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Meike Haunschild: "Elend im Wunderland"

Rezensiert von Prof. Dr. Ernst-Ulrich Huster, 17.12.2018

Cover Meike Haunschild: "Elend im Wunderland" ISBN 978-3-8288-4067-6

Meike Haunschild: "Elend im Wunderland". Armutsvorstellungen und soziale Arbeit in der Bundesrepublik 1955-1975. Tectum (Baden-Baden) 2018. 506 Seiten. ISBN 978-3-8288-4067-6. D: 88,00 EUR, A: 90,50 EUR.

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Thema

Armut in Deutschland war nach dem 2. Weltkrieg ein Massenphänomen: Folge von Krieg, Vertreibung, insgesamt einer wirtschaftlich desaströsen Lage. Weite Teile der ersten politischen Maßnahmen auf kommunaler, dann auf Landes- und schließlich auf Bundesebene dienten der Linderung und erst später der Bewältigung des menschlichen „Elends“. Doch dann setzte der wirtschaftliche Aufstieg ein, früher und schneller als zunächst erwartet. Die Lebensverhältnisse verbesserten sich allmählich. Mit der großen Rentenreform 1957 und dann mit der Reform der Kriegsopferversorgung erreichte der wirtschaftliche Aufschwung nunmehr auch Kreise, die vormals das Hauptkontingent unter den Empfängerinnen und Empfängern von Fürsorgeleistungen stellten.

Helmut Schelsky diagnostizierte in den 1950er Jahren, die westdeutsche Sozialstruktur sei eine „nivellierte Mittelschichtengesellschaft“, ohne dies empirisch belegen zu können oder zu wollen. „Elend“ bzw. Armut erschienen so als vorübergehender, durch den Krieg verursachter Notstand, der Verbleib in dieser Lage nach Überwindung der Kriegsfolgen folglich als selbstverschuldet, damit an geschichtliche Bilder aus der Armutsverwaltung anknüpfend.

Die bisherige Armutsforschung hat diesen Zeitabschnitt zwischen Beginn des Wirtschaftswunders und der einsetzenden Politik der inneren Reformen weitgehend vernachlässigt, obwohl es parallel zu diesem rückwärtsgewandten Blick auf die Nachkriegsnot schon in den 1950er und 1960er Jahren zu einer Neuausrichtung nicht nur der Sozialpolitik hin zu einer umfassenden Gesellschaftspolitik gekommen war, sondern auch zu einer Neubestimmung von Armut insgesamt. Diese wurde in diesem Zeitraum zunehmend als das Ergebnis sozialer Ausgrenzung begriffen – deutlich gemacht am Umgang mit Nichtsesshaftigkeit bzw. Obdachlosigkeit. Armut wurde nunmehr – auch unter dem Einfluss der 1968er Bewegung – sozialen Kontexten zugeordnet und damit ihre Bekämpfung als politische (Dauer-) Aufgabe verstanden. Dieser leider in vielen Studien weitgehend ausgesparte wichtige Armutsdiskurs vom Beginn der Restitutionsphase der westdeutschen Wirtschaft bis hin zur gründlichen Überholung des Sozialstaates in den 1970er Jahre wird durch die nun vorgelegte Studie materialmäßig und analytisch sehr gründlich aufbereitet, sodass zumindest Teile der Geschichte der Sozialpolitik in (West-) Deutschland in den 1950er und 1960er Jahren neu bewertet werden müssen.

Autorin

Maike Haunschild studierte Kulturwissenschaft, Geschichte und Geografie an der Universität Bremen und der Università degli Studi di Torino (Italien). Ihr Studium schloss sie 2009 mit ihrer Magisterarbeit: „Feindbild ‚Russe‘ – Kontinuität und Wandel im Umgang mit ehemaligen Zwangsarbeitern nach '45. Analyse eines Fallbeispiels“ ab. Danach bearbeitete sie im Rahmen des DFG-Projekts „Armut in Deutschland 1950-1990“ das Teilprojekt „Nationale Armutsdebatten in der BRD und der DDR 1955-1975“. 2017 schloss sie ihre Promotion mit der vorgelegten Studie ab. 2018 war sie Lehrbeauftragte an der Universität Bremen. Seit 2018 ist sie als Campaignerin bei Campact e.V. tätig. Parallel zur Arbeit an ihrer Dissertation hat sie mehrere Beiträge zur Sozialpolitik veröffentlicht.

