlungsraum, in dem Machtinteressen und asymmetrische Verteilungen von Ressourcen vorwiegen.
Das vierte Kapitel reflektiert das methodische Vorgehen der Autorin in den beiden Fallstudien. Beschrieben wird ihr Ansatz, sich mit den neusten Überlegungen der Ethnographie zu translokalen oder multilokalen Kontexten zu beschäftigen. Hierbei begründet Sonja Preissing ihre Wahl, um Köln als ihr eigentliches Forschungsfeld zu betrachten und das Beispiel Lyon kontrastierend einzuführen. Zur eher klassischen teilnehmenden Beobachtung wurden auch noch Interviews mit den Jugendlichen und jugendnahen Akteuer/innen nach einer, der Grounded Theory nachgeformten Weise durchgeführt.
Zentrale Aufmerksamkeit in der empirischen Arbeit war die Identifikation von Prozessen des „Othering“. Im fünften Kapitel werden nun wesentliche Befunde zur randstädtischen Verortung der Jugendlichen dargelegt. Dieses Kapitel liefert einen umfassenden Einblick in die verschiedenen Formen der Repräsentation der Jugendlichen und der Stadtteile. Deutlich werden dabei auch Handlungsstrategien, wie mit den Stigmatisierungen umgegangen wird. Jedoch bleibt die assoziative Bewertung mit vorhandenen rassistischen und klassebezogenen Vorurteilen vorwiegend und hartnäckig. Das gilt insbesondere mit Bezug auf den Diskurs über den „Dreck“ und „Schmutz“. Das Kapitel zeigt auch erhellend auf, dass viele Akteur/innen durch eine Ambivalenz geprägt werden, die sie ebenfalls in Othering-Prozesse verstrickt.
Das mit über hundert Seiten umfangreiche sechste Kapitel reproduziert die ethnographischen Befunde zur Raumproduktion der Jugendlichen. Dabei stehen vor allem auch deren Praktiken der Umdeutung und des Widerstands gegen die Stigmatisierung im Vordergrund. Besonders interessant ist dabei die Konstruktion von Gegenbildern durch die Jugendlichen, den Stadtteil als stark und solidarisch zu repräsentieren. Auch dies ist nicht ohne Widersprüche und Ambivalenzen zu machen. So etwa grenzen sich Jugendliche wiederum auch von „Ausländern“ oder „Asozialen“ ab. Preissing zeigt zudem auf, wie solche Praktiken in transnationale Bilder eingerahmt sind, etwa durch den Hip Hop.
Das siebte Kapitel lässt sich als ein Fazit der Arbeit lesen. Dabei geht Preissingjedoch über eine reine Rückbindung ihrer Ergebnisse an die theoretischen Diskurse hinaus und sieht Möglichkeiten, aus den Deutungsmustern der Stigmatisierung durch die Jugendlichen zu Transformationsprozessen zu kommen. Hierbei schlägt sie vor, „Unterstützungskulturen“ und Räume für Bewohner/innen zu schaffen (S. 327). Dabei verweist sie zugleich darauf, dass auch die Gegenbilder der Jugendlichen an vorhandene dominante Diskurse anschließen, somit ein Aufbrechen von reduktionistischen Bildern schwierig erscheinen dürfte.
Diskussion
Der gewählte ethnographische Ansatz ist eine Bereicherung in der Erforschung der Lebensumstände in den benachteiligten Stadtteilen Frankreichs und Deutschlands. Er liefert den ethnographischen Blick, der bislang erstaunlicherweise im Diskurs über diese Stadtteile sowohl in der Wissenschaft als auch in der öffentlichen politischen Debatte fehlt. Überzeugend ist die Arbeit insbesondere dann, wo sie die Strategien des Othering aufdeckt und auch die Gegenwehr der Jugendlichen in ihrer Ambivalenz darlegt. Zurecht wird damit ein strukturalistisches Verständnis von Raum, sozialer Ungleichheit und Jugend überwunden, das sich lediglich aus der statistischen Verteilungsstruktur, etwa im Sinne von residentieller Segregation, ergibt. Auch wird die Rolle der Akteur/innen in ihrer Widersprüchlichkeit eindrucksvoll dargelegt und plausibel.
Während dieses Buch aus diesem Grunde als sehr lesenswert gelten kann, bleiben doch einige Fragen offen, die sich zwingend aufdrängen. Vor allem die Frage nach einer Politisierung der Stigmatisierung scheint überhaupt nicht aufzutauchen, weder bei den Jugendlichen noch bei der Autorin. Dies ist umso verwunderlicher, weil es insbesondere in der Geschichte der benachteiligten Stadtteile und der Ghettos in den USA und auch in Frankreich durchaus als politisch zu betrachtende Revolten und Reformbewegungen gegeben hat. Reicht es, um die Prozesse der Bild-Konstruktion vom bösen Ort aufzuzeigen und Räume für Bewohner/innen zu fordern? Es ist unklar, ob dies im übrigen Forderungen aus dem Munde der Jugendlichen sind. Macht sich nicht gerade im Hip Hop – nicht gerade immer nur progressiv – eine politische Stimme kenntlich, die keineswegs nur eine Unterstützungskultur will. Das politische Feld Bourdieus – das auch in Studien von Friedrichs und anderen nicht vorkommt – wäre hier durchaus ein analytischer Ansatz, um die Harmlosigkeit der Gegenstrategien zu erklären. Sie zu verstehen wäre zwingend, wenn man die Ungleichheiten und Benachteiligungen nicht nur darstellen will, sondern sie auch aufheben will.
Fazit
Endlich ein ethnographischer Einblick in die Lebenslage von Jugendlichen in einer stigmatisierten Großraumsiedlung in Deutschland! Kontrastierend und dadurch den Blick schärfend wird in diesem Buch auch der Vergleich mit zwei banlieues in Lyon dargestellt. Die Studie von Sonja Preissing füllt eine wichtige Forschungslücke, die die Prozesse der Marginalisierung und Stigmatisierung deutlich macht und dabei ein komplexes, vielschichtiges, ambivalentes und widersprüchliches Bild von dem Handeln von Jugendlichen und Akteur/innen zeichnet.
Rezension von
Prof. Dr. Frank Eckardt
Professor für sozialwissenschaftliche Stadtforschung an der Bauhaus-Universität Weimar
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