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Tanja Hoff (Hrsg.): Psychotherapie mit Älteren bei Sucht und komorbiden Störungen

Rezensiert von Prof. Kurt Witterstätter, 27.11.2018

Cover Tanja Hoff (Hrsg.): Psychotherapie mit Älteren bei Sucht und komorbiden Störungen ISBN 978-3-662-53195-2

Tanja Hoff (Hrsg.): Psychotherapie mit Älteren bei Sucht und komorbiden Störungen. Springer Science+Business Media GmbH & Co. KG (Berlin) 2018. 181 Seiten. ISBN 978-3-662-53195-2. D: 34,99 EUR, A: 35,97 EUR, CH: 36,00 sFr.
Reihe: Psychotherapie: Praxis.

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Thema

Die Wechselbeziehungen zwischen Sucht bei Älteren und deren psychopathologischen Störungen werden wegen der unterschiedlichen Therapiezweige Suchthilfe und Psychotherapie noch zu wenig überblickt. Auch die spezifischen sozialrechtlichen Leistungsmodalitäten sprechen gegen ein Vorgehen im Gleichschritt. Hier will das von der Kölner Therapie-Professorin Tanja Hoff heraus gegebene Buch eine vermittelnde Brücke schlagen. Ziele sind Hilfen bei Abhängigkeiten und risikoreichem Suchtmittelkonsum bei psychischen Erkrankungen wie Angst, Depression und Demenz in der Zusammenschau. Denn die seelischen Erkrankungen lösen oft einen komorbiden Abusus aus oder aber die Substanzen ziehen psychische Störungen nach sich.

Herausgeberin

Professorin Dr. Tanja Hoff betreut als Diplom-Psychologin und Psychologische Psychotherapeutin die Gebiete Prävention, Intervention und Beratung an der Abteilung Köln der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen; sie leitet dort den Studiengang zum Master of Counseling. Außerdem obliegt ihr die Leitung für Drittmittelprojekte am Deutschen Institut für Sucht- und Präventionsforschung an ihrer Hochschule.

Aufbau

Das für Verstehen und Intervention bei Sucht und Verhaltensabnormitäten gedachte Buch „Psychotherapie mit Älteren bei Sucht und komorbiden Störungen“ gliedert sich in psychotherapeutische und soziologische Rahmenbedingungen, die Alkohol- und Medikamenten-Abhängigkeiten als solche sowie die Momente Depression, Angst und Demenz als Sucht-Genese und -Begleitung; ein abschließendes Kapitel beleuchtet unter den behandelten Aspekten die Paarbeziehung.

Inhalt

Gerontopsychiatrische Interventionen haben laut Tanja Hoff von den kalendarischen und biopsychosozialen Gegebenheiten im Alter auszugehen und diese besonders zu berücksichtigen. Auch regressives Verhalten kann im Alter noch progressiv gewendet werden mittels des SOK-Modells der selektiven Optimierung und Kompensation und mittels Erweiterung der Handlungsspielräume mit sozialer Anerkennung; wobei Überforderung zu vermeiden ist. Subjektives positives Coping kann Verluste kompensieren. Bewältigungsstile können auch im Alter von hoher Konstanz sein, wenn dabei nicht Alkohol und/oder Medikamente die Erreichung des Wohlbefindens stützen. Die Prävalenz für psychische Störungen bei Älteren liegt bei etwa einem Fünftel mit einem leichten Übergewicht bei Frauen. Die Behandlung soll für die ursächlichen Alternsvorgänge eher psychologisch intervenieren, bei manifesten psychopathologischen Erkrankungen gerontopsychiatrisch verändern. Das Vorurteil der Ungeeignetheit psychotherapeutischer Methoden bei Älteren wird entkräftet. Grundsätzlich sind Verhaltenstherapie, Psychoanalyse und Systemik anwendbar. Begleitend können Entspannungsverfahren wie autogenes Training hilfreich sein, wenn dem nicht akute Verwirrtheit und Desorientierung entgegen stehen. Sprachlich und interaktiv ist mit Langsamkeit, Deutlichkeit, Wiederholen, Multimodalität per Visualisierung zu agieren. Die Behandelnden haben mit Alterungsprozessen vertraut zu sein. Nötig sind Differential-Diagnostik, strukturiertes Behandeln, Einbezug des sozialen Umfeldes sowie Prävention zu Rückfall-Vermeidung. Mögliche Übertragungen Eltern-Kind (älterer Klient, jüngerer Therapeut) sind in Rechnung zu stellen.