Aufbau

Der Band gliedert sich in drei Großkapitel mit jeweiligen Unterkapiteln.

  1. Teil I umfasst den bundesdeutschen Armutsdiskurs auf dem Hintergrund der konkreten Sozialpolitik in der Nach-Nachkriegszeit: Vom Umgang mit der Nachkriegsarmut bis hin zur Sozialreform.
  2. Teil II verfolgt die Entwicklung der Wohlfahrtspflege in dieser geschichtlichen Epoche (zwei Unterkapitel): die zunehmende Professionalisierung der Armenfürsorge und eine sukzessive Veränderung der ihr zugrunde liegenden Leitbilder, damit insgesamt die Neubestimmung des Verhältnisses von Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit.

  3. Teil III schließlich beschreibt soziale Veränderungen und mentale sowie praktische Kontinuitäten in der Sozialen Arbeit (ebenfalls zwei Unterkapitel). Hier steht der zunehmende Prozess der Politisierung der Sozialen Arbeit im Zentrum, doch gleichzeitig wird auch unter Bezug auf ikonografisch tradierte Bilder von Armut die Fortexistenz überlieferter Vorstellungen herausgearbeitet. Eine Bilanz schließt dieses Kapitel ab.

Die Deutsche Nationalbibliothek bietet Einblick in das vollständige Inhaltsverzeichnis.

Zu Teil I

Der sozialpolitische Diskurs in den 1950er Jahren oszillierte zwischen dem teils noch nachwirkenden, teils zumindest noch in Erinnerung gebliebenen Massenelend der Nachkriegszeit und dem Versprechen Ludwig Erhards von einem „Wohlstand für alle“. Dies mündete in der Frage, was den Vorrang haben soll: Sicherheit oder Freiheit. Vertreter unterschiedlicher Positionen in Politik, Wissenschaft und veröffentlichter Meinung werden in Teil I breit dargestellt.

Zugleich wird der politische Prozess der Kompromisssuche beim Dauerthema der 1950er Jahre, nämlich der Sozialreform, auf der Grundlage eigenen Quellenstudiums und unter Heranziehung der wichtigen Studien von Hans Günter Hockerts herausgearbeitet. Die stärker wirtschaftsliberal bzw. gesellschaftspolitisch konservativ ausgerichteten sozialen und politischen Kreise setzten auf die Tradition der früheren Armenfürsorge und Sozialpolitik. Doch kamen zunehmend sozialreformerische, an den Grundnormen des Grundgesetzes vom sozialen Rechtstaat anschließende Kräfte zum Tragen – nicht zuletzt gestützt auch durch die höchstrichterliche Rechtsprechung (s. Bundesverwaltungsgericht von 1954: „Recht auf Fürsorgeleistungen“ – S. 69).

Die materialreiche Durchforstung dieses durch starke Pendelbewegungen bestimmten politischen Prozesses macht deutlich, wie gerade in dieser Zeit grundsätzlich neue soziale Sicherungssysteme geschaffen worden sind – am deutlichsten mit dem Prinzip der dynamischen Rente und dem darin zum Ausdruck kommenden Prinzip der Lebensstandardsicherung.

Die Autorin resümiert diesen Prozess mit den Worten: „Denn die Frage nach dem richtigen Verhältnis von Sicherheit und Freiheit, von staatlicher Verantwortung und Eigenvorsorge zielte auf die Problematik, jeder Bundesbürgerin und jedem Bundesbürger ein Leben in Würde zu garantieren und dem Staat gleichzeitig nicht zu große Einflussmöglichkeiten auf das Leben des Einzelnen einzuräumen.“ (S. 104)

Zu Teil II

Das erste Unterkapitel in Teil II entfaltet sehr detailliert die Entwicklung von der Leitbild gebundenen Armenfürsorge hin zu einer professionalisierten, auf wissenschaftlicher Grundlage agierenden Sozialen Arbeit im Verbund der freien Wohlfahrtspflege. Zugleich werden Entstehungsprozess und die Ausgestaltung des Wohlfahrtstaates in Deutschland insbesondere im 19. und 20. Jahrhundert nachgezeichnet. Maike Haunschild erfasst dabei das gesamte Spektrum der Wohlfahrtsverbände, konzentriert sich jedoch bei der detaillierten Betrachtung auf den katholisch ausgerichteten, eher konservativen Caritasverband und die sozialdemokratisch verortete Arbeiterwohlfahrt, um solchermaßen einerseits die voneinander abweichende Wertebindung, zum anderen aber auch deren Lösung daraus beschreiben zu können.

