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Hans-Peter Müller, Tilman Reitz (Hrsg.): Simmel-Handbuch

Rezensiert von Dr. Laura Hanemann, 27.02.2019

Cover Hans-Peter Müller, Tilman Reitz (Hrsg.): Simmel-Handbuch ISBN 978-3-518-29851-0

Hans-Peter Müller, Tilman Reitz (Hrsg.): Simmel-Handbuch. Begriffe, Hauptwerke, Aktualität. Suhrkamp Verlag (Frankfurt/M) 2018. 960 Seiten. ISBN 978-3-518-29851-0. D: 28,00 EUR, A: 28,80 EUR, CH: 38,50 sFr.
Reihe: Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft - 2251.

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Thema

Das „Simmel-Handbuch. Begriffe, Hauptwerke und Aktualität“ ist im September 2018 im Suhrkamp Verlag erschienen. Das 960 Seiten starke Handbuch bietet eine systematische und vielschichtige Einführung in Georg Simmels Leben und Werk. Neben einer Auseinandersetzung mit Simmels Biographie und seiner Programmatik enthält es eine Besprechung von über hundert werkgeschichtlich zentralen Begriffen (von A wie Abenteuer bis Z wie Zynismus), eine Vorstellung der 14 wichtigsten Monographien Georg Simmels sowie sechs Essays, in denen die Anschlussfähigkeit und Aktualität Simmels ausgelotet wird.

Herausgeber und Entstehungshintergrund

Die Herausgeber Hans-Peter Müller und Tilman Reitz präsentieren zu Georg Simmels Todestag, der sich im Jahr 2018 zum hundertsten Mal jährt, das „Simmel-Handbuch“. Mit der Unterstützung von weiteren 79 AutorInnen ergründen sie das Werk des schon zu Lebzeiten umstrittenen Philosophen und Soziologen. Auch wenn Georg Simmel mittlerweile den Status eines Klassikers erreicht hat und als einer der Gründungsväter der Soziologie gilt, so schien er zeitweise fast vergessen zu sein. Dies wird häufig mit seinem durchaus fragmentarischen Oeuvre erklärt und lässt sich an der ambivalenten und unterbrochenen Rezeptionsgeschichte seiner Schriften ablesen. Erst seit dem Jahr 2015 liegt eine Gesamtausgabe zu Georg Simmels Werk in 24 Bänden vor, die von Otthein Rammstedt herausgegeben wird und ebenfalls im Suhrkamp Verlag erscheint. In die Bemühungen einer fortdauernden Erschließung Simmels Werk reiht sich nun auch das aktuelle Handbuch ein. Es möchte, so schildern die Herausgeber ihr Anliegen, dazu beitragen, „Simmel genauer und in erweitertem Horizont zu lesen“ (S. 10) – um somit die Rezeptionsgeschichte weiter voranzutreiben.

Aufbau und Inhalt

Die Herausgeber Hans-Peter Müller und Tilman Reitz formulieren den Anspruch, mit dem Handbuch drei Fragen zu verfolgen:

  1. Was ist Simmel heute für uns? Das ist die Frage nach seiner Bedeutung.
  2. Wo und in welcher Weise knüpfen wir weiterhin an seine Ideen und Begriffe an? Das ist die Frage nach seiner Anschlussfähigkeit.
  3. Wie schätzen wir Werk und Wirkung ein? Das ist die Frage nach seiner Aktualität. (S. 9).

Die Fragen nach Simmels Bedeutung, seiner Anschlussfähigkeit und seiner Aktualität führen zu einem dreigliedrigen Aufbau:

