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Gerhard Schweppenhäuser: Revisionen des Realismus

Rezensiert von Prof. em. Dr. habil. Hans-Ernst Schiller, 15.03.2019

Cover Gerhard Schweppenhäuser: Revisionen des Realismus ISBN 978-3-476-04627-7

Gerhard Schweppenhäuser: Revisionen des Realismus. Zwischen Sozialporträt und Profilbild. J.B. Metzler Verlag (Stuttgart) 2019. 223 Seiten. ISBN 978-3-476-04627-7. D: 39,95 EUR, A: 41,07 EUR, CH: 41,50 sFr.
Reihe „Abhandlungen zur Philosophie“.

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Thema

Ausgangspunkt ist die Porträtfotografie August Sanders und die Beziehung, die Alfred Döblin 1929 zwischen ihr und dem philosophischen Universalienrealismus hergestellt hatte. Dies führt Schweppenhäuser auf die Frage, „wie verschiedene Begriffe des Realismus in der sozialdokumentarischen Porträtfotografie des 20. Jahrhundert ästhetisch in Erscheinung getreten sind, mit welchen Diskurslinien sie seither in ausdrücklicher oder impliziter Verbindung stehen und wie sie in der Selbstporträt- und Profilbildliteratur des 21. Jahrhunderts erneut relevant werden.“ (S. 3)

Autor

Schweppenhäuser ist Professor für Design- und Medientheorie an der Fakultät Gestaltung der Hochschule für angewandte Wissenschaften und Privatdozent für Philosophie an der Universität Kassel. Er war Gastprofessor am Literature Department der Duke Univivesity in Durham, N.C., und Professor für Ästhetik an der Fakultät für Design und Künste der Freien Universität Bozen. Er ist Mitherausgeber der „Zeitschrift für kritische Theorie“.

Aufbau

Neben einer Einleitung umfasst das Werk vier Teile.

Zur Einleitung

Die Einleitung exponiert die Fragestellung, indem sie zunächst verschiedene Realismusbegriffe unterscheidet: vom Alltagsrealismus im Sinne des Realitätsprinzips wird der literarische Realismus als Darstellung gesellschaftlicher Wirklichkeit und der philosophische Realismus in zweifacher Bedeutung unterschieden. Philosophischer Realismus behauptet erstens, dass es eine von unserem Bewusstsein, unseren „Konstruktionen“ und unseren Zeichensystemen unabhängige Welt gibt und zweitens, als sog. Universalienrealismus, dass in der von uns unabhängigen Welt Allgemeinbegriffe entweder mit den Einzeldingen und ihren Beziehungen oder von ihnen abgelöst (als platonische Ideen) wirklich sind. Alfred Döblins Rückgriff auf den Universalienrealismus bedeutet demnach, dass in den Porträts von Sander ein real Allgemeines visuell zur Erscheinung kommt. Schweppenhäuser schließt sich der Sichtweise Döblins an: ohne Annahme eines real Allgemeinen können „keine auf den Grund gehenden Beschreibungen und Analysen visueller Phänomene gelingen.“ (S. 5)

Freilich ist das Allgemeine, das hier visuell erscheint, keine „wahre Wirklichkeit“ im Sinne der platonischen Ideen, sondern ein „sozial Allgemeines“, das historisch geworden ist und zum Gegenstand von Kritik werden kann. Schweppenhäuser zielt auf die Konzeption eines „negativen Allgemeinen“ (S. 6), das als daseiende Abstraktion in der Gesellschaft Zwangscharakter besitzt und als irrationale Verselbstständigung gegenüber den Individuen zu kritisieren ist.

Der weitere Aufbau des Buches ist theoriegeschichtlich orientiert. Der Behandlung eines „alten“ Realismus (Teil II) folgt die Untersuchung eines mittleren oder „medialen“ Realismus (Teil III), woran sich die Thematisierung des „neuen“ Realismus (Teil IV) anschließt, der sich als Antwort auf die zeitweise dominierenden poststrukturalistischen und konstruktivistischen Theorien artikuliert hat. Jeder dieser Teile ist seinerseits in drei Kapitel gegliedert.