Trotz unterschiedlicher Ausgangspositionen nach 1945 – institutionelle Fortexistenz der Caritas im Faschismus, notwendiger Neuanfang der AWO – und trotz unterschiedlicher Zielvorstellungen – Rechristianisierung auf der Grundlage einer starken Familienorientierung versus stärkerem Selbsthilfeansatz und Bezug auf soziale Grundrechte – kommt es über den Weg der Professionalisierung und Verwissenschaftlichung bei beiden Wohlfahrtsverbänden zur Herausbildung von starken Dienstleistungsstrukturen, beim DCV früher, bei der AWO erst in den 1980er Jahren.

Die vorgelegte Studie hebt sodann im Berichtsteil über den Deutschen Städtetag die massiven Lasten hervor, die die Kommunen bei der Bewältigung der Nachkriegsnot tragen mussten. Doch trotz der Neuausrichtung der sozialen Sicherungssysteme verharren Teile der Bevölkerung in Armut. Es wird deutlich, dass Armut und soziale Ausgrenzung keineswegs bloß Nachkriegsphänome waren bzw. sind, dass vielmehr neue Aufgabenstellungen und Bedarfe auf die Soziale Arbeit zukommen. Neue Ausbildungsstandards in diesem Metier werden gefordert. Der DCV tritt in diesem Zusammenhang offensiv für eine freie Trägerschaft der 1971 neu gegründeten Fachhochschulen des Sozialwesens ein – erfolgreich, wie sich bis heute zeigt. Veränderte Problemlagen, Lockerung von weltanschaulichen Bindungen, Verwissenschaftlichung und vor allem auch die Internationalisierung der Sozialen Arbeit (v.a. Blick nach den USA) verändern die Ansichten über soziale Ausgrenzungsprozesse: „Denn der Rückgang der Religion als Legitimationsgrundlage für wohlfahrtspflegerisches Handeln ermöglichte es, auch soziale Problemlagen als gesellschaftlich zu bekämpfende Armut anzuerkennen, die vormals als Folge individueller, den sozialen Normen widersprechender Lebensführung betrachtet worden waren.“ (S. 223)

Das zweite Unterkapitel in Teil II bearbeitet intensiv den Wandel der Sozialen Arbeit und der ihr zugrunde liegenden weltanschaulichen Grundlagen. Letztlich geht es um den Weg von der paternalistischen Fürsorge hin zu einem partnerschaftlich ausgerichteten Hilfe- und Unterstützungssystem. Die Autorin setzt an dem der traditionellen Sozialen Arbeit zugrunde liegenden Familien- und Frauenbild an, das von der „Andersartigkeit“ der Frau ausging, deren Aufgabe es vor allem sei, die Familie als Keimzelle der Gesellschaft fürsorglich zu gestalten. In dieser ihrer Aufgabenstellung war die Frau staatlicherseits zu unterstützen, der Familie insgesamt wurden wichtige materielle und immaterielle Hilfen angeboten, wobei Familie immer noch aus dem bürgerlichen Kontext heraus definiert wurde, obwohl sich die proletarische Familie von vornherein davon abhob, abheben musste (S. 237). Die AWO hingegen forderte, in der Tradition der Arbeiterbewegung stehend, die Gleichstellung der Frau und damit eine Abkehr von der Vorherrschaft der Hausfrauenehe. Neben dieser weltanschaulich geprägten Ausgangsposition der Sozialen Arbeit und dem – vorerst noch dezenten – Dissens innerhalb der Wohlfahrtspflege darum, bestimmte vor allem eine Organisationsfrage die Diskussion um die Soziale Arbeit, nämlich die Frage nach den Folgerungen aus dem Subsidiaritätsprinzip. Diese im BSHG von 1961/62 organisationstechnisch in einen Vorrang der freien vor der öffentlichen Wohlfahrtspflege ausgestaltete Hierarchie sozialer Interventionen stieß insbesondere bei der SPD im Bundestag, bei SPD-geführten Landesregierungen und bei der AWO auf Widerstand, allerdings blieb die diesbezügliche Klage einiger Bundesländer vor dem Bundesverfassungsgericht erfolglos. Die Kommunen sahen hierdurch ihr Recht auf kommunale Selbstverwaltung unterminiert. Der Konflikt ist inzwischen faktisch entschärft, besteht aber systematisch fort: „Zum einen ging es dem Caritasverband wie den Kommunalvertretern und der Arbeiterwohlfahrt darum, durch strategisches Verhalten den eigenen Einflussbereich zu erweitern. Zum anderen hatte der Subsidiaritätsstreit für alle drei Akteure die Bedeutung einer Grundsatzdiskussion, bei der ein Abrücken von der eigenen Position das eigene Selbstverständnis beziehungsweise Weltbild in Frage gestellt hätte.“ (S. 265)

