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Herbert Effinger: Beratung in der Sozialwirtschaft

Rezensiert von Peter Schröder, 07.05.2019

Cover Herbert Effinger: Beratung in der Sozialwirtschaft ISBN 978-3-525-40623-6

Herbert Effinger: Beratung in der Sozialwirtschaft. Ungewissheiten als Chance kreativer Problemlösungsstrategien. Vandenhoeck & Ruprecht (Göttingen) 2018. 114 Seiten. ISBN 978-3-525-40623-6. D: 12,00 EUR, A: 13,00 EUR.
Reihe: Beraten in der Arbeitswelt.

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Thema

Wer Beratungsleistungen im Kontext sozialer Arbeit anbietet, kennt das Thema nur zu gut: Die „SorgearbeiterInnen“, wie Effinger sie nennt, müssen Einschätzungen und Lagebeurteilungen formulieren, deren Richtigkeit noch längst nicht ausgemacht ist. Sie müssen mit und für Menschen arbeiten, die ihre eigenen Ambivalenzen in die Hilfesysteme transportieren. Jede neue Kommunikationsschleife verursacht möglicherweise neue Unsicherheiten – bei den KlientInnen wie bei den Profis. Das Feld der sozialen Arbeit ist zudem von eigenen Antagonismen geprägt, die der Autor ausführlich und treffend beschreibt. Der Begriff „Ungewissheit“ hat entsprechend viele Dimensionen und ist Belastung, Risiko und (Entwicklungs-)Chance zugleich. Dieser Satz ist programmatisch: „In diesem Text geht es um die Frage, worin die besonderen Ungewissheiten und Verunsicherungspotenziale der Mitarbeitenden in der Sozialwirtschaft bestehen, welche Bewältigungsstrategien dafür häufig anzutreffen sind und wie Beratung Sorgearbeitende in diesem Handlungsfeld dabei unterstützen kann, mit diesem Phänomen kreativer und produktiver umzugehen.“ (S. 14)

Autor

Herbert Effinger ist Professor für Sozialarbeitswissenschaft/Sozialpädagogik an der Evangelischen Hochschule Dresden. Nebenberuflich ist er tätig als Supervisor, Coach, Moderator und Organisationsberater. (Infos auf: www.herbert-effinger.de)

Aufbau und Inhalt

Die gut 100 Seiten des Buches verteilen sich auf vier Kapitel, deren erstes einleitenden Charakter hat und deren letztes mit „Fazit“ überschrieben ist, sodass sich die detaillierte Entfaltung des Themas in den Kapiteln 2 und 3 findet.

„Ungewissheit als Chance und Risiko“ markiert einen Leitgedanken des Buches und ist die Überschrift des ersten Kapitels. Die Sozialwirtschaft produziert Ungewissheit nicht zuletzt dadurch, dass ihr eine widersprüchliche Dynamik innewohnt: Es scheint klar zu sein, von wem die „SorgearbeiterInnen“ ihren Auftrag erhalten, nämlich von der Gesellschaft, deren Pflicht es ist, für ihre Mitglieder ein Unterstützungssystem bereitzuhalten, das sie in prekären Situationen begleitet. Andererseits ist für es für die Wirksamkeit jeder Form der Hilfe unabdingbar, dass HelferInnen einen (definierten) Auftrag von ihren Adressaten erhalten. Diese Aufträge können unterschiedlich oder sogar konträr sein. Die Logik der Marktwirtschaft definiert den ursprünglichen gesellschaftlichen Auftrag noch einmal auf eigene Weise, sodass das Resümee lautet: „In der Sozialwirtschaft haben wir es dagegen mit einem Orchester ganz unterschiedlicher und teilweise auch gegensätzlicher Systemlogiken zu tun – wo man nicht so recht weiß, wer gerade dirigiert und ob es vielleicht mehrere Dirigenten gibt – welche die Sorgearbeitenden regelmäßig in kognitive Dissonanz und Handlungsdilemmata versetzen.“ (S. 11) Das ist das Feld, das Beratende in der Sozialwirtschaft betreten, in dem sie sich orientieren und einen für beide Seiten hilfreichen Platz finden müssen.

Dieser Platz ist vermutlich zwischen den Stühlen. Effinger überschreibt das zweite Kapitel dementsprechend mit „Zwischen den Stühlen – Sozialwirtschaft als intermediäres und hybrides Hilfesystem“. Für Beratende im Feld der Sozialwirtschaft ist es unerlässlich, ein (vertieftes) Verständnis für widersprüchliche Aufträge, konträre Dynamiken, ambivalente Haltungen und Erwartungen und widersprüchliche Systemlogiken zu entwickeln – und dann endgültig die Idee zu verabschieden, man könne in solchen Feldern gezielt intervenieren.

