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Eric Kandel: Was ist der Mensch?

Rezensiert von Dr. biol. hum. Michael Stiels-Glenn, 22.02.2019

Cover Eric Kandel: Was ist der Mensch? ISBN 978-3-8275-0114-1

Eric Kandel: Was ist der Mensch? Störungen des Gehirns und was sie über die menschliche Natur verraten. Siedler Verlag (München) 2018. 368 Seiten. ISBN 978-3-8275-0114-1. D: 25,00 EUR, A: 25,70 EUR, CH: 34,90 sFr.
Sebastian Vogel (Übersetzer).

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Autor

Eric Kandel ist ein 'Schwergewicht', das kann man nicht anders sagen. Der 1929 geborene Psychiater und Neurowissenschaftler erhielt im Jahr 2000 den Nobelpreis für Medizin. Die Liste seiner Veröffentlichungen ist lang und gewichtig.

Aufbau

Das vorliegende Buch behandelt nach einer Einleitung in 11 Kapiteln an Beispielen von neurologischen Störungen Grundfragen von Neurowissenschaften, Medizin, Philosophie und Ethik.

Die Deutsche Nationalbibliothek bietet Einblick in das vollständige Inhaltsverzeichnis.

Aufbau

In der Einleitung macht Kandel deutlich, dass er sich an Leser wendet, die bislang relativ wenig mit der Materie zu tun haben. Kapitel 1 gibt eine kurze Übersicht über Pioniere der Forschung und der medizinischen Behandlung von Störungen des Gehirns und informiert grundlegend über Aufbau und Funktion des menschlichen Gehirns. Die lange bestehende Kluft zwischen Psychiatrie und Neurologie könne durch neue Erkenntnisse in der Genetik, durch bildgebende Verfahren und durch Tiermodelle – hier sind vor allem Versuche mit Tieren gemeint – geschlossen werden.

In Kapitel 2 beschreibt der Autor autistische Erkrankungen und die zugrunde liegenden Funktionsstörungen im Gehirn. Dabei lässt er – wie auch bei den anderen beschriebenen Erkrankungen und Störungsbildern – immer wieder Erkrankte selbst zu Wort kommen. Er schildert genetische Veränderungen (Mutationen), die Funktionen im Gehirn beeinträchtigen.

Kapitel 3 behandelt Störungen der Emotionen, die zu Depressionen werden können. Kandel referiert zunächst die Geschichte der Behandlung von Depressionen. Dann schildert er Zusammenhänge zwischen Depressionen und Stress – wieder aufgelockert durch Schilderungen von Betroffenen – und stellt dar, wie sich bei der Depression die Botenstoffe (Neurotransmitter) im Gehirn verändern. Nach einer kurzen Übersicht über medikamentöse und psychotherapeutische Behandlungsmethoden beschreibt Kandel die Bipolare Störung (die seit zehn Jahren zu einer Art Modediagnose geworden ist wie die Borderline-Störung in den 1960er Jahren), emotionale Schwankungen zwischen depressiven und manischen Phasen.

Kapitel 4 widmet sich den Symptomen der Schizophrenie. Auch hier schildert der Autor die Geschichte der Behandlung der Erkrankung mit dem Schwerpunkt auf genetische Mechanismen.

Kapitel 5 beschreibt Störungen des Gedächtnisses und das, was beim Altern in allen Gehirnen geschieht und was dann als Formen der Demenz Krankheitswert bekommt.

In Kapitel 6 verlässt Kandel die bisherige Systematik völlig. Er befasst sich nicht mit spezifischen Störungen, sondern mit Kunst, Kunstwerken, ihren Rezipienten – und mit künstlerisch Tätigen. Viele Menschen mit schweren psychiatrischen Störungen, so z.B. mit einer Schizophrenie, seien ausgesprochen kreativ, was Kandel auf eine Störung von hemmenden Faktoren zwischen der linken und der rechten Hirnhälfte zurückführt. Kandel nimmt sich viel Raum, um Kunstwerke von solchen Patienten zu beschreiben, die der Psychiater und Kunsthistoriker Hans Prinzhorn in seiner berühmt gewordenen Sammlung ausstellt. Hier wird deutlich, dass Störungen der Gehirnfunktionen auch ihre positiven Seiten haben.