Doch neue Probleme kamen auf die Soziale Arbeit zu, letztlich bestimmt von dem „Paradoxon der liberalen Demokratie“ (Hans-Günter Hockerts), die zwar auf der Idee der politischen Gleichheit beruhe, sich gleichzeitig aber auf eine Marktökonomie stütze, die „unablässig soziale Ungleichheit“ reproduziere (S. 268). Sozialpolitik und Soziale Arbeit suchen hier nach einem Ausgleich bzw. nach neuen Vermittlungsstellen. Die Autorin arbeitet die Entstehung eines erweiterten Armutsbegriffs heraus. Es wird nun nach Ansätzen gesucht, soziale Problemlagen präventiv zu verhindern bzw. durch Rehabilitation zu überwinden. Teilhabe – zunächst vor allem von der AWO programmatisch gefordert – wird etwa im Altenhilfebereich zu einem neuen Leitbegriff. Die „langen“ 1960er Jahre (Detlef Siegfried) schließlich leiteten auch eine Neubestimmung des Frauenbildes ein und suchten nach Wegen, den Obrigkeitsstaat mental zu überwinden (beispielhaft Reform des § 218 StGB). Am Ende steht Heiner Geißlers provokante Streitschrift von der „neuen sozialen Frage“, durch die der Armutsbegriff einerseits insbesondere in Richtung immaterieller Folgen neu bestimmt wird, zugleich aber die unterschiedlichen Gesellschaftsbilder erneut scharf gegeneinander gestellt werden: Emanzipation mit den unwägbaren Folgen für den Einzelnen bzw. die Einzelne oder Einordnung in ein hierarchisch gegliedertes soziales System mit subsidiärer Zuständigkeit und auch statusmäßigen Zuschreibungen.

Zu Teil III

Die Überschrift des III. Teils fasst präzise den Inhalt zusammen „…zwischen sozialen Veränderungen und mentalen Kontinuitäten“ (S. 325), um sogleich, Ulrich Herbert zitierend, mit einer klaren These fortzufahren: Nicht die Vertreter der 68er Generation hätten das 20. Jahrhundert geprägt, sondern die 45er Generation: „Denn ihre Vertreter seien es gewesen, welche seit Beginn der 1960er Jahre die Orientierung an den Leitbildern der Jahrhundertwende aufbrachen und damit nach der institutionellen Demokratisierung und der außenpolitischen Westorientierung die innere Liberalisierung und Demokratisierung der Gesellschaft nachzuholen begannen – nicht auf revolutionäre, wohl aber auf kontinuierlich-pragmatische, die bürgerlichen Umgangsformen wahrende Weise.“ (S. 330)

Diesen Wandel verdeutlicht Meike Haunschild exemplarisch an vier Bereichen:

