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Angela Janssen: Verletzbare Subjekte

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 27.03.2019

Cover Angela Janssen: Verletzbare Subjekte ISBN 978-3-86388-779-7

Angela Janssen: Verletzbare Subjekte. Grundlagentheoretische Überlegungen zur conditio humana. Budrich Academic Press GmbH (Opladen, Berlin, Toronto) 2018. 255 Seiten. ISBN 978-3-86388-779-7. D: 32,00 EUR, A: 32,90 EUR.

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Verletzbarkeit ist mehr als Verwundbarkeit

Der anthrôpos, das menschliche Lebewesen, ist ein „Mängelwesen“ (Plessner). Es sind die Unbestimmtheiten, die im menschlichen Werden sowohl Chancen zur Selbstwerdung, als auch Schwierigkeiten der Fremdbestimmung bewirken können. Damit sind wir schon bei der pädagogischen und philosophischen Fragestellung: Wer bin ich?, konkretisiert durch die Kantischen Vergewisserungen: „Was kann ich wissen?“ – „Was soll ich tun?“ – „Was darf ich hoffen?“. Verletzlichheit als eine Grundkonstante der menschlichen Existenz zeigt sich zum einen in der Gefahr der körperlichen Versehrtheit, als auch in der seelischen Verwundbarkeit. Schauen wir uns an, wie Verletzbarkeit im sprachlichen und existentiellen Umgang der Menschen miteinander deutlich wird, so erkennen wir die vielfältigen Ausdrucksweisen und Wirkungen, die bis hin zum Antonym „Lebensfreude“ und „Achtsamkeit“ reichen. Wir haben es hier also mit einem Begriff zu tun, der die Ganzheitlichkeit des menschlichen, rationalen und emotionalen Daseins umfasst, und damit auch mit der Frage, wie und welche Bildung und Erziehung den individuellen und kollektiven Prozess für eine humane, menschenwürdige Entwicklung der Menschheit bestimmen soll (vgl. dazu auch: Anne Conrad / Alexander Maier, Hrsg., Erziehung als „Entfehlerung“. Weltanschauung, Bildung und Geschlecht in der Neuzeit, 2017, www.socialnet.de/rezensionen/22612.php).

Entstehungshintergrund und Autorin

Die Frage – „Inwiefern kann Verletzbarkeit als ein Moment der conditio humana verstanden werden?“ – hat ohne Zweifel im theoretischen und praktischen pädagogischen Diskurs eine grundlegende Bedeutung; und zwar in physischer und psychischer, individueller, lokaler und globaler Hinsicht. Bemerkenswert sind dabei verschiedene, alltagsrelevante und konstitutive, körperliche und moralisch-ethische Gegebenheiten und Gemachtheiten, die zur Erkenntnis führen: „Menschliche Verletzbarkeit (ist) nicht aufhebbar oder kompensierbar“, wie dies die US-amerikanische Psychologin und Philologin Judith Butler formuliert und rät, eine allgemeine körperliche Verletzbarkeit zu akzeptieren und damit aktiv und selbstbewusst umzugehen.

Diese und weitere Einschätzungen und Positionsbestimmungen sind es, die Angela Janssen von der Universität Tübingen veranlassten, in ihrer grundlagentheoretischen, wissenschaftlichen Arbeit über die Phänomene von Verletzlichkeit zu dissertieren: „Verletzlichkeit ist eine Bedingung des Menschseins, der nicht zu entkommen ist. Sie stellt ein ambivalentes Phänomen dar, das nicht allein negativ konnotiert als Verwundbarkeit verstanden werden darf, sondern das allgemeiner als Ausgesetztsein (und als Abhängigkeit, JS) Anderen gegenüber zu verstehen ist“.

