Thomas Bauer: Warum es kein islamisches Mittelalter gab
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 30.11.2018

Thomas Bauer: Warum es kein islamisches Mittelalter gab. Das Erbe der Antike und der Orient. Verlag C.H. Beck (München) 2018. 175 Seiten. ISBN 978-3-406-72730-6. 22,95 EUR.
Mittelalter? – Mittelalter!
Die Einteilung über die geschichtliche Entwicklung der Menschheit in Epochen als historische, zeitliche Abläufe von Begebenheiten und Ereignissen ist eine europäische Erfindung! Die Hegelsche Zuordnung, dass Weltgeschichte als säkularisierte Form des (göttlichen) Weltgerichts sei, kann als Vorausgriff der europäischen Aufklärung verstanden werden. In der europäischen Geschichtsschreibung werden die Geschichtsepochen – Antike, Mittelalter, Neuzeit – als Ankerpunkte der Menschheitswerdung und -entwicklung ausgewiesen. Das europäische Mittelalter also wird als „mittleres Zeitalter“ beschrieben, in dem das christliche Abendland seine Vormachtstellung und Dominanz zum Ausdruck brachte. Diese eurozentrierte Geschichtsbetrachtung vernachlässigt oder lässt überhaupt aus den Blick geraten, dass in anderen Teilen der Erde – Afrika, Asien, Amerika – und in anderen weltanschaulichen Zusammenhängen die Geschichtsgliederungen und -bewertungen anders ausfallen könnten. So etwa kam zustande, dass die europäischen Kolonialisten bei ihren Eroberungszügen in Afrika überzeugt waren und dies auch als Motiv ihrer Machtausübung benutzten, dass Afrika keine Geschichte (und keine Kultur) habe.
Entstehungshintergrund und Autor
In ähnlicher Weise verläuft der (westliche) Diskurs, wenn es um die Frage geht, welche Bedeutung und Aufmerksamkeit die geschichtliche und kulturelle Entwicklung im Islam habe. Während der Orientalist Bassam Tibi davon ausgeht, dass es zwei arabische Aufklärungen gegeben habe – eine im Mittelalter und eine zweite 1967 (DIE ZEIT, Nr. 49 vom 25. 11. 2014, S. 12), wird von IslamwissenschaftlerInnen kontrovers und streitbar diskutiert, ob die Offenbarungstexte des Koran überhaupt eine Aufklärung zulassen können ( vgl. z.B. aus der Fülle der im Internet-Rezensionsdienst www.socialnet.de mit dem Stichwort „Islam“ vorgestellten Literatur: Guido Knopp, u.a., Der Heilige Krieg. Mohammed, die Kreuzritter und der 11. September, 2011, https://www.socialnet.de/rezensionen/14134.php ). Spätestens als der UNESCO-Kurier, die Zeitschrift der Kultur-, Bildungs- und Wissenschaftsorganisation der Vereinten Nationen, in der Nummer 9/1986 auf zwei große Denker des 12. Jahrhunderts verwies – Averroes und Maimonides – und als der österreichische Theologe und Philosoph Franz Schupp (1936 – 2016) Averroes Abhandlung und die Urteilsfällung über das Verhältnis von Gesetz und Philosophie (1181/82) neu kommentierend herausgibt und damit auf die Bedeutung von Ibn Rushd für die damalige, friedliche, von Toleranz und Dialog geprägten Zeit in al-Andalus verweist (Meiner-Verlag, Hamburg 209, 432 S.), da klingen Averroes Erkenntnis wie für heute gemacht: „Es gibt kein größeres Übel in der Führung einer Gesellschaft als jene Politik, die eine Gesellschaft zerteilt, wie es nichts Besseres gibt für ein Gemeinwesen als das, was es verbindet und eint“ (Anmerkungen zu Platon, Staat I).
Der Münsteraner Islam- und Arabistik-Wissenschaftler Thomas Bauer greift in den Diskurs ein, indem er darauf hinweist, dass der Begriff „islamisches Mittelalter“ als synonym gebrauchte Bezeichnung der europäischen Epocheneinteilung falsch und irreführend ist. Es sei, so seine These, unangemessen, undifferenzierte Kulturvergleiche zwischen den im Mittelalter vollzogenen Entwicklungen in West- und Mitteleuropa einerseits und denen in Westasien vorzunehmen.
Aufbau und Inhalt
Neben dem Vorwort, in dem der Autor auf den Zusammenhang von wissenschaftlichem Diskurs und Veröffentlichung verweist, gliedert er das Buch in fünf Kapitel:
- Im ersten führt er zum Begriff „islamisches Mittelalter“ sechs Gegengründe an;
- im zweiten unternimmt er einen Vergleich zwischen „Orient und Okzident“;
- im dritten geht es auf dem Weg vom Mittelmeer bis zum Hindukusch um die „Suche nach dem ganzen Bild“;
- im vierten wird die „islamische Spätantike“ als formative Periode der islamischen Wissenschaften vorgestellt;
- und im fünften Kapitel benennt der Autor „das 11. Jahrhundert als Epochengrenze“.