  1. Zum ersten am Wechsel der Wahrnehmung von und dem Umgang mit Obdachlosen – vom Bild der gleichsam als nicht änderbar angesehenen Randständigkeit hin zu gesellschaftskritisch fundierten Neuansätzen.
  2. Zum zweiten beim Umgang mit den sog. „Unangepassten“ und der Überwindung der „Bewahrungsidee“, nach der Personen ohne Vorliegen einer Eigen- oder Fremdgefährdung über die Volljährigkeit hinaus gleichsam in Arbeitshäusern verwahrt werden konnten, bis das Bundesverfassungsgericht durch Urteil 1967 diese noch im neu verabschiedeten BSHG vorgesehene Regelung für verfassungswidrig erklärte.
  3. Drittens entfaltete die Soziale Arbeit mit der Gemeinwesenarbeit einen neuen, sozialen und politischen Ansatz der Partizipation von Gruppen, die sozial ausgegrenzt waren. Hier leistete in Deutschland, aber auch in vielen anderen Ländern die studentische Protestbewegung der 1960er Jahre einen wichtigen Beitrag.
  4. Viertens schließlich zeichnet die Autorin am Beispiel des Konflikts zwischen Caritasverband und seiner Jugendorganisation den mühsamen Prozess einer Neujustierung der Caritasarbeit nach, zu der dieser Streit einen wichtigen Beitrag geleistet hat. Trotz Bruch mit der Jugendorganisation sah auch die Caritas schließlich ein Ende „patriarchalischer Barmherzigkeit“ als gekommen an (S. 410).

Doch auch das andere gilt: Die Ikonografie der Armut setzt ihre Stereotypen lange über diesen verbandsinternen und politischen Umdenkungsprozess fort. Die vorliegende Studie verlässt bewusst den Rahmen klassischer Dokumentensichtung und bezieht in einem eigenen Unterkapitel in Teil III Bildmaterial, Sprachbilder, Symbole von Wohlstand bzw. Armut und Rituale bzw. Ritualisierungen mit ein. Die „Konjunktur der milden Herzen“ (Peter Brügge) zu Weihnachten gilt heute wie in früheren Zeiten, nur dass heute vielleicht weniger die ungebratene Gans am Heiligen Abend in eine „Siedlung am Rande der Stadt“ transportiert wird (deren Kochmöglichkeiten weit überfordernd), sondern eher im Supermarkt oder Kaufhaus Geschenkangebote für bedürftige Kinder finanziert werden. Auch die Mildtätigkeit der Spender ist professionalisiert worden, der Wertebezug tritt in den Hintergrund. Doch „Darstellungsweisen von Armut“ haben sich insgesamt als recht konstant erwiesen (S. 463).

Die Lösung von festen Wertvorstellungen bedeutet eine Erweiterung der Armutsvorstellungen hin zu einer eher offeneren Gesellschaft – was aber nicht bedeutet hin zu einer Gesellschaft mit gleichen Aufstiegschancen. Es kam im Prozess von Mitte der 1950er Jahre bis Mitte der 1970er Jahre zu einer stärkeren Betonung sozialer Rechte, der sich letztlich auch konservative Kreise nicht entziehen konnten.

Diskussion

Ohne Zweifel ging es nach dem Ende des 2. Weltkrieges zunächst und vor allem um existentielle Fragen bei der Armutsbekämpfung wie Ernährung, Wohnen, gesundheitliche Versorgung, Verkehrsinfrastruktur und auch um die Wiederaufnahme des Schulbetriebs. Dabei musste improvisiert werden – auch und gerade auf dem Hintergrund von Erfahrungswerten, Handhabungen und Zielvorgaben aus den Notphasen nach dem 1. Weltkrieg, Hyperinflation und Weltwirtschaftskrise. Der ökonomische Wiederaufstieg begann rascher als erwartet, er war aber weniger ein „Wunder“ sondern Ergebnis wirtschaftlicher Interessen v.a. der USA, der Nachfrage aus anderen europäischen Ländern nach in Deutschland herzustellenden Investitionsgütern und schließlich auch Folge des Ausbruchs des Korea-Krieges. Nun konnte auch sozialpolitisch weitergedacht werden.

