Ronald Lutz, Sarah Preuschoff (Hrsg.): ´Tanzende Verhältnisse´
Rezensiert von Prof. Dr. Joachim Thönnessen, 03.12.2018

Ronald Lutz, Sarah Preuschoff (Hrsg.): ´Tanzende Verhältnisse´. Zur Soziologie politischer Krisen.
Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2018.
280 Seiten.
ISBN 978-3-7799-2737-2.
D: 34,95 EUR,
A: 35,90 EUR,
CH: 45,90 sFr.
Reihe: Edition Soziologie.
Thema
Die Berechenbarkeit und Ordnung moderner Institutionen ist für einen großen Teil der Bevölkerung in weite Ferne gerückt. Bürokratische und routinemäßige Strukturen bestehen parallel zu einem umfassenden und durchdringenden Gefühl der Unsicherheit und Ungewissheit. Die Soziologie hat diesem Umstand Rechnung zu tragen. Hat sie sich bislang in großem Umfang mit den routinemäßigen, gewöhnlichen Strukturen des täglichen Lebens beschäftigt, sollte sie sich nun mehr der Erforschung von Krisenzuständen und Ungewissheit widmen. Die Beiträge des vorliegenden Bandes zielen in diese Richtung.
Herausgeberin und Herausgeber
Ronald Lutz ist Soziologe und Ethnologe. Seit 1993 ist er Professor an der Fachhochschule in Erfurt, Fakultät Angewandte Sozialwissenshaften, mit dem Schwerpunkt Besondere Lebenslagen. Sarah Preuschoff ist zwar Mitherausgeberin, wird in dem Buch ansonsten nicht erwähnt.
Entstehungshintergrund
Das Buch bündelt zum einen Beiträge einer im Wintersemester 2016/17 durchgeführten Ringvorlesung zum Thema „Politische Krisen – Herausforderungen“. Zum anderen integriert es auch speziell von der Herausgeberin und dem Herausgeber für den Sammelband angefragte Beiträge.
Aufbau
Neben einem kurzen Vorwort beinhaltet der Sammelband 17 jeweils etwa 15–20 Seiten starke Beiträge. Diese werden thematisch in der Gliederung nicht weiter gebündelt. Die VerfasserInnen reichen von Studierenden über (ehemalige) MitarbeiterInnen im Forschungs- und Arbeitsbereich Internetsoziologie der Hochschule Fresenius in Berlin bis hin zu jüngeren und älteren ProfessorInnen, die soziologische Professuren vertreten (haben).
Inhalt
Es sollen und können hier nicht alle 17 Beiträge umfassend beschrieben werden. Stattdessen will ich versuchen, die einzelnen Beiträge kurz zu beschreiben, indem ich die mit ihnen verbundene jeweilige (offene oder verdeckte) Absicht bzw. Zielsetzung erläutere.
Der erste Beitrag (Ronald Lutz: „Tanzende Verhältnisse“) erläutert u.a. den Ursprung des Buchtitels: Karl Marx war es, der versteinerte Verhältnisse zum Tanzen zwingen wollte, indem er ihnen ihre eigene Melodie vorsang (S. 12). Tanzende Verhältnisse sieht Lutz heute „in aktuellen Debatten zum Populismus, zu Krisen, zur Beschleunigung, zu Katastrophen und zu Verwandlungen der Welt…“ (S. 13). Sein Überblicksartikel endet mit Appellen für „Eine neue Wissenschaft?!“ (S. 38), „Melodien finden“ (S. 40) und „Utopia“ (S. 44).
