Anne Dufourmantelle: Lob des Risikos
Rezensiert von Prof. Dr. Hans Wolfgang Nickel, 23.08.2019

Anne Dufourmantelle: Lob des Risikos. Ein Plädoyer für das Ungewisse.
Aufbau-Verlag
(Berlin) 2018.
315 Seiten.
ISBN 978-3-351-03732-1.
D: 20,00 EUR,
A: 20,60 EUR.
Nicola Denis (Übersetzer); Joseph Hanimann (Verfasser eines Geleitwortes).
Autorin
Deutlich wird in den Texten auch die philosophische Grundbildung der Psychoanalytikerin Anne Defourmantelle mit einer philosophischen Dissertation an der Sorbonne 1994 über die ‚prophetische Bestimmung der Philosophie’ deutlich werden ihre weitgespannten Interessen, nachgewiesen auch durch eine Vielzahl von Publikationen (häufig in Kooperation mit anderen AutorInnen).
Aufbau
Augenscheinlich handelt es sich um ein Sachbuch mit Sachtitel, Vorwort, 50 kurzen Kapiteln mit je eigener Überschrift von ‚Sein Leben riskieren‘ (S. 27) über ‚Null-Risiko?‘ (S. 77) bis 'Das Risiko der Unterwelt (Eurydike)‘ (S. 299); häufig werden die Kapitel eingeleitet mit einem Zitat aus der Sekundärliteratur.
Inhalt
Kindheit und Mutter-Kind-Bindung
Häufig geht Defourmantelle ein auf die Besonderheit der (körperlichen!) Mutter-Kind-Bindung und das Besondere von Kindern. „Unsere unheilbaren Erfahrungen von Untreue werfen uns auf jenen ersten Schmerz zurück, wenn uns nach der Geburt die Urtrennung von der Mutter und später deren Abwesenheit zugemutet wird. Wann begreift ein Säugling, dass er nicht mehr unauflöslich ‚eins/zwei’ oder ‚zusammen mit’ sein kann, dass er aus der fötalen Fusion zu einer Tag und Nacht empfundenen Einsamkeit übergehen wird?“ (75 f).
Nicht nur die „Psychoanalyse … hat uns in Erinnerung gerufen, dass wir die Erben einer in uns enthaltenen Geschichte sind …dass wir bis zum Augenblick unseres Todes noch in unserer Babyhaut stecken…“ (83).
Ähnlich auf den Seiten 106/107: „Permanent beschäftigt, um die Anhäufung von Gütern besorgt und dem atemlosen Hin und Her unserer urbanen Leben unterworfen, lösen wir uns unmerklich von uns selbst. Ganz anders hingegen jene innere Bewegung, die uns zum Zuhören veranlasst, einem schwebenden Zuhören, das man nicht nur in der Praxis des Analytikers, sondern im Leben an sich erfahren kann und das uns, der Meditation vergleichbar, erlaubt, sanft die Wirklichkeit an uns heranzulassen. … Zeitliche Übertagung der Mitanwesenheit einer zugleich unvorstellbar nahen und fernen Mutter. … Man wird sich nie davon erholen, von einer Anderen geboren worden und doch allein sein und sterben zu müssen.“
„Dann muss man vermutlich wieder den umgekehrten Weg einschlagen, zurück zu unseren verzweifelten Nachmittagen als Zehnjährige – unseren ersten Hinterhalten und Schicksalsschlägen. Zurück ins ungreifbare Dunkel der Kindheit, das uns lautlos zum Weinen bringt.“ (113)
„In uns lebt das Kind, das nicht vergisst, mit welcher Verachtung es behandelt und welcher Kälte es ausgesetzt wurde, mit welcher Angst es die Nächte volle Gespenster (seine eigenen und die der anderen) allein bewältigen musste – eingehüllt in das Geheimnis wie in ein Leichentuch.“ (117)
„Die Welt der Kindheit ist eine Gondel, die an der Erwartung des Kommenden hängt. … Eine Enttäuschung zu verspüren, setzt voraus, dass man an eine Wunderwelt geglaubt hat, mit Zauberstab, Drachen und himmlischen Fabelwesen. … Die Enttäuschung gehört mit Leib und Seele zur Kindheit. Das Kind ist permanent enttäuscht und hofft immer wieder aufs Neue wie ein aufrechter kleiner Soldat. … Das Ausmaß der kindlichen Enttäuschung ist für einen Erwachsenen unvorstellbar.“ (128 f)
„Die Stimme verweist uns auf das, was uns als Kinder vermutlich seit der ersten Zellteilung des Embryos geprägt hat: die Musik des Fruchtwassers, in dem die mütterliche Stimme, aber auch die Stimmen des Vaters und der Geschwister enthalten sind. Klänge, die Liebe oder Hass transportieren, Ablehnung, Zuneigung oder Ekel, und die unablässig von der Nahrung (Nabelschnur), der (vom Fötus nachempfundenen) Bewegung des inneren Körpers und dem Gehör begleitet werden.“ (138)
