Dirk Nüsken, Wolfgang Böttcher: Was leisten die Erziehungshilfen?
Rezensiert von Dr. Stefan Eberitzsch, 25.04.2019

Dirk Nüsken, Wolfgang Böttcher: Was leisten die Erziehungshilfen? Eine einführende Übersicht zu Studien und Evaluationen der HzE.
Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2018.
228 Seiten.
ISBN 978-3-7799-2693-1.
D: 16,95 EUR,
A: 17,50 EUR,
CH: 23,90 sFr.
Reihe: Basistexte Erziehungshilfen.
Thema
Die Wirksamkeit sozialer Dienstleistungen steht seit geraumer Zeit im Fokus fachlicher wie auch gesellschaftspolitischer Debatten. Dabei geht es einerseits um die Frage danach, welche Wirkungen solche Dienstleistungen für die damit adressierten Personengruppen entfalten können und inwieweit den individuellen Unterstützungs- oder Hilfebedarfen, in den je gegebenen Strukturen und Kontexten, angemessen begegnet wird. Zum anderen steht – mit Blick auf die Finanzierung und Steuerung der Angebote – auch deren effiziente und zielgerichtete Erbringung im Fokus.
Vor diesem Hintergrund widmen sich Dirk Nüsken und Wolfgang Böttcher dem Feld der Kinder- und Jugendhilfe: mit ihrer als Basistext ausgewiesenen Publikation, geben sie einen detaillierten Einblick in die Wirkungsforschung und -debatte zum Spektrum der im deutschen Sozialgesetzbuch (SGB VIII) als „Hilfen zur Erziehung“ kodifizierten Angebote für junge Menschen und deren Familien. Dazu beziehen sie Studien und Evaluationen seit den 1950er Jahren ein und stellen teils auch Bezüge zu historischen Debatten her. Die ausgewählten Forschungsarbeiten werden in einem gleichbleibenden Raster vorgestellt und so die unterschiedlichen Zugänge der Studien, deren Methodologie sowie die gewonnenen Erkenntnisse systematisch analysiert und dargestellt. Vor dem Hintergrund von fachlichen wie auch forschungsmethodologischen Debatten, unterziehen die Autoren die Ergebnisse der Studien einer kritischen Diskussion und Einordnung. Darüber hinaus sind in den Band grundlegende Definitionen und Themen als Basisinformationen in einer eigenen Formatierung eingefügt. Somit wird der Charakter der Publikation als Basistext bzw. Lehrbuch hervorgehoben und auch an den Bedürfnissen von Studierenden ausgerichtet. Ergänzt wird dieses durch ausgewählte Literaturhinweise zur weiteren thematischen Vertiefung. Somit ist eine differenzierte Einführung und gleichzeitig Bilanzierung zur deutschen Wirkungsforschung zu den Erziehungshilfen entstanden, die den Erkenntnisstand, zentrale methodologische Fragestellungen sowie teils auch Forschungslücken für die Leserinnen und Leser erschließt.
Autoren
Prof. Dr. Dirk Nüsken, Professor für Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit an der EvH Bochum. Arbeitsschwerpunkte: Kinder- und Jugendhilfe, Hilfen zur Erziehung, Kinderschutz und frühe Hilfen, Jugendsozialarbeit, Evaluation im Sozial- und Bildungswesen, Nutzerforschung, Praxisforschung und Praxisentwicklung.
Prof. Dr. Wolfgang Böttcher, Lehrstuhl für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Qualitätsentwicklung/Evaluierung an der Westfälische Wilhelms-Universität Münster (D). Arbeitsschwerpunkte: Bildungs- und Sozialmanagement, Bildungsökonomie und Bildungsplanung, Evaluationsforschung
Entstehungshintergrund
Der Band ist erschienen in der Reihe „Basistexte Erziehungshilfen“ die im Auftrag der Internationalen Gesellschaft für erzieherische Hilfen (IGFH) herausgegeben wird.
Aufbau
Der Band gliedert sich in drei Teile:
- Zu Beginn steht eine kurze Einführung zu den Hilfen zur Erziehung und den Fragen danach wie deren Wirkungen angemessen beschrieben und bewertet werden können (S. 9-23). Der Lauftext dieses Kapitels wird ergänzt durch vier grafisch abgesetzte Texte (sog. Basisinformationen) die eine halbe bis zwei Seiten umfassen. Dem Einführungstext wird noch ein Exkurs zur Definition des Begriffs „Evaluation“ angefügt.
