Axel Philipps: Wissenschaftliche Orientierungen
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 08.02.2019

Axel Philipps: Wissenschaftliche Orientierungen. Empirische Rekonstruktionen an einer Ressortforschungseinrichtung.
Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2018.
126 Seiten.
ISBN 978-3-7799-3897-2.
D: 24,95 EUR,
A: 25,60 EUR,
CH: 34,60 sFr.
Reihe: Wissenskulturen.
Wissenschaft – die Wissen schafft!
Wir leben in einer Wissensgesellschaft; und: Wir leben in einer wissenschaftsorientierten Welt. Die Wandlungs- und Veränderungsprozesse in der sich immer interdependenter und entgrenzender entwickelnden Welt umfassen alle Lebens- und Tätigkeitsbereiche des Menschen überall in der Welt (Mike S. Schäfer, u.a., Hrsg., Wissenschaftskommunikation im Wandel, 2015, www.socialnet.de/rezensionen/19263.php). Wissen als humaner Wert fällt nicht vom Himmel, liegt auch nicht in den Genen, sondern entsteht in Wissensprozessen, wie sie in den Bildungs- und Erziehungsinstitutionen vermittelt werden. Damit wird schon deutlich, dass Bildung zum einen ein intellektuelles, sittliches und moralisches Lebensziel, zum anderen ein individueller und gesellschaftspolitischer Aneignungsprozess für Kenntnisse und Kompetenzen für die Lebensgestaltung ist. Mit der Metapher „Was der Wissenschaft dient, dient auch der Menschheit“ wird verdeutlicht, dass die Anforderungen und Möglichkeiten der individuellen und institutionalisierten Wissensproduktion sowohl zum Nutzen als auch zum Schaden der Menschheit eingesetzt werden können. Der Wissensdiskurs zur fächerbezogenen und interdisziplinären Wissenschaftsproduktion vollzieht sich philosophisch, anthropologisch, technologisch und verwertungsorientiert. Zwischen den Anforderungen, wie sie an eine allgemeine Bildung und Hochschulbildung gestellt werden, gibt es Übereinstimmungen und Kontroversen. Sie verdeutlichen sich zum einen in der Überzeugung, dass sich Bildung als Eigen- und Verwertungswert in einem dialektischen Verhältnis zwischen Freiheit und Verantwortung, Individualität und Kollektivität, Eigenwert und Fremdbestimmung bewegt, zum anderen in dem Unbehagen, wie (Hochschul-)Bildung als Ergebnis der (europäischen) Bologna-Reform in immer stärkerem Maße von Employability, Ranking- und Exzellenzdiskursen und -zwängen bestimmt werden (Tilly Miller / Margit Ostertag, Hrsg., Hochschulbildung. Wiederaneignung eines existenziell bedeutsamen Begriffs, 2017, www.socialnet.de/rezensionen/21859.php).
Soweit einige allgemeine Gedanken über Wissen und den Umgang mit Wissen. Das Hildesheimer Museum zeigt derzeit die Ausstellung „Irrtümer und Fälschungen“. Es werden Objekte vorgestellt, die von Wissenschaftlerinnen, Wissenschaftlern, Expertinnen und Experten über Jahrhunderte hinweg als „echt“ und „original“ eingeordnet und mit wissenschaftlichen, methodischen Mitteln auch augenscheinlich glaubhaft bewiesen wurden. Diese, wie z.B. auch die immer wieder sensationell entdeckten Bilderfälschungen, und – ganz aktuell – die Fake News machen deutlich, dass handlungsleitendes Wissen auf vielen, auch wissenschaftlichen Wegen zustande kommen kann. Die Prinzipien, die wissenschaftlichem Wissen zugrunde liegen (sollten), nämlich Objektivität, Wahrheit, Verifizierungs- und Falsifizierungskompetenz, unterliegen nicht selten janusköpfigen Imponderabilien und sind bestimmt von Situationen und Einflussnahmen.
Entstehungshintergrund
Die Ressortforschung stellt Verbindungen zwischen wissenschaftlichem Arbeiten, gesellschaftlichen Bedingungen und Entwicklungen und politischem Handeln her; etwa wenn staatliche Institutionen, Behörden und Ministerien Forschungsaufträge an wissenschaftliche Einrichtungen mit dem Ziel vergeben, um adäquates gesellschaftspolitisches Handeln, etwa durch Verordnungen oder Gesetze zu bewirken. „Ressortforschung zielt auf die Gewinnung wissenschaftlicher Erkenntnisse ab, die direkten Bezug zu den Tätigkeitsfeldern eines Ministeriums haben oder die Voraussetzung zur Erfüllung der eigenen Fachaufgaben sind“. Die Ressortforscher und ihre wissenschaftlichen Einrichtungen, hochschul- und universitäre Institute, Landes- und Bundesämter sind angehalten, bei ihrer Forschungsarbeit die Empfehlungen des Wissenschaftsrates zu berücksichtigen und Objektivität walten zu lassen. Es ist kein Geheimnis – nicht nur bei nicht- oder halbdemokratischen Systemen, sondern auch in Demokratien – dass (partei)politische, ideologische Abhängigkeiten, kulturelle und gesellschaftliche Präferenzen, wie auch monetäre Bedingungen die Ressortforschung beeinflussen und zu (scheinbar) überzeugenden Ergebnissen führen können.