In Kapitel 7 schildert Kandel neurologische Störungen der Bewegung und ihre biologischen Substrate im Gehirn. Dabei geht der Autor auch auf moderne Behandlungsmethoden wie die tiefe Hirnstimulation ein. (Für diese Störungsbilder sei auf die genauen und unterhaltsamen Schilderungen von Oliver Sacks verwiesen, der sich ja mit neurologischen Störungen befasst hat).

Kapitel 8 beschreibt bewusste und unbewusste Gefühle: Angst, (post-)traumatischer Stress und falsche Entscheidungsprozesse. Wie in den vorigen Kapiteln referiert der Autor die Geschichte der Erforschung von Emotionen, ausgehend von Charles Darwin, William James bis hin zu Antonio Damasio (unbegreiflich, dass hier die Arbeiten von Paul Ekman und Klaus Scherer fehlen). Dann schildet Kandel die Abläufe im Gehirn bei Angst und traumatischem Stress und den Einfluss von Gefühlen auf Entscheidungen, moralische Dilemmata bis zur Psychopathie.

Das Kapitel 9 über Suchterkrankungen beginnt mit den biologischen Grundlagen angenehmer Gefühle im Gehirn, die Voraussetzungen für die Entwicklung von Suchterkrankungen sind. Kandel macht deutlich, wie verschieden Süchte aussehen können: legale und illegale Drogen, Essen und Spielen. Unter Bezug auf die US-Gesundheitsforscher Nicholas Christakis und James Fowler nimmt Kandel an dieser Stelle etwas ausführlicher Bezug auf die Ursache von Verhaltensstörungen durch das soziale Umfeld, hier persönliche Bekanntschaften und soziale Netzwerke: Wer dicke Partner hat, nimmt selbst schneller zu; wer nikotinkonsumierende Freunde hat, hat ein hohes Risiko, selbst zu rauchen.

In Kapitel 10 über die sexuelle Differenzierung des Gehirns und Geschlechtsidentität beschreibt der Autor kein bestimmtes Störungsbild, sondern zunächst das anatomische Geschlecht und Mechanismen im Gehirn, die das sexuelle Verhalten steuern. Wieder legt Kandel seinen Schwerpunkt auf die Schilderung genetischer Störungen der sexuellen Entwicklung, wie Transgender oder verschiedene Syndrome und deren Entwicklung in Kindheit und Jugend. Hier kann man aktuelle Quellenangaben finden, aber gerade in diesem Kapitel hätte sich der Rezensent gewünscht, dass Kandel sich an seine Ankündigung hält, von den Störungen auch auf normale Funktionen und Entwicklungsprozesse zu schließen.

In Kapitel 11 schildert Kandel das Bewusstsein als „letztes großes Rätsel“ des Gehirns, ausgehend von Freuds Strukturmodell, das mit der Idee des Unbewussten bereits früh Modelle schuf, die sich im Licht der Neurowissenschaft als wegweisend und zutreffend erweisen. Anschließend schildert Kandel die Experimente, um Bewusstseinsprozesse zu untersuchen. Ausführlicher als sonst geht er darauf ein, dass nicht nur bildgebende Verfahren, sondern auch intelligente Versuchsdesigns helfen, etwas über Abläufe in Gehirnen von Tieren und Menschen zu erfahren.

Ein Schlusskapitel, Anmerkungen, Danksagung, Personen- und Sachregister sowie ein Nachweis über die 38 farbigen Abbildungen beenden das Buch.