Die große Diskussion über die Notwendigkeit und Möglichkeit einer Sozialreform setzte ein. Es galt, die Opfer des 2. Weltkrieges sozialrechtlich abzusichern, sodass Not und Elend beseitigt werden konnten. Verlauf und Ergebnis dieser Diskussion sind breit aufgearbeitet worden. Defizitär allerdings blieb bislang die andere Seite, nämlich die verbliebene Armut, die nun nicht mehr umstandslos auf die Kriegsfolgen zurückgeführt werden konnte. Spannend ist der in dieser Studie nachgezeichnete Prozess, wie traditionelle Armutsbilder nicht mehr tragfähig sind – teils Folge der sozialen Neuordnung über das Grundgesetz, teils als Folge des beachtlichen Wohlstandes im Lande, teils als Folge neuer sozialer Standards im Alltagsleben. Sowohl bei eher konservativen als auch bei eher progressiv eingestellten Sozialverbänden wird intern diskutiert, Wissenschaft und veröffentlichte Meinung beteiligen sich daran. Am Ende kommt es insgesamt zu einer Modifikation des ehedem paternalistischen Fürsorgeverständnis und zur Formulierung partizipativer Vorstellungen von Sozialer Arbeit, zu einer Pluralisierung des Meinungsspektrums und schließlich im Rahmen der Politik der inneren Reformen zu einer auch noch stärkeren Reform der Systeme der sozialen Sicherung. Verbunden ist dieser Prozess zugleich mit einer abnehmenden Wirksamkeit traditioneller Leitbilder, sei es aus der christlichen Nächstenliebe, sei es aus der Idee der Arbeiterselbsthilfe: Armut wird als ein multifaktoriell verursachter Zustand erkannt, der auch nur mehrdimensional bearbeitet werden kann – dabei professionell ausgerichtet und getragen von national und international gewonnenen wissenschaftlichen Erkenntnissen. Aber Armut bleibt zugleich immer auch ein politischer Skandal – der Streit um die „neue soziale Frage“ (Heiner Geißler) bzw. um die „Neue Armut“ (Werner Bahlsen u.a.) steht exemplarisch dafür.

Fazit

Die vorliegende Studie liefert in doppelter Hinsicht wichtige neue Erkenntnisse. Zum einen ist die ungeheuer intensive und analytisch klug aufbereitete Materialsichtung von innerverbandlichen Auseinandersetzungen und Neubestimmungen beim Umgang mit Armut in den „langen“ 1960er Jahren hervorzuheben. Meike Haunschild schließt eine wichtige Lücke und setzt damit die verdienstvollen Studien von Christoph Sachße und Florian Tennstedt fort. Zum zweiten werden der Meinungsbildungsprozess und die praktisch politische Umsetzung im Umgang mit Armut von der paternalistischen Armenfürsorge hin zu demokratischen, rechtsstaatlichen und partizipativen Ansätzen klug heraus gearbeitet, zugleich das Für und Wider, das Auf und Ab verdeutlichend. In dieser Zeit wurden eben nicht nur die großen Sicherungssysteme neu justiert, sondern auch die lokale Fürsorge wurde sukzessive neu bewertet. Die Studie macht klar: Das BSHG von 1961/62, die Neubestimmung des sozioökonomischen Existenzminimums, Neuansätze der Sozialen Arbeit beim Umgang mit Menschen in besonders prekären Lebenslagen haben eine Vorgeschichte – eine wechselvolle, aber eine, die Neuerungen schafft, allerdings solche, die immer wieder verteidigt werden müssen. Zugleich bleiben Forderungen nach weiteren Verbesserungen, die formuliert und über soziale und politische Träger durchgesetzt werden müssen.

Rezension von
Prof. Dr. Ernst-Ulrich Huster
Evangelische Hochschule RWL Bochum und Justus Liebig-Universität Gießen
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Es gibt 7 Rezensionen von Ernst-Ulrich Huster.

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Zitiervorschlag
Ernst-Ulrich Huster. Rezension vom 17.12.2018 zu: Meike Haunschild: "Elend im Wunderland". Armutsvorstellungen und soziale Arbeit in der Bundesrepublik 1955-1975. Tectum (Baden-Baden) 2018. ISBN 978-3-8288-4067-6. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/24996.php, Datum des Zugriffs 07.12.2024.


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