Die soziologischen Rahmenbedingungen untersucht Ulrike Kuhn. Sie stützt sich dabei auf die anfang der 1990er Jahre niedergelegten Strukturwandels-Phänomene des Alters nach Hans Peter Tews Hochaltrigkeit, Verjüngung, Entberuflichung, Feminisierung und Singularisierung. Hinzu kommt inzwischen die Beschleunigung des Lebens und seines Wandels, was den Älteren die Belastung, nicht mehr mitzukommen, auferlegt. Darin kann eine Sucht-Ursache erblickt werden.

Alkohol-Abhängigkeit ergibt sich nach Tanja Hoff häufig als komorbide Erscheinung bei psychischen Erkrankungen. Sie wird dann zum dysfunktionalen Bewältigungsversuch. Gesundheitsökonomisch und patientenbezogen ist Behandlung geboten. Riskante Trinkmuster verbreiten sich durch genussorientierte Lebensstile ohnehin ins Alter. Bei Angst und Depression wird Alkohol dann in Selbstmedikation eingenommen. Ein Drittel älterer Männer und ein Fünftel älterer Frauen konsumieren Alkohol riskant. Anlauf für Hilfen sollten besonders die Hausärzte sein. Ihre Interventionen lassen aber in der Breite zu wünschen übrig. Dazu kommt für den Kostenträger Rentenversicherung das Primärziel Erhalt der Erwerbsfähigkeit in Betracht. Für Ältere jenseits des Erwerbsalters springt die Krankenkasse ein. Bei Komorbidität darf die Psychotherapie nur auf Dauer erbracht werden, wenn die Suchtabhängigkeit nach zehn Sitzungen behoben ist. Widersprüchlich ist die kognitiv förderliche Wirkung mäßigen Alkholkonsums auf eine geringere Prävalenz von Alzheimer-Demenz ergründet. Das Therapieziel kann zwischen vollständiger Abstinenz und kontrolliertem Konsum variieren – letzterer ist nur bei subjektiv befriedigender Lebenslage angezeigt.

Medikamente werden Gerd Glaeske zufolge an alte Menschen verstärkt verordnet. Viele Mittel zur Beruhigung und zur Behebung von Schlafstörungen lösen als Benzodiazepine Süchte aus und können demenzartige Symptome hervorrufen. 1,5 bis 1,9 Millionen alte Deutsche gelten als medikamentabhängig, wobei diese Störung bereits nach dreimonatiger regelmäßiger Einnahme eintritt. Schleichende Risiken wie Immobilität, Stürze (mit Knochenbrüchen), Demenz und Unruhe bei Entzug werden leider gern übersehen. Als Hilfe sind zu erwägen kontrollierte Verordnung nur aus einer Hand und Entzug bei alternativer Behandlung der Störungen.

Von integrativen Behandlungsversuchen bei Sucht und Depression berichten Petra Dykierek und Elisa Scheller. Auslöser für die rund 12 Millionen Depressiven sind im Alter Verwitwung, Erkrankung, Beeinträchtigungen sowie frühere Depressionen. Frauen sind bei Alkoholabhängigkeit zweimal so häufig auch depressiv als Männer. Ein Drittel der Medikamentabhängigen ist auch depressiv. Die gemeinsame Behandlung soll sowohl der Depression als auch dem Abusus gelten. Denn allein die Depressionstherapie lässt die Sucht nicht schwinden, die ausschließliche Entwöhnung beendet die Depression nicht. Als geeignet hat sich die Interpersonelle Therapie IPT erwiesen mit Verstehen und Bearbeiten früherer zwischenmenschlicher Probleme. Erfolgreich erscheint die kognitive Verhaltenstherapie mit Übungen an Kompetenzen und zum Aufbau eines Unterstützungssystems durch Erarbeiten von Handlungsalternativen, Verringerung negativer Affekte, Aufwertung der Lebensbilanz, Selbst-Mitgefühl für Unerreichbares und dem Verfolgen werte-orientierter Lebensziele anstelle von Rückzug und Resignation.