Diskussion

Kandel hatte sich zum Ziel seines Buches gesetzt, Antworten zu finden, wie Prozesse im Gehirn, die unseren Geist entstehen lassen, durcheinandergeraten können, was dann zu verschiedenen Krankheiten führt (S. 16). Die Sprache des Buches ist verständlich gehalten, Fachchinesisch und komplizierte Sätze wurden vermieden, was auch Laien die Lektüre erleichtert.

Leider muss ich einige kritische Anmerkungen machen: Das beginnt mit dem aus meiner Sicht unglücklich übersetzten Titel: „Was ist der Mensch?“ – eine Frage, die die Erwartungen hoch werden lässt, während der amerikanische Titel: „The Disordered Mind“ (Der gestörte Geist) wesentlich angemessener für den Inhalt des Buches erscheint.

Gravierender finde ich zwei Grundprobleme, die sich durch das gesamte Buch ziehen:

  1. Die Maschinen-Metapher: Kandel vergleicht das Gehirn an vielen Stellen mit einem Computer. Begriffe wie Rechenleistung, fehlerhafte Verdrahtung, Verdrahtungsprozess, Neuronenschaltkreise und der explizite Vergleich mit Computerkomponenten oder Rechenmaschine (z.B. auf den Seiten 14, 19, 23, 33, 45, 73) gehen an der Tatsache vorbei, dass das Gehirn ein biologisches Organ des Menschen ist, dass sich bei neuen Erfahrungen und durch diese verändern kann. Begriffe oder Ausführungen zur Neuroplastizität fehlen.
  2. Das Gehirn als Subjekt: wenn Kandel das Gehirn wie ein handelndes Subjekt behandelt, entstehen daraus erkenntnistheoretische Probleme. So sagt er z.B.: „Genau genommen ist jede Tätigkeit … eine Folge unserer Hirntätigkeit“ (Seite 18). Mal führt das Gehirn nach Kandel etwas aus, mal „bestimmt die Amygdala, welches Gefühl zu einem bestimmten Zeitpunkt nötig ist, und der Hypothalamus führt es dann aus“ (Seite 89). Mir ist klar, dass kein Mensch solchen anthropomorphen Formulierungen letztlich entkommen kann, aber das hat dann Konsequenzen für die Bedeutungen, z.B. Kandels Aussage, das Gehirn erschaffe den Geist (Seite 52). Menschen SIND nicht ihr Gehirn, wie einige Autoren behaupten, sondern sie HABEN ein Gehirn (Thomas Fuchs, Manfred Spitzer).

Kandels Buch erwähnt die reale Außenwelt immer wieder am Rand, aber deren Bedeutung für die Prozesse im Gehirn wird nicht erkannt: Lebewesen, die die Umwelt – und Gefahren, die von dort drohen – nicht angemessen wahrnehmen und rasch reagieren, scheitern. Moderne Evolutionsbiologen (Richard Dawkins, Gerhard Schurz) weisen hin, dass gegenwärtige Menschen von erfolgreichen Vorfahren abstammen – hätten die Vorfahren nicht angemessen auf Umweltreize reagiert, wären wir vermutlich nicht da. Die Prozesse im Gehirn dienen dazu, die natürliche und soziale Umwelt mit Bedrohungen und Chancen wahrzunehmen, das Wahrgenommene mit den eigenen Erfahrungen und den aktuellen eigenen Bedürfnissen abzugleichen und auf dieser Basis Entscheidungen zu treffen und zu handeln. Das geschieht meist nicht kognitiv-rational, sondern auf der Basis „somatischer Marker“ (Antonio Damasio). Das bedeutet, dass sämtliche neuronalen Prozesse letztlich die äußere Realität mit der inneren Befindlichkeit abstimmen und regulieren.

