Clemens Fobian, Michael Lindenberg u.a.: Jungen als Opfer von sexueller Gewalt
Rezensiert von Dr.phil. Peter Mosser, 19.11.2018

Clemens Fobian, Michael Lindenberg, Rainer Ulfers: Jungen als Opfer von sexueller Gewalt. Ausmaß, theoretische Zugänge und praktische Fragen für die Soziale Arbeit.
Nomos Verlagsgesellschaft
(Baden-Baden) 2018.
183 Seiten.
ISBN 978-3-8487-5100-6.
24,90 EUR.
Reihe: Kompendien der Sozialen Arbeit - Band 6.
Thema
Das Buch bietet einen Beitrag zur aktuellen Diskussion über sexualisierte Gewalt gegen Jungen aus einer hauptsächlich sozialarbeiterischen Perspektive. Wie dem Titel zu entnehmen ist, versuchen die Autoren Anregungen für die Praxis unter Rückgriff insbesondere auf soziologische Theorien und Terminologien zu fundieren.
Autoren
Clemens Fobian und Rainer Ulfers sind seit vielen Jahren in einer der wenigen Beratungsstellen tätig, die sich primär auf Hilfen für sexuell misshandelte Jungen konzentrieren (basis-paevent Hamburg). Neben ihrer Beratungstätigkeit sind sie in umfassender Weise auch in der Aus- und Fortbildungstätigkeit für Fachkräfte der Sozialen Arbeit aktiv.
Michael Lindenberg ist Sozialpädagoge und Kriminologe. Er arbeitet als Hochschullehrer an der Evangelischen Hochschule des Rauhen Hauses in Hamburg.
Entstehungshintergrund
In den vergangen Jahren hat sich viel getan in der Diskussion um sexualisierte Gewalt. Seit den öffentlichkeitswirksamen Aufdeckungen in „prominenten“ pädagogischen Institutionen (Canisiuskolleg, Odenwaldschule, Kloster Ettal,…) wurden in Deutschland bedeutende Weichenstellungen vorgenommen, um die Auseinandersetzung mit diesem Thema auszudifferenzieren und zu verstetigen. Genannt seien hier etwa der von der Bundesregierung eingesetzte „Runde Tisch Sexueller Kindesmissbrauch“, die Installierung (und Verstetigung) des Amtes des Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM), die Einrichtung von Förderlinien durch das BMBF (Bundesministerium für Bildung und Forschung) mit dem Ziel der Etablierung einer international beachteten Forschungslandschaft zu sexualisierter Gewalt und die Gründung der BKSF (Bundeskoordinierung spezialisierter Fachberatungsstellen) als bundesweit operierender Interessensvertretung der Fachberatungsstellen gegen sexualisierte Gewalt. Acht Jahre nach der Entfachung dieser Initiativen lässt sich bilanzieren, dass in Deutschland wichtige Arbeiten zum Thema geleistet und deren Ergebnisse in zahlreichen Publikationen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden.
Als Beitrag zu dieser Entwicklung haben nun Clemens Fobian, Michael Lindenberg und Rainer Ulfers ein Buch vorgelegt, das sich sehr spezifisch mit männlichen Opfern sexualisierter Gewalt befasst. Die Bedeutung einer solchen Veröffentlichung im Kanon aktueller Auseinandersetzungen mit sexualisierter Gewalt ist unstrittig. Die dezidiert geschlechtsbezogenen Dimensionen dieser Gewaltform wird zwar häufig implizit angedeutet und empirisch beschrieben, aber selten in ihrer Vielgestaltigkeit und Wirkmächtigkeit dargestellt und wahrgenommen. Über zehn Jahre nach Erscheinen von Dirk Banges „Mauer des Schweigens“ (Bange 2007) wurde es tatsächlich wieder Zeit für einen umfassenden Überblick zur männlichen Betroffenheit sexualisierter Gewalt. Inzwischen ist viel passiert und es ist das Verdienst der Autoren, eine aktuelle Position zum Thema in der nötigen Differenziertheit ausgeführt zu haben.
Aufbau
Die Deutsche Nationalbibliothek bietet Einblick in das vollständige Inhaltsverzeichnis.
