Aleida Assmann: Der europäische Traum
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 09.11.2018

Aleida Assmann: Der europäische Traum. Vier Lehren aus der Geschichte. Verlag C.H. Beck (München) 2018. 208 Seiten. ISBN 978-3-406-73380-2. 16,95 EUR.
Europa – Traum oder Albtraum?
Betrachtet man die Kakophonien, wie sie von Ego-, Ethnozentristen, Populisten und Gegnern des europäischen Einigungsprozesses ins Feld geführt werden, kann man Zweifel haben, ob sich die Vision verwirklichen lasse, wie sie z.B. 2003 von dem vom Europäischen Rat eingesetztem Europäischen Konvent als Entwurf für eine (bisher jedoch nicht verwirklichte) Europäische Verfassung vorgelegt wurde:
Es ist das „Bewusstsein, dass der Kontinent Europa ein Träger der Zivilisation ist und dass seine Bewohner, die ihn seit den Anfängen der Menschheit in immer neuen Schüben besiedelt haben, im Laufe der Jahrhunderte die Werte entwickelt haben, die den Humanismus begründen: Gleichheit der Menschen, Freiheit, Geltung der Vernunft“.
Traum und Wirklichkeit sind unterschiedliche, verführerische Situationen und gefährliche Wegstrecken, wenn Traum nicht fiktives Erleben bleibt, sondern zum zwanghaften, irrationalen Denken und Handeln wird, und Wirklichkeit sich nicht zur rationalen, intellektuellen und humanen Aktivität entwickelt. In der Geschichte Europas wird deutlich, dass der Kontinent als janusköpfiges Gebilde daher kommt – Paradies und Hölle zugleich ist. Im wissenschaftlichen Diskurs darüber, welches Europa es sein solle, versammeln sich Befürworter und Gegner und suchen nach Lösungsmöglichkeiten (vgl. dazu z.B.: https://www.sozial.de/die-europaeische-idee-ist-in-gefahr.html ).
Entstehungshintergrund und Autorin
Welche Lehren und Motivationen lassen sich aus der Geschichte Europas für ein friedliches, gerechtes, gleichberechtigtes, globales Zusammenleben der Völker auf dem Kontinent ziehen? Ist die „europäische Identität“, und ist das „europäische Bewusstsein“, wie es im Bildungsdiskurs seit Jahrzehnten gefordert wird, eine konkrete Herausforderung oder eine Schimäre? Ist es möglich, die Europäer davon zu überzeugen, dass sie gemeinsam Europäer sein wollen? Oder sind die Lehren aus der europäischen Geschichte nur ein „Vogelschiss“, wie dies der AfD-Abgeordnete Alexander Gauland unbedacht formulierte ( vgl. dazu auch: Birgit Lahann, „Wir sind durchs Rote Meer gekommen, wir werden auch durch die braune Scheiße kommen“. Schriftsteller in Zeiten des Faschismus, 2018, https://www.socialnet.de/rezensionen/24937.php ).
Der Börsenverein des Deutschen Buchhandels hat 2018 den Friedenspreis an Aleida und Jan Assmann verliehen ( Jan Assmann, Achsenzeit. Eine Archäologie der Moderne, 2018, www.socialnet.de/rezensionen/25040.php). Die Anglistin und Literaturwissenschaftlerin von der Universität Konstanz, Aleida Assmann, greift mit ihrer Metapher vom „europäischen Traum“ in den Europa-Diskurs ein. Sie fragt: „ Besitzt Europa ein Leitbild?“. Mit der weiteren Frage, ob man aus der Geschichte lernen könne, macht sie sich daran, den populären, populistischen bis fatalistischen Antworten, dass wir alles, was wir aus der Geschichte lernen könnten, wäre, dass wir nichts aus ihr lernen könnten, entgegen zu treten. Diesen verneinenden, Gemeinschaftsbildungen und dem Vielfaltsbewusstsein abholden Einstellungen stellt die Autorin die bejahenden, optimistischen Entwicklungen entgegen, wie sie sich im Prozess des werdenden Europas nach dem Zweiten Weltkrieg darstellen. Der „europäische Traum“, den die Autorin als Pendant zum „amerikanischen Traums“ versteht, soll als „ein gemeinsames Leitbild des Denkens und Handelns für die Nationen der EU“ dienen. Nur ein ehrliches und wahrhaftiges Bewusstsein von der Geschichte des Kontinents vermag ein humanes gegenwärtiges und zukünftiges Europa schaffen. Sie widmet Buch „den Trägern und Stützen der Willkommenskultur“.