Ärgerlich ist für den Rezensenten auch, dass ein Literaturverzeichnis nach üblichem europäischen Standard fehlt. Stattdessen gibt es, einer älteren US-Tradition folgend, Anmerkungen, die sich auf die einzelnen Kapitel beziehen, den raschen und systematischen Zugriff auf Quellen jedoch erschweren. In diesen Anmerkungen habe ich 195 Quellen gezählt, davon allerdings nur 35, die jünger sind als 5 Jahre (insgesamt waren 72 Quellen jünger als 10 Jahre, 82 jünger als 15 Jahre). Wenn aber in einem Fachgebiet, das sich rasant entwickelt, mehr als die Hälfte der Literaturhinweise und Quellen älter als 15 Jahre alt sind, wird das zum Problem.

So sucht man im Glossar und im Text vergeblich den Begriff „Epigenetik“; Kandel beruft sich auf viele zutreffende Erkenntnisse der Genetik. Nun sind aber genetische Veränderungen viel zu langsam, um auf rasche Veränderungen in der Umwelt zu reagieren. Forscher entdeckten im vergangenen Jahrzehnt zunehmend die Bedeutung epigenetischer Mechanismen, die als Reaktion auf adverse Umweltbedingungen bestimmte Sequenzen im Genom „an- bzw. ausschalten“. Das ermöglicht eine rasche Anpassung von Menschen an Krieg, Hunger, usw. Diese Prozesse (Genexpression) können sogar über zwei oder drei Generationen vererbt und verlieren sich wieder, wenn sich die äußeren Bedingungen verändern. Damit wird der alte Diskurs zu Anlage und Umwelt, Vererbung und Lernen obsolet. Die Zahl der Veröffentlichungen in diesem Bereich ist exponentiell gewachsen – bei Kandel kommt nicht einmal das Stichwort vor.

Auch andere Vorgänge wie die Veränderungen der Stärke der synaptischen Verbindungen durch Lernen und Erfahrungen (sog. LTP) fehlen. Kandel erklärt zwar die zugrunde liegende Hebb'sche Regel (Seite 153), aber die Konsequenzen dieser Regel (Wenn Neuronen zusammen aktiv werden, verstärkt sich die Verbindung zwischen ihnen. Das führt dazu, dass zukünftig diese Verbände auch bei geringeren Reizen aktiviert werden.) für das Langzeitlernen bleiben unberücksichtigt.

Fazit

Es war nicht einfach, das Spätwerk eines Nobelpreisträgers zu rezensieren und dabei zu festzustellen, dass meine Anmerkungen zunehmend kritisch werden – wer bin ich, dass ich ein Recht dazu hätte? Kandel schildert eine Vielzahl unterschiedlicher psychiatrischer und neurologischer Störungen und beschreibt verursachende und begleitende Wirkmechanismen im Gehirn. Es ist verständlich geschrieben, aber Kandels Buch knüpft nicht an aktuelle Befunde vor allem aus der Epigenetik an; ich kann es deshalb nur bedingt als Sachbuch empfehlen, weil interessierte Laien – trotz vieler interessanter Details zur Entwicklung der Erkenntnisse über das Gehirn, trotz eindrucksvoller Schilderungen aus Patientensicht über die Auswirkungen der Störungen, trotz einer verständlichen Sprache und vielen informativen Abbildungen – eben nicht auf den aktuellen Stand der Forschung gebracht werden.

Rezension von
Dr. biol. hum. Michael Stiels-Glenn
Kriminologe & Polizeiwissenschaftler M.A.
Integrativer Therapeut M.Sc.
Supervisor (DGSv)
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Es gibt 11 Rezensionen von Michael Stiels-Glenn.

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Zitiervorschlag
Michael Stiels-Glenn. Rezension vom 22.02.2019 zu: Eric Kandel: Was ist der Mensch? Störungen des Gehirns und was sie über die menschliche Natur verraten. Siedler Verlag (München) 2018. ISBN 978-3-8275-0114-1. Sebastian Vogel (Übersetzer). In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/25104.php, Datum des Zugriffs 26.09.2023.


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