Der Wechselbeziehung von Angst und Sucht geht Daniel Wagner nach. Angst schränkt Aktivitäten ein, macht unzufrieden, meidet Initiativen, lässt indes aufhellende Medikation nachfragen und Suchtmittel konsumieren. Ätiologisch überlappen sich oftmals Angstphänomene und Suchtmittelkonsum. Panikzustände lösen eher Alkoholabhängigkeit aus als spezifische Phobien. Posttraumatische Belastungsstörungen ziehen erhöhten Drogenkonsum nach sich. Therapeutisch sind medikamentös Antidepressiva und Neuroleptika (keine Benzodiapezine) angesagt. Bei Panikstörungen empfehlen sich Verhaltenstherapie und Psychoedukation mit dem realistischen Abschätzen von der (Un-)Wahrscheinlichkeit des Eintritts des befürchteten Negativ-Ereignisses oder mit Gedankenstopp, Desensibilisierung oder Bildvorstellung sowie Entspannungsverfahren wie progressive Muskelrelaxation.

Auch zwischen Sucht und Demenz ergeben sich Wechselwirkungen, denen Johannes Pantel nachgeht. Demenz ist als neuro-kognitive Störung auf irreversible Hirnschädigung rückführbar. Auch bei schwerem Substanz-Missbrauch gehen durch toxische Wirkungen etwa bei hohem Alkohol-Abusus Nervenzellen im Gehirn unter. Die Suche nach der Priorität von Henne oder Ei ist müßig. Überdies können Sucht und Demenz auch im Erlebnisbereich gemeinsame Ursachen haben, die in Isolation oder Stress zu suchen sind. Beginnende kognitive Störungen mögen noch durch Substanzkosum überdeckt werden, wobei noch wenig interveniert wird. Eher dann bei risikoreichem Missbrauch, um kognitive Störungspotenziale zu überwinden. Ob dies gelingt, wird erst zwei Monate nach Beginn der Abstinenz feststellbar, da erst dann das Verschwinden demenzieller Ausfälle registrierbar ist. Diskutiert wird die Demenz-protektive Wirkung von mäßigem Alkoholkonsum. Psychotherapie ist sinnvoll mit der Ansprache von Konflikten und Verlusten sowie der Suche nach Entlastungen. Im schweren Stadium sollte das mit den Angehörigen und dem Umfeld geschehen.

Überhaupt mangelt es den Partnerschaftsproblemen bei Sucht nach Michael Vogt an beiderseitig paarbezogener Beratung, die die innerliche Entfernung oder die chronische Erkrankung des einen mit dem anderen Partner aufarbeitet. Anzuraten ist eine bifokale Betrachtung der Paar-Situation unter biografischen und psychosozialen Aspekten. Sie kann unter Einbeziehung des Weiteren sozialen Umfelds zum trifokalen Ansatz ausgeweitet werden. Begrenzungen sind zu erhellen, Ressourcen aufzutun, von Schuldzuweisungen der Partner untereinander ist zu entlasten, sonst schwinden Kohärenz und Zuversicht. In der Paargeschichte sind positive Momente heraus zu stellen, so dass Schuld und Scham im Versöhnenden relativiert werden können. Achtung vor der Verschiedenheit der Partner ist auch in lebensgeschichtlicher und zeithistorischer Sicht angebracht. 