Inhalt
Das Buch beginnt mit einer Reihe von Standortbestimmungen, die sich u.a. auf die Fundierung des Gewaltbegriffs, auf die makrosoziologische Verortung sexualisierter Gewalt und auf Besonderheiten der männlichen Betroffenheit, insbesondere im Zusammenhang mit dem komplizierten Problem der Geheimhaltung (und der Selbstoffenbarung) beziehen.
Daran schließt sich eine Darstellung empirisch fundierter Informationen zum Ausmaß sexualisierter Gewalt an Jungen, zu geschlechtsspezifischen Risikofaktoren und Folgen für männliche Betroffene an, woraus die Notwendigkeit geschlechtsbezogener Hilfen für betroffene Jungen und Männer abgeleitet wird.
Im darauf folgenden Kapitel wird ausführlicher über Täter und Täterstrategien informiert, wobei der Blick auch auf weibliche Täterinnen gelenkt und der Pädophiliebegriff einer kritischen Diskussion unterzogen wird.
Es folgt ein theoretischer Teil, in dem unter Bezugnahme auf Hannah Arendt und Johan Galtung der Begriff der Gewalt in Abgrenzung zu Macht, Autorität und Stärke diskutiert wird. Im nächsten Schritt erfolgt eine Hinführung zum Konzept der strukturellen Gewalt und zur Differenzierung zwischen sexualisierter Gewalt, sexuellem Missbrauch und sexualisierten Grenzverletzungen, bevor unter der Überschrift „Gewalt und die Aufgaben der Erziehung“ unter Rekurs auf pädagogische Autoritäten (v.a. Janusz Korczak) allgemeine pädagogische Prinzipien dargestellt werden, die der Anwendung von (sexualisierter) Gewalt durch Autoritätspersonen (implizit) entgegenstehen.
Nach einer gesellschaftspolitischen Kontextualisierung sexualisierter Gewalt an Jungen beginnt der praktische Teil des Buches, der sich in ausführlichen Kapiteln vor allem mit Methoden der Traumapädagogik und der Prävention befasst, wobei die verschiedenen Dimensionen von Prävention dargestellt und das Problem ihrer normativen Vereinnahmung diskutiert wird.
Das Buch schließt mit Argumenten für ein „altersunabhängiges integriertes Beratungskonzept“ für betroffene Jungen und Männer sowie mit einigen komprimierten Antworten auf FAQs, die als kompakte Zusammenfassung vieler auf den vorangegangenen 162 Seiten behandelten Inhalte gelesen werden können.
Diskussion
Die Autoren benennen drei Ziele, die sie mit ihrem Buch erreichen wollen, nämlich
- die Beleuchtung des gesellschaftlichen Horizonts sexualisierter Gewalt an Jungen,
- die Sensibilisierung der Sozialen Arbeit für das Thema und
- die Vermittlung einer praktischen Orientierung im Alltag sozialpädagogischer Beratungswirklichkeit.
Diese Ziele sind hinreichend offen formuliert, um nach der Lektüre zu der Einschätzung zu gelangen, dass sie mit hoher Wahrscheinlichkeit erreicht wurden. Als Fachleute, die seit langer Zeit mit Theorie und Praxis Sozialer Arbeit vertraut sind, gelingt es ihnen, die makrosoziologische Verortung sexualisierter Gewalt in deren Vielgestaltigkeit erkennbar und nachvollziehbar zu machen. Exemplarisch sind in diesem Zusammenhang die Wirkmächtigkeit der Geschlechterdimension, die Bedeutung des Mediendiskurses und diverse Vereinnahmungen des Themas (zum Beispiel durch rechtsradikale Gruppierungen) zu nennen.