- Den zweiten und weitaus umfangreichsten Teil des Bandes bildet die Darstellung und Analyse von Studien zu den HzE der letzten Jahrzehnte (S. 24-181). Hier werden in acht Unterkapiteln Forschungsarbeiten nach Typen unterteilt betrachtet und jeweils ausgewählte Studien vorgestellt sowie Hinweise auf weitere Quellen und Überblicksdarstellungen gegeben. Im Rahmen von fünf Zwischenfazits fassen die Autoren die gewonnenen Erkenntnisse schrittweise zusammen. Ergänzend sind in diesem Teil 14 thematische Basisinformationen eingefügt.
- Im dritten Teil (S. 182-206) werden die Studien dann einer Gesamtbilanzierung unterzogen und übergreifende Thesen formuliert. Das Literaturverzeichnis sowie ein Anhang, der alle dargestellten und kommentierten Studien auflistet, schließen den Band ab.
Inhalt
Mit der vorgelegten Publikation werden mehrere inhaltliche Ziele verfolgt:
- zum einen bietet das Buch einen Überblick zu Wirkungsstudien und Evaluationen der Hilfen zur Erziehung und ist damit teilweise vergleichbar mit einem systematischen Review: es wird der Stand der Wirkungsforschung in Deutschland seit den 1950er Jahren anhand von ausgewählten Studien sowie Verweisen auf Quellen, Zusammenfassungen oder auch Metaanalysen aufgezeigt.
- Daneben dient die Publikation als Einführung in die Hilfen zur Erziehung und die darauf bezogenen Wirkungs- und Methodendebatten. Daher werden auch grundlegende Themen und Begriffe in dem Buch erklärt. Diese Basisinformationen dienen dazu, dass sich die Zielgruppen der Publikation, also Fachkräfte und Entscheidungsträger-/innen aus HzE-Organisationen und fachpolitischen Gremien sowie insbesondere Studierende, in die Wirkungsforschung einarbeiten können.
Im Mittelpunkt stehen die Darstellungen der ausgewählten Studien zu den Wirkungen/Erfolgen von Hilfsmaßnahmen und -prozessen, die in Unterkapiteln, sortiert nach Studientypen vorgestellt und analysiert werden. Der größte Teil der Studien beschäftigt sich mit der Heimerziehung. Um die Breite der Angebote der Erziehungshilfen abzubilden sind aber auch Studien zu weiteren Feldern, wie den teilstationären und ambulanten Hilfen oder auch dem Pflegekinderwesen, einbezogen worden. Die Autoren begründen eingangs ihre Auswahl sowie das gewählte Analyseraster. Am Ende jeder vorgestellten Studie wird eine Zusammenfassung als eine Art Lesehilfe angefügt und folgende Punkte zur jeweiligen Studie dargestellt (Auswahl):
- Grundfrage: Was soll durch die Studie geklärt werden?
- Datenquelle(n)
- Methodologische Aspekte: Welche Erkenntnisse lassen die verwendeten Methoden und die erhobenen Daten und Auswertungsmethoden zu?
- Ausgewählte Empfehlungen der Studien
- Kritische Aspekte hinsichtlich der Vorgehensweise und Aussagekraft
- Welche Funktion wird der Erziehungshilfe in den Studien zugeschrieben?
Die Autoren ordnen die Studien in acht Typen/Kategorien und beschreiben diese in den zentralen Kapiteln des Buches (Kap. 2.1-2.8). Dort wird eine Systematisierung vorgenommen und ausgewählte Studien und Evaluationen zu dem jeweiligen Typus vorgestellt. Die Kapitel befassen sich mit folgenden Studientypen:
- Lebensbewährungsstudien: In einem historischen Zugang, der u.a. ausgreift bis zum sog. „Waisenhausstreit“ im 18. Jahrhundert, werden Studien zusammengefasst die die Lebensbewährung von ehemaligen Heimzöglingen in den Blick nehmen.
- Studien zur Lebenssituation von Heim- und Pflegekindern nach der Entlassung.
- Hilfeverlaufsstudien die Leistungen in Beziehung zur Vorbelastung und zur Ausgangssituation vor der Hilfe setzen. Dabei wird nach Studien unterschieden die retrospektiv angelegt sind (z.B. JULE-Studie) bzw. die prospektiv, verschiedene Untersuchungszeitpunkt im Längsschnitt betrachten (z.B. JES-Studie).
- Evaluative Controlling- und Qualitätsentwicklungsinstrumente wie bspw. EVAS, WIMES und andere.
- Kosten-Nutzen Studien.