Das zweite Kapitel wird in vier Abschnitten entfaltet:

  • Der erste (2.1) ist überschrieben mit „Sozial wirtschaften – wie geht zusammen, was meist getrennt gedacht wird?“ Schon die Wortbestandteile „Sozial“ und „Wirtschaft“ lösen Diskussionen aus. Die Sozialwirtschaft ist, wenn man betriebswirtschaftliche Maßstäbe anlegt, von „Non-Profit-Organisationen“ bestimmt, die mögliche Gewinne wieder in die „Wohlfahrtsproduktion“ investiert und so auch ihrem staatlichen Auftrag nachkommt.
  • Der zweite Abschnitt (2.2) trägt die Überschrift „Sozialwirtschaft und Sorgearbeit als System subsidiär-kompensatorischer Vergemeinschaftung in der Risikogesellschaft“. Effinger entfaltet den Satz: „Die Entstehung der Sozialwirtschaft ist untrennbar mit der Geschichte der Industrialisierung verbunden“ (S. 26) und beschreibt zugleich die Aufweichung grundlegender Konstruktionsprinzipien sozialer Marktwirtschaften wie dem Subsidiaritäts- und des Solidarprinzips durch neoliberales Wirtschaftsdenken.
  • „Zum Charakter sozialer personenbezogener Dienstleistungen in der Sozialwirtschaft“ ist der Titel des Abschnitts 2.3. Grundlegend für die Arbeit im Sektor der sozialen Arbeit ist zum einen ein gesellschaftlicher, zum anderen aber ein Auftrag der Adressaten. Das erfordert Beziehungsarbeit und zugleich eine weitere Perspektive – nicht zuletzt deshalb, weil das Feld in weiten Teilen von Zwangskontexten und Machtinterventionen bestimmt ist.
  • Die feldtypischen Verunsicherungsfaktoren beschreibt der Autor im Abschnitt 2.4: „Widersprüchliche Bezugspunkte und verunsichernde Faktoren in der Sozialwirtschaft“: Die Idee treffsicherer Diagnosen muss von den Sorgearbeitenden ebenso aufgegeben werden wie die Illusion linearkausaler Interventionsstrategien. In der Sozialwirtschaft arbeiten weit überwiegend Frauen – außer in Leitungs- und Führungspositionen. Die sind überwiegend mit (zum Teil auch fachfremden) Männern besetzt. Statt die Antagonismen als gesellschaftliches, nicht zuletzt mit kapitalistischer Wirtschaftsdynamik zusammenhängendes, Phänomen zu verstehen, werden soziale Probleme individualisiert. Dann werden in der sozialen Arbeit individuelle Bewältigungsstrategien erarbeitet, während die gesellschaftlichen Bedingungen selten thematisiert werden. Dem entspricht auch die Spannung zwischen ganzheitlicher Sicht und starker Spezialisierung der Helfenden. Auch das Verhältnis von Nähe und Distanz zu KlientInnen bleibt ebenso eine herausfordernde Balanceaufgabe wie eine hilfreiche Abstimmung zwischen Problemverständnis und grundsätzlicher Ressourcenorientierung. Dass die soziale Hilfe zudem auch verwaltet wird, und zwar in sehr unterschiedlichen Behörden, macht das Feld keineswegs übersichtlicher. Und schließlich arbeiten die Beschäftigten in der Sozialwirtschaft selbst häufig in prekären Arbeitsverhältnissen – und leben nicht zuletzt davon, dass die soziale Not bestehen bleibt. Alles in allem hinreichend verwirrende und ungewissheitsproduzierende Verhältnisse!

Dementsprechend herausfordernd ist Beratung in diesem Feld. Effinger überschreibt sein drittes Kapitel mit: „Herausforderungen für die Beratung“. Die Grundfrage lautet: „Wie werde und bleibe ich trotz hoher Komplexität, innerer und äußerer Widersprüche, eigener Zweifel, paradoxer und absurder Situationen, trotz Mehrdeutigkeit und Nichtwissen entscheidungs- und handlungsfähig?“ Eine Frage, in der sich Mitarbeitende und Beratende in der Sozialwirtschaft treffen. Wenn sie auf beiden Seiten unbeantwortet bleibt, reproduziert die Beratung Probleme statt zu ihrer Lösung beizutragen. Die Entwicklung, die die Sozialwirtschaft in den letzten Jahren genommen hat, hält allerdings auch für SupervisorInnen Enttäuschungen und Kränkungen bereit: Angesichts behaupteten oder realen wirtschaftlichen Drucks wird die ursprünglich als Qualitätssicherungsinstrument gedachte Supervision mehr und mehr zur Manövriermasse für mögliche Einsparungen: die Sitzungsintervalle werden länger, wenn überhaupt noch Supervision angeboten wird. Was hingegen mehr wird, sind betriebswirtschaftlich fokussierte Beratungsformate – die Art und die Wertigkeit von Beratung verschiebt sich.