Aufbau und Inhalt
Aleida Assmann gliedert ihre Studie, neben dem Vorwort und dem Epilog, in zwei Kapitel. Im ersten fragt sie: „Kann man aus der Geschichte lernen?“, und im zweiten Teil stellt sie vier Fallbeispiele vor, aus denen Lehren für ein geeintes Europa gezogen werden können. Die erste Lehre – „Wie aus Erzfeinden kooperierende Nachbarn werden“ – kann als eine der Sternzeiten bezeichnet werden, die nicht vom Himmel leuchten, sondern auf der Erde entstehen. Es sind die Lehren, die aus den beiden Weltkriegen gezogen werden. Es waren die europäischen Politiker, die nicht in erster Linie Vergeltung gegen die Verlierer in den politischen und gesellschaftlichen Vordergrund stellten, sondern die Hand zur Versöhnung reichten, den politischen, ökonomischen und kulturellen Wiederaufstieg Deutschlands ermöglichten, und so die ersten Schritte hin zu einem Vereinten Europa einleiteten. Die zweite Lehre – „Die (Wieder-)Herstellung von Rechtsstaatlichkeit oder der Umbau von Diktaturen in Demokratien“ – kann auch als eine positive Markierung gelten, und angesichts der politischen Lage in der Welt als Hoffnungsschimmer verstanden werden; dass nämlich global die Entwicklung der Länder weg von nichtdemokratischen (bisher 40 %), hin zu mehr demokratischen Staaten (bisher 47 %) voranschreitet. Die dritte Lehre – „Historische Wahrheit und der Aufbau einer deutschen Erinnerungskultur“ – bezieht sich auf die urmenschliche Eigenschaft und Fähigkeit, dass Erinnern zum Leben gehört. Sie stellt sich gegen die Tendenzen, dass es mit dem Erinnern und dem Schuldeingeständnis der Deutschen zu den nationalsozialistischen Verbrechen des Holocaust „einmal genug sein müsse“. Das Plädoyer, Jahrzehnte nach der Schuld in der Erziehung, Bildung und Aufklärung eine dialogische, wahrhaftige, friedensstiftende, humane „Erinnerungskultur“ aufrechtzuerhalten und neu zu gestalten, ist auch deshalb wichtig, um lokal und global den populistischen, erinnerungsverleugnenden und –vergessenen Parolen entgegen zu treten. Die vierte Lehre – „Die Wiederentdeckung der Menschenrechte“ – kann als Aufforderung verstanden werden, die ureigenen, allgemeingültigen und nicht relativierbaren Rechte und Grundvoraussetzungen für ein gutes, gelingendes Leben für alle Menschen auf der Erde durch Gesellschaft und Staat zu garantieren. Diese als „Weltethos“ und „globale Ethik“ definierten Rechte und Pflichten der Menschen bedürfen einer gesteigerten Aufmerksamkeit und Achtsamkeit.
Es sind die welthistorischen Zäsuren ( vgl. auch: Michael Corsten / Michael Gehler / Marianne Kneuer, Hrsg., Welthistorische Zäsuren: 1989 – 2001 – 2011, http;//www.socialnet.de/rezensionen/21237.php), die bei der Bildung eines Vereinigten Europas bedeutsam sind. Aleida Assmann sieht in den Daten – 1945, 1989, 2015 – entscheidende, beachtenswerte Entwicklungen: Kriegsende und Neubeginn, friedliche Revolution und Ende des Kalten Krieges, globale Flüchtlingskrise und europäische Migrationspolitik.
Weil ein europäisches Bewusstsein und eine europäische Identität aktiv, individuell und kollektiv erworben werden müssen, alltags- und gesellschaftsbasiert, ist es hilfreich, zu den vier Lehren – Friedenssicherung, Demokratisierung, Erinnerungskultur und Menschenrechte – einige Fallbeispiele zu nennen, die für die Bildungs- und Aufklärungsarbeit diskussionswürdig und bedenkenswert sind, wie z.B.: Europäische Gedenktage; Diktaturen und Demokratien; Schuld, ‚Sühne und Vergebung; vergessene deutsche Migrationsgeschichte ( vgl. dazu die vielfältigen Argumentationen und Hinweise, wie sie im Internet-Rezensionsdienst Socialnet und im Informationsportal www.sozial.de ausgewiesen werden; z.B. auch: Andreas Kossert, Kalte Heimat. Die Geschichte der deutschen Vertriebenen nach 1945, 2008, https://www.socialnet.de/rezensionen/6654.php ).
Die Deutsche Nationalbibliothek bietet Einblick in das vollständige Inhaltsverzeichnis.
Fazit
Aus der Geschichte lernen, das ist keine Herausforderung, die einmal getan und dann erledigt ist. Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ist ein Prozess, der zeitlebens verläuft, sich verändern kann und sich ergänzt, durch Informationen, Forschungsergebnisse und Erfahrungen. Aus und mit der Geschichte lernen braucht deshalb Logos, Emotion und Ethos. Der Mensch als zôon politikon, als politisches Lebewesen (Aristoteles), ist kraft seiner Vernunft und Fähigkeit, Allgemeinurteile zu bilden und seinem Streben, allen Menschen ein gutes, gelingendes Leben zu ermöglichen, prädestiniert, Gesellschaften zu bilden. Was also ist der „europäische Traum?“. Es ist nicht der Mythos, der Illusionen schafft und Märchen erzählt, sondern der „identitätsstützende Mythos… als Antwort auf den Alptraum von Krieg, Zerstörung und Menschheitsverbrechen und beruht auf der Überzeugung, dass die europäischen Staaten gemeinsam in der Lage sind, diese Vergangenheit zu überwinden und die wachsenden Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft zu bestehen“.
Die Ehrung von Aleida und Jan Assmann mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, 2018, ist ein individueller, lokaler und globaler Akt der Auszeichnung für lebensweltliche Aktivitäten. Aleida Assmanns Buch „Der europäische Traum“ ist eine mundane Vision für den europäischen Diskurs. Und die Studie ist gleichzeitig eine Vorlage für die schulische und außerschulische Bildungs- und Aufklärungsarbeit!
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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