Aufbau und Inhalt

Neben der Einleitung, in der die Autorin die grundlegende, allgemeinpädagogische Frage nach der Relevanz der Subjektivation der Begrifflichkeit im Rahmen der jeweiligen existentiellen Lage stellt, und dem zusammenfassenden Schlussteil, gliedert die Autorin ihre Forschungsarbeit in die folgenden Kapitel: Sie diskutiert die „zentrale(n) Begriffe der Arbeit und die systematische Situierung von Verletzlichkeit im pädagogischen Diskurs“; sie setzt sich auseinander mit „Sprache und Verletzlichkeit“; sie thematisiert die „körperlich-leibliche Dimension von Verletzbarkeit“; sie stellt „mehrdimensionale Ver4letzlichkeiten“ vor, indem sie die Bedeutung von sozialen Differenzkategorien für die unterschiedliche Verteilung von Verletzlichkeit herausarbeitet; und sie zeigt die „Bedeutung der Auseinandersetzung mit Verletzlichkeit für die Pädagogik“ auf.

Die Bedingungen des Menschseins als conditio humana sollen ja nicht als naturgegebene und gengesteuerte, automatische Verfasstheiten, sondern als verantwortungsgefordertes, aktives Tun verstanden werden. Damit fokussiert die Autorin – mit Rückgriffen und Halteseilen auf Helmut Plessner, Hannah Arendt, Heinrich Popitz u.a.- ihr Nachdenken über verletzbare Subjekte auf die allgemeinpädagogische Metaebene.

Verletzlichkeiten durch sprachliche, scheinbare und nicht selten unbedachte und unbewusste (Selbst-)Verständlichkeiten sind gewaltsame, diskriminierende, unmenschliche, individuelle und kollektive Verhaltensweisen, die nur durch ein aufgeklärtes Wissen und Mühen nach Selbstbewusstsein und ethischer Selbstvergewisserung korrigiert und verhindert werden kann. Der Mensch ist Körper und Geist, diese anthropologische Konstante wirkt in unserer Fragestellung in besonderer Weise, ontologisch, psychologisch und moralisch (vgl. dazu auch: Bernd Trax l / Frank Dammasch, Hrsg., Körpersprache, Körperbild und Körper-Ich. Zur psychonanalytischen Therapie körpernaher Störungsbilder im Säuglings-, Kindes- und Jugendalter, 2016, www.socialnet.de/rezensionen/22874.php).

Im Ruf nach einer „pädagogischen Ethik“, in dem sich die Menschenwürde, das Verantwortungsbewusstsein für die conditio humana, dem (inter-)kulturelle Anspruch nach den lokalen und globalen demokratischen Prinzipien von Freiheit, Gerechtigkeit und Friedfertigkeit, der Suche nach der Wahrheit und dem Bestreben, jedem Menschen auf der Erde ein gutes, gelingendes, menschenwürdiges Leben zu ermöglichen, artikuliert, steckt die Aufforderung zum pädagogischen Denken und Handeln, um die Bedeutung von Verletzlichkeiten zu erkennen und das verletzliche Subjekt durch Bildung und Erziehung handlungsfähig zu machen.

Fazit

Das „verletzbare Subjekt“ ist eine anthopologische und ontologische Wirklichkeit. Es ist aber kein Schicksal, das unabwendbar hereinbricht und Ohnmacht erzeugt; vielmehr kommt es darauf an, in pädagogischen, bildungs- und erziehungswissenschaftlichen Prozessen Bewusstsein und Handlungskompetenzen zu vermitteln auf „unsere Verwiesenheit auf Andere, unser Ausgesetzt-Sein Anderen gegenüber und damit unsere Verletzbarkeit nicht aus den Blick zu verlieren“.

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Es gibt 1683 Rezensionen von Jos Schnurer.

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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 27.03.2019 zu: Angela Janssen: Verletzbare Subjekte. Grundlagentheoretische Überlegungen zur conditio humana. Budrich Academic Press GmbH (Opladen, Berlin, Toronto) 2018. ISBN 978-3-86388-779-7. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/25043.php, Datum des Zugriffs 18.01.2025.


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