Ungeachtet dessen, dass sich das erwähnte Ziel der Sensibilisierung der Sozialen Arbeit schwerlich operationalisieren lässt, ist es sehr wünschenswert, dass das Buch in der Ausbildung und in der Praxis der Sozialen Arbeit eine breite und lebhafte Rezeption erfährt. Nicht allein die bekannt hohen Prävalenzzahlen von sexualisierter Gewalt (auch bei Jungen) rechtfertigen eine intensive professionelle Befassung. Auch der mehrfach beschriebene Umstand, dass sexualisierte Gewalt kein isoliertes Schreckensszenario im Reich der Perversion darstellt, sondern mit realen und häufig anzutreffenden institutionellen und familiären Risikokonfigurationen vergesellschaftet ist, macht das Thema für die Soziale Arbeit hochrelevant. Den Autoren gelingt es in überzeugender Weise zu zeigen, dass sexualisierte Gewalt viele Dimensionen berührt, die für die Soziale Arbeit vor allem im Kontext der Kinder- und Jugendhilfe ganz allgemein bedeutsam sind bzw. bedeutsam sein müssen: Familiäre Ressourcen, institutionelle Kulturen, erzieherische Haltungen, Geschlechter- und Machtverhältnisse. Deutlich wird: Wenn wir über sexualisierte Gewalt sprechen, sollten wir nicht nur über sexualisierte Gewalt sprechen.
Ein weiterer bemerkenswerter Mehrwert des Buches liegt in teilweise detailreich dargestellten Methoden der Prävention, der Traumapädagogik und der Aus- bzw. Weiterbildung für Studierende und Fachkräfte. Auf diese Weise wird das Buch auch seinem selbst formulierten Anspruch gerecht, Praxisanregungen für Fachkräfte zu geben, die mit sexuell misshandelten Jungen zu tun haben bzw. in der Prävention aktiv sind. Dabei wird auch deutlich gemacht, dass die Unterstützung für betroffene Jungen und die Auseinandersetzung mit dem Thema sowohl methodisches Wissen als auch reflektierte und diskursiv entwickelte persönliche Haltungen zu Themen wie Macht, Geschlecht und Sexualität erforderlich machen.
Clemens Fobian und Rainer Ulfers arbeiten seit vielen Jahren bei „basis-praevent“ in Hamburg mit sexuell misshandelten Jungen. Sie lassen uns mit diesem Buch nicht nur an ihrer ausgeprägten Praxiserfahrung teilhaben, sondern auch an ihren theoretischen Reflexionen zum Thema und an ihren über Jahre in vielfältigen Vernetzungszusammenhängen angesammelten Wissensbeständen. Daraus ist ein entsprechend gut fundiertes Buch hervorgegangen, dem neben der bereits erwähnten Vielgestaltigkeit der Inhalte noch etwas sehr Entscheidendes zugutegehalten werden kann: Fobian und Ulfers gewähren einen sehr lebendigen und gut nachvollziehbaren Einblick in die Arbeit einer Fachberatungsstelle gegen sexualisierte Gewalt, die sich nicht allein auf die Unterstützung Betroffener bezieht, sondern deren vielschichtiges Profil u.a. auch Elternarbeit, Beratung von Fachkräften, Prävention, Weiterbildung und Öffentlichkeitsarbeit umfasst. Im Hinblick darauf kann dem Buch neben den Praxisbeiträgen in Mosser/Lenz (2013) ein geradezu pionierhafter Charakter bescheinigt werden. Wenn es um die von der BKSF und dem UBSKM forcierte finanzielle Absicherung der Arbeit von Fachberatungsstellen geht, liefert dieses Buch wichtige, wenn auch häufig implizit formulierte Argumentationshilfen.
Kritisch anzumerken ist die zuweilen etwas willkürlich anmutende Reihenfolge der Kapitel. So sind recht umfangreiche theoretische Abhandlungen an Stellen eingestreut, die dem intuitiven Leseverständnis zuwiderzulaufen scheinen (z.B. Kapitel 5 „Sexualisierte Gewalt. Einige theoretische Überlegungen zum praktischen Umgang mit diesem Begriff“). In einem eher empirisch angelegten Abschnitt finden sich wiederum konkrete Botschaften für die Prävention, die im Präventionskapitel vermutlich besser platziert gewesen wären. Eine klare Gliederung in einen theoretischen, empirischen und praxisbezogenen Teil hätte dem Lesefluss gut getan, weil auf diese Weise eine bessere Sortierung der vielfältigen Inhalte und die Vermeidung mancher Wiederholung ermöglicht worden wäre.