- Unter dem Titel „Wissenschaftliche Bewertung von Wirkungen“ werden drei Studien die ein Kontrollgruppendesign verwenden vorgestellt und ihre Methodik verglichen.
- Fallstudien die mit einem qualitativen Design komplex Sinn- und Handlungsanalysen vornehmen wie bspw. zur Bedeutung einer Heimunterbringung im biografischen Kontext.
- Katamnestische Adressat_innenbefragungen mit standardisierten Methoden
Den Kapiteln ist teilweise ein Zwischenfazit nachgestellt worden, in dem die Erkenntnisse zusammengefasst oder spezifische methodische Fragen (z.B. zu Fallstudien und Evaluationen) diskutiert werden.
Im dritten Kapitel wird Gesamtbilanz gezogen dazu werden zunächst vier Thesen mit übergreifenden Schlussfolgerungen vorgestellt: Die Thesen betonen die Vielgestaltigkeit der Studien und Ansätze aber sie weisen auch darauf hin, dass Entwicklungslinien und bedeutende Veränderungen im Zeitverlauf hinsichtlich von Grundannahmen, Aufgaben und Funktion von Erziehungshilfen festzustellen sind. Insgesamt wird als Quintessenz der Sichtung der Studien eine Erfolgsbilanz der Hilfen zur Erziehung von den Autoren attestiert. Als eine zentrale Erkenntnis stellen sie – unter Einschränkungen – heraus, dass in den Studien ein Kernbestand von Erfolgsfaktoren für die HzE ersichtlich ist. Diese umfassen Faktoren wie bspw. Hilfedauer, Beteiligung, Elternarbeit, Nachbetreuung, Arbeitsbedingungen der Fachkräfte, Passung des Hilfeangebots u.a. Weitergehend beschäftigen sie sich abschließend mit Fragen nach der Parteilichkeit von Forschung und diskutieren die Bedeutung von Forschung und Evaluation für die Praxis und Politik der Erziehungshilfen.
Mit den 18 „Basisinfos“ werden grundlegende Themen wie bspw. „HzE und Kindeswohlgefährdung“ oder „Lebensweltorientierung“ aber auch methodenbezogene Fragen wie „Wissenschaftliche Gütekriterien“ oder „ICD 10“ u.a. erläutert. Daneben werden in dieser Form Handlungsfelder der HzE wie z.B. „Pflegekinderhilfe“ u.a. vorgestellt.
Diskussion
Mit der weitgefassten Recherche und Analyse von Studien zur Wirkung von HzE in Verbindung mit den Basisinformationen haben die Autoren eine Novität geschaffen. Die Publikation eröffnet Verständnis für die vielfältigen Forschungsansätze und methodischen Fragen im Feld der HzE, ohne aber zu tief in Details einzudringen. Auch wird die lange Geschichte der Wirkungsfrage durch punktuelle Bezüge zur historischen Forschung verdeutlicht. Dabei nehmen die Autoren auch immer wieder Bezug zu fachlichen Fragen und Entwicklungen und verweben sie mit den ausgewählten Studien. So wird das breite Spektrum der verschiedenen Forschungsansätze sowie die sich wandelnden fachlichen Verständnisse von HzE gut verdeutlicht. Mit dem vorgelegten Band wird erstmals der Themenkomplex „Wirkungsforschung“ in angemessener und fachlich ambitionierter Weise für die Zielgruppe – Fachpersonen und Studierende – über eine umfassende Darstellung von Studien erschlossen. Insbesondere der vorgestellte „Kernbestand an Erfolgsfaktoren“ (S. 192) wird durch die vorgelegte Analyse hervorgehoben und bildet so einen Ausgangspunkt für Praxisentwicklung und weitere Forschungen. Dem Anspruch Studien und Evaluationen zum ganzen Angebotsspektrum der HzE abzubilden wird das Buch nicht ganz gerecht: die Forschung zur Heimerziehung nimmt den weitaus größten Teil ein und steht im Mittelpunkt, Angebote wie Erziehungsberatung, Soziale Gruppenarbeit, Erziehungsbeistandschaft oder Erziehung in einer Tagesgruppe werden kaum oder gar nicht betrachtet.