Zu Teil II

In Teil II („alter“ Realismus) vergegenwärtigt der Autor zunächst die Porträtfotografie aus Sanders „Antlitz der Zeit“. Sander versucht, einen visuellen Aufriss der bestehenden Gesellschaftsordnung zu geben. (S. 14) In den Physiognomien der porträtierten Individuen kommt das Allgemeine der Klassen- und Berufszugehörigkeit zum Ausdruck: „das sozial Allgemeine hat das Inividuell-Besondere immer schon geformt und damit relativiert.“ (S. 21) Trotz solcher Vorgängigkeit geschieht die Erscheinung des sozial Allgemeinen oft in Form einer Selbststilisierung.

Im 2. Kapitel dieses Teils gibt der Autor eine längere philosophiegeschichtliche Erinnerung der problematischen Realität des Allgemeinen, die ihn von Platon und Aristoteles über die Diskussionen des Mittelalters bis zum reflexionslosen Tatsachenfetischismus des Vulgärnominalismus führt. Nach einem Blick auf die Beziehungen zwischen Universalien- und Abendmahlsstreit thematisiert Schweppenhäuser den – wahrscheinlich historisch entscheidenden – Zusammenhang zwischen dem Projekt der Naturbeherrschung und der (nominalistischen) Leugnung eines erkennbaren An-sich-Bestimmtseins der Dinge. Schließlich verortet der Autor die Marx'sche Kritik der politischen Ökonomie im Spannungsfeld der philosophiegeschichtlichen Problematik: Sie „vollzieht zwar die nominalistische Destruktion metaphysischer Wesensbegriffe nach, aber in der Kritik real daseiender Abstraktionen knüpft sie an das realistische Paradigma an.“ (S. 52) Bei „daseiender Abstraktion“ wäre v.a. an die Kategorien Wert, Geld und Kapital zu denken.

Im 3. Kapitel wendet sich der Autor den zentralen Thesen aus Benjamins Ursprung des deutschen Trauerspiels zu. Im Hinblick auf Sanders Porträtfotografie könnte, so die Hypothese, der Allegoriebegriff fruchtbar sein. „Allegorisch wäre an Sanders Bildgestaltung aus dieser Sicht die Gleichzeitigkeit des Individualausdrucks der Personen und seiner Prägung durch ein gesellschaftlich Allgemeines.“ (S. 61)

Zu Teil III

Im III. Teil („mittlerer“ oder „medialer“ Realismus) plädiert Schweppenhäuser für einen „Begriffsrealismus zweiten Grades“, in welchem Allgemeinbegriffe als Bemühungen verstanden werden, „Bezeichnungen wesentlicher Eigenschaften der Objekte (im weitesten Sinne) zu bestimmen (…).“ (S. 73) Dies kann als Charakterisierung des ästhetischen Realismus gelten (S. 78), der zunächst an den großen Erzählern des 19. Jahrhunderts, v.a. an Balzac und Gottfried Keller diskutiert wird. Sodann wendet sich der Autor der literarischen Avantgarde (Döblins „Berlin Alexanderplatz“ und dem Surrealismus) zu, um die Beziehung zum ästhetischen Realismus anhand der Kontroverse zwischen Lukács und Bloch über den Expressionismus zu thematisieren.

Das 2. Kapitel geht auf die semiotische Interpretation der Fotografie ein und soll die These erläutern, dass semiotische Aufklärung „einer zweiten Reflexion“ bedarf, „um ihre abstrakte Negation des Wahrheitsgehalts der Frage nach den Möglichkeiten, ein Allgemeines zu erkennen, zu überwinden (…).“. (S. 110) Mit Roland Barthes wird die Auffassung vertreten, dass die „konstruktivistisch-semiotische Liquidierung des fotografischen Signifikats“ in eine Sackgasse geführt hat. (S. 115) Die Ausführungen münden in Didi-Hubermans These vom konstruktiv-repräsentativen Doppelcharakter der fotografischen Bilder. Im dritten Kapitel steht schließlich Kracauers Theorie von Film und Fotografie im Zentrum. Thematisch ist die immanente Geschichte der Bilder und die Beschränktheit des Rationalismus in der kapitalistischen Moderne.