  1. Das „Simmel-Handbuch“ beginnt mit einer knapp achtzig-seitigen Einführung in das Leben und das Werk Georg Simmels. Die beiden Herausgeber begeben sich auf eine „Spurensuche“ (S. 15), wie es in einer Zwischenüberschrift heißt, nach der Persönlichkeit und Programmatik Georg Simmels. Sie verknüpfen hierbei eine fundierte Rekonstruktion der lebens- und werkgeschichtlichen Daten mit der ambivalenten Rezeptionsgeschichte. Dabei verweisen sie auch auf die „magere“ Quellenlage (ebd.), welche nach wie vor die Grundlage für all die Informationen bildet, die zu Leben und Werkentwicklung von Georg Simmel zur Verfügung steht. Sie beleuchten Georg Simmel vielschichtig als Philosophen, Soziologen und als Kulturphilosophen.
    Danach folgen über hundert Begriffe, anhand derer Simmels Ideen und Überlegungen nachvollziehbar und ausschnittsweise vorgestellt werden. Die Leserinnen und Leser des Handbuchs können auf über fünfhundert Seiten Erläuterungen zu unterschiedlichsten Stichworten, wie beispielsweise „Differenzierung, Florenz, Der Fremde, Geld, Gesellschaft, weibliche Kultur, Tausch oder Wechselwirkung“, nachschlagen. Auf jeweils ca. drei- bis fünf- seitigen Exkursen werden Grundsätze Simmels erklärt und dabei die Verbindungen beispielsweise zwischen „Tausch“ und Simmels „Wertbegriff“ bzw. der Bedeutung von „Distanz“ offengelegt (S. 545).
  2. Daran anschließend findet sich im zweiten Teil eine Einführung in das Werk des Klassikers. In biographischer und werkgeschichtlicher Reihenfolge werden die 14 wichtigsten Monographien Georg Simmels vorgestellt, u.a. „Über sociale Differenzierung“, „Philosophie des Geldes“ oder die „Lebensanschauung“. Die jeweiligen Werke werden in ihren zentralen Grundgedanken umrissen, in ihrem Aufbau und Vorgehen erklärt und teilweise im Gesamtwerk verortet. So legt beispielsweise Heiner Ganßmann in den Ausführungen zu Georg Simmels „Philosophie des Geldes“ abschließend eine pointierte Wiedergabe der Diskussion und Kritik dar, die Simmels Schrift erfahren hat. Er rekonstruiert damit nicht nur zentrale Anknüpfungspunkte für eine kritische Diskussion Simmels „Philosophie des Geldes“, sondern argumentiert auf Basis einer vertieften Simmel-Rekonstruktion mit Simmel gegen diese Vorwürfe.
  3. Den letzten und dritten Teil des Handbuches bilden sechs Essays, die der Anschlussfähigkeit und Aktualität der Simmelschen Gedanken nachspüren. Adressiert wird Georg Simmel sowohl als Lebensphilosoph, Emotionstheoretiker und Stadtsoziologe und es wird der Frage nachgegangen, wo und wie heute in den (Sozial-)Wissenschaften an Simmel angeknüpft wird.
    Den Aufschlag der Essayreihe macht Michael Markropoulos‘ „Vergesellschaftung im Unendlichen. Simmels Modernität“. Hierin beschriebt er Georg Simmel als einen Theoretiker der Moderne, der, ähnlich wie Émile Durkheim, die „Unmöglichkeit definitiver Befriedigungen unter der Voraussetzung ihrer gleichzeitigen Erwartungen“ (S. 773) als Ausgangspunkt seiner Beobachtungen und Kritik wählt. Die Unruhe und das rastlose Drängen des modernen Menschen werden dabei auf den Mechanismus von permanenter Steigerung und Überbietung zurückgeführt, der dazu führt, dass erwünschte Befriedigung nicht mehr eintritt – oder, um es mit Simmel zu sagen, dass ein „Mangel an Definitivem im Zentrum der Seele“ vorherrscht (Simmel zit. nach Makropoulos, S. 773). Michael Makropoulos stellt die Besonderheit Simmels kulturkritischer Argumentation heraus, indem er konstatiert, dass Georg Simmel das Wesen der Moderne wie kaum ein anderer als „Kultur der Kontingenz“ (ebd.: 782) begreift – hierbei gibt es keine Individualisierung ohne Auflösung oder Konkurrenz; gleichzeitig ist bei aller Tragödie und Entfremdungskritik „das, was ist, immer auch anders möglich“ (S. 782). 

Das breit angelegte „Simmel-Handbuch“ eröffnet einen vielschichtigen Blick und Zugriff auf den Philosophen und Soziologen Georg Simmel. Simmel wird nicht nur als zentraler Stichwortgeber, beispielsweise für die Kulturphilosophie, ausgewiesen, sondern es gelingt auch, die „Eigenart seines Ansatzes“ herauszustellen (S. 23). So werden Simmels relationales Denken und seine ästhetische Offenheit herausgearbeitet, seine Haltung, die Ambivalenz der Moderne „werturteilsfrei und objektiv bis ins letzte“ (S. 17) zu beschreiben. Dadurch wird ein Bild von Georg Simmel als radikalen Denker der Moderne gezeichnet. Diese Modernität zeigt sich auch in seinem essayistischen und fragmentarischen Stil. Hierbei konnte ihm, für die LeserInnen häufig recht unvermittelt, fast alles zum Thema werden. Im Handbuch wird dies anhand der über hundert, teilweise sehr unterschiedlichen und vielfältigen Begriffe sichtbar. Die Herausgeber heben Simmels Begabung hervor, eine „Tiefendurchdringung von Phänomenen und zentralen Lebensfragen [vorzunehmen, L.H], wie unser Zeitalter sie kaum noch kennt“ (S. 15) und appellieren daran, erweiterte oder gar neue Leitlinien der Simmel-Interpretationen zu finden.

Die Deutsche Nationalbibliothek bietet Einblick in das vollständige Inhaltsverzeichnis.