Im Vergleich zu den theoretischen Überlegungen und den Praxisanregungen fällt der empirische Teil qualitativ etwas ab. Hier hätte man sich mehr Bezugnahmen auf aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse gewünscht, um einigen Themenfeldern, die gerade im Zusammenhang mit männlichen Betroffenheiten von hoher Relevanz sind, mehr Raum zu verschaffen: Sexualisierte Gewalt im institutionellen Kontext (z.B. in der katholischen Kirche), sexualisierte Grenzverletzungen durch Kinder, die Bedeutung von Peer-disclosure, sexualisierte Gewalt durch den Einsatz digitaler Medien, männliche unbegleitete minderjährige Flüchtlinge als Opfer sexualisierter Gewalt.
Einem häufig wiederkehrenden Problem entkommt auch das Buch von Fobian, Lindenberg und Ulfers nicht. Es hat etwas zu tun mit der schwierigen Integration sozialarbeiterischer und klinischer Aspekte in der Beratung/Behandlung gewaltbetroffener Menschen, in diesem Fall sexuell misshandelter Jungen und Männer. Es scheint immer wieder den Versuch zu geben, mithilfe des Traumabegriffs die Kluft zwischen klinischen und sozialarbeiterischen Herangehensweisen schließen zu wollen.
Im vorliegenden Buch wird der Traumapädagogik ein ausführliches Kapitel gewidmet, wobei wir den Autoren auch genaue Beschreibungen entsprechender Methoden für die Beratungsarbeit verdanken. Es ist vermutlich kein Zufall, dass der sich als Leitmotiv durch das gesamte Buch ziehende Genderaspekt im Kapitel über Traumapädagogik plötzlich verschwindet. Es ist, als würde sich die klinische (wenn auch mit dem Suffix -pädagogisch gekennzeichnete) Intervention als geschlechtsneutrale Methodik dem gesellschaftlichen Kontext sexualisierter Gewalt entziehen. Auch wenn die Autoren den Anspruch explizieren, ihr Buch an die Soziale Arbeit zu adressieren, so wäre es sehr bereichernd gewesen, wenn sie mehr (kritische) Bezugnahmen zur klinischen Dimension der männlichen Betroffenheit von sexualisierter Gewalt vorgenommen hätten. Die Frage, ob das, worunter sexuell misshandelte Jungen leiden, eher mit medizinisch-psychotherapeutischen oder mit sozialarbeiterischen Zugängen behandelt werden sollte, ist nämlich durchaus nicht trivial und diskursiv bislang kaum entwickelt. Ein Rekurs auf die Traumapädagogik hilft hier nur bedingt weiter.
Fazit
Clemens Fobian, Michael Lindenberg und Rainer Ulfers haben mit ihrem wichtigen Buch nicht nur das Thema „Sexualisierte Gewalt an Jungen“ sichtbar gemacht, sondern sie lassen uns an der Vielfalt ihrer Arbeit teilhaben und öffnen somit eine ermutigende Perspektive sowohl für Fachkräfte als auch für Betroffene. Wir sind ein ganzes Stück weiter bei dem Bemühen, männliche Betroffenheit von sexualisierter Gewalt aus der von Tabus umzingelten gesellschaftlichen Unsichtbarkeit herauszuholen. Die drei Autoren setzen auf diesem Weg eine gerade zum jetzigen Zeitpunkt unverzichtbare Markierung.
Literatur
- Bange, D. (2007). Sexueller Missbrauch an Jungen. Die Mauer des Schweigens. Göttingen: Hogrefe.
- Mosser, P./Lenz, H.-J. (Hrsg.) (2013). Sexualisierte Gewalt gegen Jungen: Prävention und Intervention. Ein Handbuch für die Praxis. Wiesbaden: Springer VS.
Rezension von
Dr.phil. Peter Mosser
Dipl.-Psychologe
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Zitiervorschlag
Peter Mosser. Rezension vom 19.11.2018 zu:
Clemens Fobian, Michael Lindenberg, Rainer Ulfers: Jungen als Opfer von sexueller Gewalt. Ausmaß, theoretische Zugänge und praktische Fragen für die Soziale Arbeit. Nomos Verlagsgesellschaft
(Baden-Baden) 2018.
ISBN 978-3-8487-5100-6.
Reihe: Kompendien der Sozialen Arbeit - Band 6.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/25067.php, Datum des Zugriffs 04.10.2023.
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