Zu Teil IV

Teil IV der Untersuchung beginnt mit Hinweisen auf die Rückkehr des Realismus in der zeitgenössischen Diskussion. „Das Paradigma der verlorenen, überwundenen oder – was letztlich auf dasselbe hinausläuft – ad infinitum multiplizierten Realität konnte eine Zeit lang die Diskurshoheit behaupten. Doch der diskursive Gegenschlag blieb nicht aus.“ (S. 148)

Das 2. Kapitel beschäftigt sich mit „Glanz und Elend des metaphysischen Paradigmas“ und dem Konzept der „negativen Metaphysik“, wie es von Karl Heinz Haag entwickelt worden ist. Thematisiert werden der wissenschaftstheoretische Realismus Hilary Putnams sowie die Kritik an konstruktivistischen Positionen, namentlich von John Searle oder Markus Gabriel.

Das 3. Kapitel wendet sich sodann der „Diskussion gegenwärtiger Bilder des fragmentierten Selbst“ zu. (S. 172) Es geht um die „visuelle Erkenntnis der metaindividuellen Ordnungen des Sozialen“ (S. 174), genauer gesagt: um die gesellschaftliche Präformation des individuellen Ausdrucks gerade da, wo Unverwechselbarkeit und Einzigartigkeit angezeigt werden sollen. (S. 175) Im Anschluss an die These von Reckwitz, das Individuelle trete als das neue Allgemeine auf, weist Schweppenhäuser unter Heranziehung empirischer Untersuchungen auf, wie die Inszenierung des Unverwechselbaren den alten Mechanismen des Allgemeinen: der Konkurrenz und der Selbstvermarktung gehorcht. Trotz aller Selbstverliebtheit folgen die Posen der Selfie-Kultur einem sozialen Code, der auf den Aufbau einer Markenidentität hinausläuft, die maskenhafte Züge trägt. Die Untersuchung mündet in einer Vergegenwärtigung der Sozialisationstheorie von Oskar Negt und Alexander Kluge aus „Geschichte und Eigensinn“. Zentraler Begriff ist der freie Austausch, der dem sozialen Zwangstausch entgegengesetzt wird.

Diskussion

Die Untersuchung Schweppenhäusers besticht durch eine eindrucksvolle Fülle des Materials und seine begriffsgeleitete Strukturierung. Problematisch scheint (neben Einzelfragen wie der Einschätzung Bourdieus auf S. 116 f.) die Reichweite des Gegensatzes von Nominalismus und Universalienrealismus. Sicher ist die Frage nach der Wirklichkeit des Allgemeinen eine der Hauptfragen der Philosophie und Gesellschaftstheorie. Aber der „Universalienstreit“ ist eben auch eine historische Gestalt jener Frage, die aus dem Zusammenprall der platonischen Tradition spätantiker und mittelalterlicher Theologie mit der Aristotelesrezeption und den Bedürfnissen empirischer Forschung entstand. Es ist deshalb fraglich, ob sich der Gegensatz von Nominalismus und Begriffsrealismus zum Ordnungsschema für die Theoriegeschichte und die gegenwärtige Diskussion eignet. Dass die Frage nach der Wirklichkeit des Allgemeinen gleichwohl als äußerst fruchtbar für die ästhetischen und medientheoretischen Probleme sein könnte, zeigt die vorliegende Untersuchung auf überzeugende Weise.

Fazit

Das vorliegende Buch ist eine gelungene Verbindung von einzelwissenschaftlicher, insbesondere medientheoretischer und klassisch philosophischer Fragestellung auf der Grundlage einer beeindruckenden Vertrautheit mit der einschlägigen Literatur. Es ist allen mit Ästhetik und Medien Befassten zu empfehlen, um die erkenntnistheoretische Dimension ihres Gegenstandsbereichs zu erschließen.

Rezension von
Prof. em. Dr. habil. Hans-Ernst Schiller
Vormals Professor für Sozialphilosophie und -ethik
Fachhochschule Düsseldorf, Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften
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Es gibt 31 Rezensionen von Hans-Ernst Schiller.

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Zitiervorschlag
Hans-Ernst Schiller. Rezension vom 15.03.2019 zu: Gerhard Schweppenhäuser: Revisionen des Realismus. Zwischen Sozialporträt und Profilbild. J.B. Metzler Verlag (Stuttgart) 2019. ISBN 978-3-476-04627-7. Reihe „Abhandlungen zur Philosophie“. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/25073.php, Datum des Zugriffs 04.10.2023.


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