Diskussion

Mit dem Sammelband „Psychotherapie mit Älteren bei Sucht und komorbiden Störungen“ wird eine sehr differenziert angegangene Veröffentlichung vorgelegt. Ihr Horizont umgreift Erscheinungen und Diagnostik von Sucht und seelischen Störungen und spürt die wechselseitigen Beeinflussungen auf bis zum Eingeständnis, dass die Erstgeburt von Henne oder Ei nicht immer feststellbar ist. Therapeutisch werden mit Interpersoneller Therapie und Psychoedukation aktuelle Interventionen erläutert. Die Fülle an zitierten Untersuchungen könnte die Leserschaft ratlos zurück lassen, wenn der Band nicht sinnvoll aufgebaut und überschaubar gegliedert wäre. Immer sind tragende Gedanken zusammenfassend heraus gestellt. Das ist auch typografisch geschickt markiert. Überhaupt wurden die Herleitungen didaktisch eingängig aufbereitet und lernzielorientiert angelegt. Ein ausführliches Stichwortverzeichnis macht die Sammlung der Einzelaufsätze kompetenter Autorinnen und Autoren sogar zum Nachschlagewerk.

Die Abgrenzung zwischen leichteren seelischen Störungen und gerontopsychiatrischen Erkrankungen ist nicht scharf vollziehbar. So fragt man sich: Wo endet eine längere Verstimmung, ab wann beginnt die pathologische Veränderung? Wann befindet sich jemand noch in einer verständlichen Trauer, wann gleitet die Person in die behandlungsbedürftige Depression? Was ist noch lebensbejahende Verarbeitung, wo ist der Optimist in Affekt-Unterdrückung geraten?

Die referierten Untersuchungen zur Angstreduktion betrafen durchweg Erwachsene im mittleren Lebensalter und konnten nur mit Vorsicht und Einschränkungen auf die Altenpopulation übertragen werden. Auch bewegt sich das vorgestellte Beispiel einer Interpersonellen Therapie bei Sucht und Depression sehr im geschützten Rahmen einer Institution mit hohen personellen Ressourcen. Hier stellt sich die Frage, ob solche Multiprofessionalität in der Fläche zur Verfügung steht und ob die erstrebten Verhaltensänderungen draußen im normalen sozialen Alltag stabil bleiben.

Die angeführten, aus den 1990er Jahren stammenden Strukturwandlungen des Alters haben sich verändert: Entberuflichung wird durch Weiterarbeit aufgeweicht, die Feminisierung wird durch Einbezug von Männern in die (häusliche) Gattinnen-/Partnerinnen-Pflege und überhaupt im Crossover der alternden Geschlechter relativiert.

Die Frage der sozialpolitischen Rahmenbedingungen kommt nicht immer ins Spiel. Unter den Anspruchsnormen des Sozialgesetzbuchs haben sich durch Richtlinien und Grundsätze der Leistungsträger oftmals einschränkende Maßgaben zur Interpretation der Gesetzesbestimmungen ergeben, die die gesetzliche Intention aufweichen, aber leider nicht justiziabel sind. Das genannte Beispiel der Vorgabe des Gemeinsamen Ausschusses der Spitzenverbände der Kassen und Therapeuten, die kombinierte Therapie von Sucht und Depression nur weiterführen zu dürfen, wenn der Patient mit der zehnten Sitzung abstinent ist, dürfte mitunter zu einem Therapie-Abbruch führen oder zu einer vorschnellen Erfolgs-Vermeldung verleiten.

Fazit

Der Band zur Psychotherapie bei Sucht und Störungen im Alter bewegt sich mit hoher Erklärungskompetenz und hilfreichen Handlungsvorschlägen im Überlappungsgebiet von Substanz-Missbrauch und seelischen Deformationen.

Rezension von
Prof. Kurt Witterstätter
Dipl.-Sozialwirt, lehrte bis zur Emeritierung 2004 Soziologie, Sozialpolitik und Gerontologie an der Evangelischen Fachhochschule Ludwigshafen - Hochschule für Sozial- und Gesundheitswesen; er betreute zwischenzeitlich den Master-Weiterbildungsstudiengang Sozialgerontologie der EFH Ludwigshafen
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Zitiervorschlag
Kurt Witterstätter. Rezension vom 27.11.2018 zu: Tanja Hoff (Hrsg.): Psychotherapie mit Älteren bei Sucht und komorbiden Störungen. Springer Science+Business Media GmbH & Co. KG (Berlin) 2018. ISBN 978-3-662-53195-2. Reihe: Psychotherapie: Praxis. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/25006.php, Datum des Zugriffs 07.06.2023.


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