Dieter Senghaas („Europa im Spannungsfeld geokultureller Entwicklungen. Veränderungen von Werteorientierungen im europäischen Kulturraum und in anderen Weltreligionen“) fragt, wie sich Europa in den kommenden Jahrzehnten im Spannungsfeld geokultureller Entwicklungen positionieren kann und welche politischen und kulturellen Werte dann gelten werden. Ulrike Guérot („Ein neuer Bürgerkrieg. Europa zwischen Geist und Ungeist“) beschreibt die verbale Aufrüstung rechtsgerichteter Politiker und Politikerinnen in Europa als eine Art „neuer europäischer Bürgerkrieg“, in dem eine „fast prärevolutionäre Situation“ herrscht (S. 61). Wolf Wagener („Politische Krise – Wenn gesellschaftliche Unterströmungen die Politik ins offene Meer reißen“) nennt zunächst zwei Werke, die in der deutschen Politikwissenschaft die Theorie der politischen Krise bis in die heutige Zeit hinein beeinflussen: Aufsätze aus dem Sammelband von Claus Offe („Strukturprobleme des kapitalistischen Staates“ (1972)) und das Buch „Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus“ von Jürgen Habermas (1973). Bei seiner eigenen Analyse politischer Krisen konzentriert sich Wagener auf die Legitimationskrise (S. 77) und wie sinnvoll auf sie reagiert werden kann (S. 89ff).
Andreas Mix („Transparenz als neoliberale Kategorie. Die autoritäre Herausforderung der kommunikativen Macht etablierter Demokratien“) begreift den Aufstieg eines antidemokratischen Populismus als Herausforderung für die Linke, „eine neue Idee von einer zukünftigen demokratischen Einhegung des Kapitalismus zu entwickeln“ (S. 94). Er versucht in seiner Analyse, „einige der vielfältigen Verbindungen zwischen neoliberaler politischer Ökonomie und Verfallserscheinungen der Demokratie aufzuschlüsseln“ (ebd.). Silke van Dyk („Mehr oder weniger. (Post-)Wachstum und die soziale Frage im Gegenwartskapitalismus“) verfolgt die Frage, „wie eine emanzipatorische soziale Politik aussehen kann, die sowohl die Grenzen des Wachstums, die Errungenschaften sozialer Bewegungen wie auch die globale Dimension der sozialen Frage ernst nimmt“ (S. 105). Reimer Gronemeyer und Michaela Fink („Digitale Verwahrlosung oder Chancen der Informationsgesellschaft? Vom Ausbruch aus den Verliesen der Bildungseinrichtungen“) charakterisieren den Hang zur digitalen Verwahrlosung und die Gefahr, „dass das familiale und persönliche Innenleben zur Show verkommt, nur noch gedacht wird unter dem Gesichtspunkt: Wie poste ich das?“ (S. 125). Aram Ziai („Neokolonialismus und Globalisierung“) gibt einen Überblick über die verschiedenen Bereiche der globalisierten Ökonomie von Strukturanpassung über Entwicklungszusammenarbeit bis hin zu Agrarpolitik und macht die Staaten Westeuropas und Nordamerikas mit „einer an den Interessen 'ihrer' Unternehmen und Banken orientierten Politik verantwortlich für die als neokolonial kritisierten Asymmetrien und Praktiken“ (S. 150). Manon Clasen, Denise Burkert und Stephan G. Humer („Terrorismus 2.0. Die internetsoziologische Perspektive“) fassen gegenwärtige Praxen von Cyberterrorismus und Cyberextremismus zusammen und warnen vor dem „echten“ Cyberterrorismus, d.h. „dass Menschen durch eine digitale Attacke zu Schaden kommen werden“ (S. 159).
Philipp Staab („Souveränitätskrisen im digitalen Kapitalismus“) stellt die folgende Hypothese auf (und geht dieser in seinem Artikel nach): „Nur durch eine systematische Analyse des Zusammenhangs der radikalen Kommerzialisierung und oligopolistischen Vermachtung des Internets…sowie seiner politischen Kontrolle…lässt sich das wahre Ausmaß der Souveränitätskrisen im digitalen Kapitalismus erfassen“ (S. 168). Ingmar Kumpmann („Digitalisierung und Strukturwandel sozial gestalten“) plädiert dafür, die sich in vollem Gang befindliche Digitalisierung sozial zu gestalten. Miriam M. Müller („Von der Idee zum 'real existierenden Kalifat'. Über Erfolg und Grenzen des 'Islamischen Staates' “) spürt den möglichen Gründen für den durchschlagenden Erfolg des Kalifatsprojektes nach „und hofft, mit Blick auf die materielle und ideelle Reichweite der Kalifatsidee, auch die Grenzen dieses Erfolges aufzeigen zu können“ (S. 190).