Die Kritik am (europäischen) Mittelalterbegriff ist kein l’art pour l’art, auch keine wissenschaftliche Spielerei. Vielmehr stellt die Auseinandersetzung über Begriffe, Bedeutungen, Zuschreibungen und Klassifizierungen – nicht nur im historischen Zusammenhang – eine intellektuelle Herausforderung dar. Die Bezeichnung „islamisches Mittelalter“ beinhaltet deshalb bereits zwei Fallen und Fehlschlüsse: Was ist „islamisch“? Was wird mit „Mittelalter“ ausgedrückt? Wenn der „Spiegel“ in der Nr. 7 vom 12. 2. 1979 die iranische Revolution mit den Repressionen und zivilisatorischen Einschränkungen mit einem Bild titelt, das einen schwertschwingenden islamischen Reiter zeigt, hinter dem auf dem galoppierenden Pferd eine verschleierte Frau klammert und im Großformat „Zurück ins Mittelalter“ gedruckt ist, wird deutlich, dass mit der Bezeichnung „Mittelalter“ etwas nicht stimmen kann. Der exotische, westliche Blick verrät es; imperiale Besserwisserei und hegemoniales Machtgehabe verdeutlichen es.
Die historischen, machtpolitischen und ideologischen Auseinandersetzungen und Abgrenzungen zwischen dem Orient und dem Okzident. Mit der Frage – „Gibt es im Mittleren Osten (Ägypten, Palästina, Syrien, Mesopotamien, Iran) eine Entwicklung, die in auffälliger Weise derjenigen entspricht, die in den Gebieten des Weströmischen Reiches den Übergang von der Antike zum Mittelalter markiert?“ – zählt der Autor in alphabetischer Reihenfolge von A – Z die deutlichen Unterschiede auf: Analphabetismus hier, Wissen und Kultur dort; Dichtung, Erbsünde, Glas, Individualismus, Medizin, Papier, Urbanität, Xenophobie, Ziffern und Zahlen… „Wenn es aber jene Transformation, die Europa von der Antike zum Mittelalter führte, im Osten nicht gegeben hat, wenn also die Antike dort nie untergegangen ist, ist es auch nicht sinnvoll, von einem ‚Mittelalter‘ zu sprechen“.
Epochenkonstruktionen sind dann sinnvoll und nützlich, wenn das Ganze der Lebensbedingungen und Ereignisse im Blick ist, wertungsfrei, also nicht mit negativen oder positiven Konnotationen belastet ist. „Von einer neuen Epoche sollte man nur dann sprechen, wenn sich die Lebensverhältnisse nicht nur für eine schmale Elite geändert, sondern weite Bevölkerungskreise eine tiefgreifende Umgestaltung ihrer Lebensumstände erfahren haben“. Es ist das autochthone und hegemoniale Verschwindenlassen, Herabwürdigen und Vergessen von Kulturen und Räumen, die Epochen- und Kulturgrenzen errichten lassen. Die Informationen, die der Autor bezüglich der sprach- und rechtswissenschaftlichen Entwicklungen, zur Rhetorik und Philosophie in den arabischen Kulturen aufführt, öffnen für den Leser neue Fenster und Einsichten.
Die Deutsche Nationalbibliothek bietet Einblick in das vollständige Inhaltsverzeichnis.
Fazit
Die Auflistung der Gründe, weshalb vom „islamischen Mittelalter“ nicht gesprochen werden kann, überzeugt: Der Begriff ist ungenau – er verführt zu Fehlschlüssen und Vorurteilen – er wird diffamierend verwendet – er exotisiert die islamische Welt – er wirkt imperial – er basiert auf keiner sachlichen Grundlage. Damit kippt der Autor nicht nur den europäischen „Mittelalter“-Begriff, sondern auch den islamischen. Anknüpfend an die „First Millennium“-These von Garth Fowden „lässt sich der Zeitraum nach dem Untergang des Weströmischen Reiches und der arabisch-islamischen Eroberung des Sassanidenreiches sowie weiter Teile des Oströmischen Reiches als Teil der Spätantike verstehen“ – nicht als Epoche, sondern als „Transformationsprozess“ und „formative Periode“. Die Weiterentwicklung hin zum „globalen Raum“ verweist auf die Zukunft!
Die Entwicklung der islamischen Welt in Asien und Afrika im Laufe der Jahrtausende verdeutlicht, dass es nicht sinnvoll ist, von Zeitepochen, sondern von „formativen Perioden“ zu sprechen. Zahlreiche SW-Abbildungen und Farbfotos illustrieren das interessante, lesenswerte und aufklärungsorientierte Essay.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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