Effinger beschreibt verschiedene Bewältigungsstrategien für die Ungewissheit auf Seiten der Sorgearbeitenden, allen voran „defensives Vermeidungsverhalten“, das in unterschiedlichen Erscheinungsformen auftreten kann, z.B. emotional-simplifizierend oder auch rational-pragmatisch, Dienst nach Vorschrift oder Flucht nach vorn. Was mittels rationaler Konzepte nicht zu verstehen und zu bewerten ist, wird häufig durch „subjektivierendes Handeln“ z.B. auf der Gefühlsebene bearbeitet, um sich im unübersichtlichen Gelände orientieren zu können. „Das Selbst als regulative Instanz“ (S. 84), die Rationalität und Emotionalität in eine hilfreiche Balance bringt, spielt dabei eine zentrale Rolle. Und schön, dass Effinger auch die notwendige „Humorkompetenz“ nicht übersieht!

Das vierte Kapitel ist überschrieben mit „Fazit: Beratung im Bündnis mit Kairos“. Ein Satz kann als Zusammenfassung gelesen werden: „Professionelle Beratung benötigt wissenschaftliches Wissen als Basis ihrer Handlungskompetenz, sie benötigt aber auch fantasie- und humorvolle, selbstkompetente Beratende, die in komplexen und mit Ungewissheit verbundenen Situationen und Problemlagen entscheidungs- und handlungsfähig bleiben.“ (S. 100)

Diskussion

Auf den ersten Blick wirkt das Buch so, als könne man es „eben mal schnell“ lesen. Es ist erscheinen in der Reihe „Beraten in der Arbeitswelt“, hat Oktavheftgröße und umfasst gut 100 Seiten. Der schnellen und oberflächlichen Lektüre steht aber nicht nur die kleine Drucktype im Weg, sondern vor allem die differenzierte Entfaltung des Themas. Als Beratender im Feld der sozialen Arbeit wird man das Buch allerdings nicht schnell wieder aus der Hand legen, dazu ist es zu spannend: Es ist, als habe jemand (endlich) mal kurz und prägnant zusammengefasst, was einem immer wieder in dem Feld begegnet; als habe jemand benannt, was an Gedanken schon lange da war; als habe jemand auf den Punkt gebracht, was häufig genug nur wie hinter einem Schleier wahrgenommen wird. Alles in allem: Das Buch verhilft zu mehr Klarheit.

Natürlich bleibt es so: „Alles, was gesagt wird, wird von einem Beobachter gesagt“. Da spielen der eigene Kontext, das eigene Erkenntnisinteresse, die eigene Haltung, das eigene Selbstkonzept eine richtunggebende Rolle für die Darstellung des Themas. Effinger legt einen deutlichen Akzent auf ungewissheitsproduktive Antagonismen, die die Sozialwirtschaft im Kontext einer (sozialen?) Marktwirtschaft prägen. Schon der Begriff „Wohlfahrtsproduktion“ (S. 23) scheint Inkompatibilität zu signalisieren. Das „Wohlfahrtsdreieck“ ist von „Triplebinds“ bestimmt, die zu „Trilemmata“ führen können. (S. 52) Das bedeutet gesteigerte Ambiguität. Beratende in der Sozialwirtschaft begegnen solchen Dynamiken und in ihnen verunsicherten Mitarbeitenden, die bemüht sind, ihre Unsicherheiten u.U. durch simplifizierende Sichtweisen zu entschärfen. Gleichzeitig bleiben sie selbst von den gesellschaftlichen Widersprüchen nicht unberührt, und die erlebten Ungewissheiten müssen so bearbeitet werden, dass sie nicht mehr nur als Belastung erlebt werden, sondern auch als Chance, dass etwas Neues entstehen kann – eben als „Chance kreativer Problemlösungsstrategien“. Wenn nun ein Autor über die Ungewissheiten der Beratenden von in Ungewissheiten arbeitenden Menschen schreibt, ist anzunehmen, dass auch sein Gegenstand von Ungewissheiten geprägt ist. Ich habe den Eindruck, auch Effinger nutzt das als „Chance kreativer Problemlösung“ – jedenfalls halte ich sein Buch für eine ausgesprochen hilfreiche Lektüre für Beratende in der Sozialwirtschaft!

Fazit

Ich halte das Buch für eine Pflichtlektüre für SupervisorInnen und Coaches, die Mitarbeitende im Feld der sozialen Arbeit beraten. Sie werden vieles, wenn auch vielleicht nicht ganz neu, so doch gewiss klarer sehen. Nur wer die Widersprüchlichkeit im Blick hat, kann kreativ mit ihr umgehen.

Rezension von
Peter Schröder
Pfarrer i.R.
(Lehr-)Supervisor, Coach (DGSv)
Seniorcoach (DGfC) Systemischer Berater (SySt®)
Heilpraktiker für Psychotherapie (VFP)
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Es gibt 136 Rezensionen von Peter Schröder.

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ISSN 2190-9245