Den Autoren ist es aber insgesamt sehr gut gelungen darzustellen wie ambitioniert es ist generalisierbare Wirkungen und Erfolge von HzE durch empirische Forschung aufzuzeigen. Auch wenn die vorgestellten acht Typen/Kategorien in die die Studien eingeordnet werden nicht trennscharf sind und die Zuordnung teils nicht aufgehen (z.B. Unterschied zwischen den vorgestellten Fallstudien und den qualitativen Elementen in Hilfeverlaufsstudien?): grundsätzlich wird die Publikation ihrer ambitionierten, doppelten Zielstellung nach Überblick über den Forschungsstand und Einführung in die Wirkungsdebatte gerecht. Etwas deutlicher hätten allenfalls Forschungslücken im Feld der HzE herausgearbeitet werden können. Am ehesten wird ein Bedarf an Wirksamkeitsstudien mit Kontrolldesign erkennbar. Mit Blick auf die Vielfallt der Forschungsmethoden fällt auf, dass in dem Band keine ethnografischen Studien wie z.B. die für die Jugendhilfe als methodisch exemplarisch geltende Evaluation von El Zaher et al. (2003) [1] oder auch eine Studie wie die von Müller & Schwabe (2009) [2] berücksichtigt wurden. Daneben sind auch keine Studien ersichtlich die sich explizit dem „user involvement“ bzw. partizipativen Forschungsansätzen verschrieben haben.
Einige Punkte noch die die insgesamt gute Einschätzung der Publikation aber kaum schmählern: nachdem schon über mehrere Kapitel hinweg Studien referiert worden sind, wird das Kapitel 2.6 zu den Studien mit Kontrollgruppendesign mit „Wissenschaftliche Bewertung von Wirkungen“ überschrieben als wären die vorherigen Studien nicht wissenschaftlich? In Punkto Gestaltung/Lektorat wäre es hilfreich, wenn ein Verzeichnis der Basisinfos eingefügt wäre. Auch wäre es zur Übersichtlichkeit und um Verwechselungen zu vermeiden besser, wenn die Studienzusammenfassungen und die Basisinfos unterschiedlich formatiert würden (jetzt beide grau unterlegt). Teilweise wird der Lauftext und die damit verbundene Entfaltung von Thesen und Argumentationen durch andere Textformate wie Basisinfos, Exkurse, Studienzusammenfassung und Zwischenfazits unterbrochen, sodass es punktuell schwer fällt den roten-Faden zu halten.
Die als Basistext für Fachkräfte und Studierenden konzipierte Publikation richtet sich nicht explizit an Forschende, doch bietet die Darstellung der Studien und insbesondere die Hinweise auf Zusammenfassungen und Metastudien einen sehr guten Ausgangspunkt für Forschungsreviews und Recherchen zum Forschungsstand in Deutschland. Insofern ist der Band ausdrücklich auch für Forschende interessant und empfehlenswert, z.B. zur Initiierung neuer Forschungsvorhaben oder als Grundlage für international komparative Studien. Auch findet man in der Publikation wichtige fachliche Hinweise für disziplinäre Debatten um die Entwicklung der Hilfen zur Erziehung.
Fazit
Für den Einstieg in die fachlichen und methodischen Debatten um Erfolgsfaktoren der Hilfen zur Erziehung legen Dirk Nüsken und Wolfgang Böttcher eine hilfreiche Überblicks- und Einführungspublikation vor. Die Autoren leisten damit einen Beitrag zur differenzierten Auseinandersetzung mit der Frage nach Wirksamkeit und Erfolgen von Erziehungshilfen. Sie haben mit ihrer neuartigen, ambitionierten Herangehensweise, sowohl einen Überblick über den Forschungsstand wie auch eine Einführung in die Thematik erarbeitet und so eine gute Grundlage für Lehre und Weiterbildung herausgegeben. Mit der Darstellung des deutschen Forschungsstands haben sie weiterhin einen Ausgangspunkt für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Forschungsfeld Hilfen zur Erziehung vorgelegt, der auch als Grundlage für international vergleichende Studien dienlich ist.
[1] Die Studie wurde in der Reihe „Materialien zur Qualitätssicherung in der Kinder- und Jugendhilfe“ des BMFSFJ (QS 35) als exemplarisch für eine ethnografische Evaluation hervorgehoben: El Zaher, R., Friederich, J., Klawe, W. & Pleiger, D. (2003): ''Menschen statt Mauern'': Evaluation der Jugendhilfeeinrichtung zur Abwendung von U-Haft in Frostenwalde. Baden-Baden.
[2] Müller, B. & Schwabe, M. (2009): Pädagogik mit schwierigen Jugendlichen. Ethnografische Erkundungen zur Einführung in die Hilfen zur Erziehung. Weinheim und München.
Rezension von
Dr. Stefan Eberitzsch
Dozent und Projektleiter F&E an der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaft ZHAW, Departement Soziale Arbeit, Institut für Kindheit, Jugend und Familie
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