Saba-Nur Cheema („Muslimisch, religiös, radikal. Eine bildungskritische Analyse eines gesellschaftlichen Diskurses“) diskutiert den gesellschaftlichen Diskurs übe den Islam und Musliminnen im Hinblick auf Implikationen für die praktische Bildungsarbeit (S. 205). Ronald Lutz („Zorn Gottes – Fundamentalismus und Gewalt“) untersucht die Debatte um die originäre Gewalt des Fundamentalismus. Marina Chernivsky und Doron Kiesel („Müssen wir wieder Angst haben?“) beschreiben den gegenwärtigen Antisemitismus als eine „vertraute“ Projektionsfläche, die auch in der Mitte der bundesrepublikanischen Gesellschaft „tief verankert“ ist (S. 239). Für Nils Schuhmacher („Black Box (De-)Radikalisierung. Bausteine für den reflexiven Umgang mit einem kategorialen Begriff“) sind Prozesse der Radikalisierung (und der De-Radikalisierung) eine Art „Black Box“ (S. 254). Er betont die Notwendigkeit eines reflexiven Umgangs mit dem Kategorialbegriff „Radikalisierung“ (S. 262). Stephan Rammler („Schiffe bauen. Über die Kunst, Zukunft anders zu erzählen“) beschäftigt sich auf philosophische Weise mit der sozialen Wirkungskraft des „großen Wollens“ und grenzt diese vom vorherrschenden „großen Müssen“ in der Finanzkrise, Wachstumskrise, Umweltkrise, Energiekrise etc. ab (S. 266).
Die Deutsche Nationalbibliothek bietet Einblick in das vollständige Inhaltsverzeichnis.
Diskussion
Den Leser/die Leserin erwartet eine Vielzahl von Artikeln zu unterschiedlichen Themen, verfasst von einer heterogenen AutorInnenschaft. Der Verdienst der Herausgeber liegt ohne Zweifel darin, die inhaltliche Vielfalt in einem Sammelband integriert zu haben. Aber darin liegt auch ein Problem, denn in Anbetracht von so viel Vielfalt lässt sich das Gemeinsame nicht mehr erkennen. Die „Neue Unübersichtlichkeit“, einst ein Titel von Jürgen Habermas (1985), in dem er das Vordringen des Neokonservatismus im geistigen und politischen Leben der USA und der Bundesrepublik, die Krise des Wohlfahrtsstaates und die Erschöpfung utopischer Energien charakterisierte, geht inzwischen einher mit einer neuen Unverbindlichkeit – von der Politik (Schäfer 2005) bis hin zu Liebe und Partnerschaft (Illouz 2017; 2018). Diese unübersichtliche Unverbindlichkeit bzw. unverbindliche Unübersichtlichkeit ist es, die dem hier zu besprechenden Sammelband zugrunde liegt, ihn aber gleichzeitig mit der Forderung nach einem zugrundeliegenden Ordnungsschema konfrontiert. Eine thematische Unterteilung in Kapitel hätte dem Band gut getan.
Fazit
Ein unübersichtlicher Sammelband zum Thema „Soziologie politischer Krisen“, der für den geneigten Leser / die geneigte Leserin vielleicht das eine oder andere interessante Thema enthält.
Rezension von
Prof. Dr. Joachim Thönnessen
Hochschule Osnabrück, Fakultät Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Studium der Philosophie und Soziologie in Bielefeld, London und Groningen; Promotion in Medizin-Soziologie (Uniklinikum Giessen)
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