Autor
Der Soziologe beim Leibniz-Center for Science and Society an der Universität Hannover, Axel Philipps, nimmt sich mit seiner Forschungsarbeit dieses umfassende Gebiet der universitären Wissensarbeit mit außeruniversitären Einflüssen und möglicherweise Abhängigkeiten vor. Er bezieht sich dabei auf die in der Wissenssoziologie diskutierte These, dass eine Einschränkung des freiheitlichen und ungebundenen wissenschaftlichen Denkens und Handelns dazu führe, „dass die einmal erworbenen wissenschaftlichen Kenntnisse und Fertigkeiten verkümmern“, was bewirke, dass eine „wissenschaftliche De-Sozialisation“ eintrete. Die Gefahren und Probleme sind augenscheinlich: Es kann zu einer Form von „dienstfertigen Wissenschaft“ (Bourdieu) und „eilfertiger“ Bestätigung kommen, oder auch zum „Aussitzen“ und damit in beiden Fällen zu unbrauchbaren und irreführenden Ratschlägen. Damit sind Forderungen nach Autonomie wissenschaftlicher Arbeit erhoben; und es wird Kritik geübt an nichtobjektiven Abhängigkeiten.
Aufbau und Inhalt
Der Forschungsbericht wird in vier Kapitel gegliedert.
Im ersten führt der Autor in die Thematik ein, verweist auf die Geschichte der Ressortforschung, den Forschungsdiskurs und fragt: „Was zeichnet Ressortforschungseinrichtungen aus?“, und „Wie wahrscheinlich verlieren WissenschaftlerInnen unter konkreten Bedingungen – etwa verstärkter Beratungstätigkeiten für Ministerien – ihre wissenschaftlichen Kenntnisse und Fertigkeiten?“.
Im zweiten Kapitel setzt er sich mit den Fragen zu „wissenschaftlichen Orientierungen“ auseinander und arbeitet heraus, dass die unterschiedlichen, intellektuellen und methodischen Denk- und Handlungsentwicklungen von den Forschenden ein hohes Maß von Standhaftigkeit, Wissenskompetenz und Flexibilität fordern.
Im empirischen Hauptteil der Forschungsarbeit, im dritten Kapitel, werden allgemein die Ressortforschungseinrichtungen als „Orte anwendungsbezogener Wissensproduktion“ charakterisiert, und insbesondere drei Ressortforschungseinrichtungen analysiert: Die Max Planck-Gesellschaft, die Fraunhofer Gesellschaft und die Arbeitsgemeinschaft der Ressortforschungseinrichtungen.
Im vierten, Schlusskapitel werden die spezifischen Aufgaben- und Forschungsfelder der Ressortforschungseinrichtungen hervorgehoben und „das Selbstverständnis und die verinnerlichten, impliziten Orientierungen von Ressortforschenden in den Vordergrund gerückt“.
Es sind die selbstgemachten und auferlegten Leitbilder und Ziele von Ressortforschungsorten und -personen, die Akzeptanz oder Diskrepanz, Identität oder Divergenz, Effektivität oder Unwirksamkeit, Zustimmung oder Widerstand bewirken können. In Interviews verdeutlichen sich die jeweiligen positiven oder negativen Einstellungen und Aktivitäten.
Fazit
Der Forschungsbericht „Wissenschaftliche Orientierungen“ ist einzuordnen in die Rubrik: „Wissenschaftliche Selbstbewusstheiten versus abhängige Beflissenheit“. Obwohl anfänglich die Vermutung aufkommt, es handele sich hier um ein spezifisches Forschungsfeld, wird bei näherer Betrachtung und Blickrichtung deutlich, dass wissenschaftliche Orientierungen – nicht nur für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler – allgemeinbildende und aufklärerische Herausforderungen darstellen.
In der Anlage werden das „Portrait der Max Planck-Gesellschaft“, die „Leitlinien der Fraunhofer-Gesellschaft“ und die „Leitlinien der Arbeitsgemeinschaft der Ressortforschungseinrichtungen“ abgedruckt.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 08.02.2019 zu:
Axel Philipps: Wissenschaftliche Orientierungen. Empirische Rekonstruktionen an einer Ressortforschungseinrichtung. Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2018.
ISBN 978-3-7799-3897-2.
Reihe: Wissenskulturen.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/25024.php, Datum des Zugriffs 26.09.2023.
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