Diskussion

Auf den ersten Blick erscheint das „Simmel-Handbuch“ nicht gerade systematisch, das Inhaltsverzeichnis offenbart nach Vorwort und Einführung knapp drei Seiten lang die Abfolge von Begriffen, die gerade LeserInnen, die sich noch nicht mit Simmel auseinandergesetzt haben, etwas ratlos zurücklassen muss. Den Herausgebern Hans-Peter Müller und Tilman Reitz gelingt es im Vorwort und im weiteren Vorgehen jedoch schnell, die Strukturdes Handbuches zu erläutern. Mit vertiefender Lektüre wird deutlich, dass sie damit sogar Simmels essayistischem und fragmentarischem Stil entgegenkommen und sich somit in Form und Inhalt auf eine etwas andere Art von Handbuch einlassen. Das Ergebnis überzeugt durch seine vielschichtigen Vertiefungs- und Diskussionsanregungen. Im Kontext von Seminaren oder Hausarbeiten bieten gerade die über hundert Begriffe eine verständliche Einführung in Simmels Gedanken und Schriften. Dies ist auch deshalb begrüßenswert, da das Lesen des Originals aufgrund der Sprache und Komplexität der Simmelschen Gedanken nicht nur „Totalaufmerksamkeit“ abfordert, so die Herausgeber, sondern auch „Disziplin und Schmerzunempfindlichkeit“ (S. 18).

Das Handbuch bleibt bei dem konstatierten schwierigen Zugang zu Simmel jedoch nicht stehen, sondern fragt danach, ob es eine Einheit in Simmels Werk gibt und wenn ja, worin diese besteht (S. 23). Die Autoren beschreiben den frühen und späten Simmel und sie präsentieren ihn als Philosophen, Soziologen und Ästhetiker, dessen Denken durch diese drei Einflüsse immer wieder verschoben und befruchtet wurde. Auch in diesem Sinne war Simmel modern, da transdisziplinär. Hans-Peter Müller und Tilman Reitz gelangen zu dem Schluss, „Simmel verfolge eine Strukturphänomenologie der modernen Kultur in analytischer Absicht“ (S. 60). Seine Studien der Modernität, die vor allem auf den Feldern von Kunst und Kultur angesiedelt sind, spüren einem spezifisch modernen „Verhältnis von Gesellschaft, Kultur und Persönlichkeit“ nach (S. 31). Inhaltlich weisen Simmels Werke zweifelnde Suchbewegungen sowie widersprüchliche, da zersetzende und auch konstruktive Töne auf; formal verfolgen sie jedoch eine „Kohärenz der Gedankenführung“ (Uwe Krähnke, zit nach Müller/Reitz, S. 61). Zur Diskussion stellen die Herausgeber dann folgende werkhistorische These: „Kritik der konventionellen Philosophie, ein eigenständiger Ansatz für die Soziologie und die Suche nach Lösungen für die verlorene Einheit in Gesellschaft und Kultur in Gestalt von Kultur-, Kunst- und Lebensphilosophie“ (S. 62). Mit diesem – noch recht offen formulierten – Vorschlag ist ein Anfang gemacht, Simmels Werk und seiner tieferliegenden, teilweise irritierenden und von ihm selbst nie explizit benannten Programmatik weiter nachzugehen. Die Grundlinien seines Forschungsprogrammes gilt es noch immer herauszuarbeiten, beispielsweise durch eine Ausarbeitung seiner dekonstruktivistischen Argumentation oder der Nähe seiner Stilanalyse der Singularität und des qualitativen Individualismus zur Zeitdiagnose einer „Gesellschaft der Singularitäten“ (Andreas Reckwitz 2017) (vgl. S. 172, 303). Simmels Fragen nach dem Niederschlag der Moderne in den Subjekten sowie nach Maßstäben gelungener Lebensführung haben jedenfalls nicht an Aktualität verloren.

Fazit

Die von den Herausgebern formulierten Ausgangsfragen nach Georg Simmels Bedeutung, seiner Anschlussfähigkeit und seiner Aktualität werden vielschichtig beantwortet. Das „Simmel-Handbuch“ eignet sich sowohl zum Einstieg in die erste Simmel-Lektüre, bietet aber auch für Simmel-KennerInnen ein gutes, fundiertes Nachschlagewerk, welches zum Weiterdenken und -forschen anregt. Durch die Aufteilung in eine systematische Einführung in Simmels Leben und Werk, die knappen Skizzen von über hundert zentralen Begriffen Simmels, eine Vorstellung seiner Monographien sowie Essays zu seiner zeitgenössischen Anschlussfähigkeit ist ein aktuelles Überblickswerk entstanden. Es kommt dem Anspruch nach, den aktuellen Stand der Forschung zu bündeln, neue Impulse zur Werkinterpretation zu liefern sowie auch offene Fragen und Streitpunkte zu benennen.

Rezension von
Dr. Laura Hanemann
Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie der Ludwig-Maximilians-Universität München, Lehrstuhl für Soziale Entwicklungen und Strukturen
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Es gibt 2 Rezensionen von Laura Hanemann.

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ISSN 2190-9245