„Niemand kann den Ton oder den unglaublichen Gefühlsvorrat der frühen Musik unserer Vorgeburtszeit wiedergeben, die allererste stimmliche Prüfung ist uneingestanden und uneingestehbar. Die Wörter speichern unsere Alibis, die Notwendigkeit, dass es so sein soll, unser Bedürfnis nach Sinn, nach Treue und Austausch, unseren Glauben, dass wir die gleiche Sprache sprechen, dass die Wörter etwas verändern können. Die Macht der Sprache erklärt sich dadurch, dass sie an jenes Urgefühl gebunden ist, welches sie an unseren Körper schmiedet. An unseren denkenden, hoffenden Körper, unseren verzweifelten, weinenden und bisweilen auch von den Wörtern befreiten Körper.“ (160)
„Leben ist eine dem Schrecken entrissene Erfindung. Ein Schrecken, den manche in immer anderen Armen besänftigen, andere im Alkohol, wieder andere mit krankhafter Geschäftigkeit. Die Menschen sind ungleich vor der Angst. Es ist gut denkbar, dass jede einzelne Lieb-kosung der Mutter die Angst auf dem Körper des Kindes ein wenig glättet, dass sie es damit weiter zur Welt bringt, dass jedes Wort, jede gesungene Silbe, jedes Schaukeln der Wiege die Last seiner Welt-Fremdheit erleichtert und dem Kind in einem zutiefst archaischen und ab-solut lebensnotwendigen Sinn Gastfreundschaft gewährt. So hüllt sie das Neugeborene in einen anderen, einen zweiten, seelischen, Körper ein.“ (228)
„Das Kind weiß voller Vertrauen sein Geheimnis geteilt. Die Welt spricht mit ihm, und das Kind spricht mit der vertrauten Welt, sogar mit den Gespenstern. … Dann ein plötzlicher Blitz am ungetrübten Sommerhimmel. Die Gefahr bringt die Grundfesten einer vermeintlich sicheren Welt ins Wanken. Dieser Blitz ist keine Sache, die man dem Kind verweeigeert hat, aber womöglich ein beiläufig über das Wichtigste in seinem Leben gefälltes ‚Nein‘, das nicht nur Enttäuschung und Kummer bewirkt, sondern der Wirklichkeit ein ganz anderes Gesicht verleiht. … nicht die Bedeutung eines Ereignisses ist für die Kindheit prägend, sondern der unvermittelte, schwindelerregende Sturz aus der sicher geglaubten Welt. … Der Schock schmiegt sich wie ein winziges Tier in uns. Alle tröstenden Worte sind nutzlos geworden. Und das erlebte Entsetzen breitet sich aus wie ein leichtes Lauffeuer, das nach und nach die ganze Landschaft erfassen, ihre Ränder und Zugänge anders einfärben wird. Die Wirklichkeit wird nie mehr dieselbe sein.“ (253 f)
„Mit dem Körper des Neugeborenen, das zur Welt kommt und von seiner Mutter getrennt wird, mit dem ersten Atemzug der schmerzlichen Trennung, der Vertreibung aus dem erinnerungshaltigen Wasser entsteht die Erotik. Der gesamte Körper ist erotisch, er bebt, empfindet und denkt, liebt und verzweifelt. Er wartet, leidet und verspürt die unendliche, intensive Lust, in einen liebenden Blick, einen sanfte Worte flüsternden Atem eingehüllt zu werden.“ (257)
Zur therapeutischen Arbeit
Ähnlich dramatisch-agierend auch die Sätze zur therapeutischen Arbeit.
„Es gibt keine Schamanen mehr, kaum noch Priester, und die Kirchen haben nachts geschlossen. Dem Einsamen und Schlaflosen bleibt nur noch der Freund oder der Analytiker.“ (163)
„Am Anfang der Kur hinterfragt das Subjekt seine Geschichte, erforscht ihre heimlichen Aus-wege, Sackgassen und Geheimnisse, beschreitet langsam den umgekehrten Weg in eine Vergangenheit, die es teilweise schon zu kennen glaubt, setzt die einzelnen Puzzleteile zusammen, sammelt das Gesagte, beschwört seine Erinnerungen und verschütteten Gefühle herauf.Das Subjekt wird zum Forscher und birgt aus dieser Vertiefung Schätze, Ruinen, aber auch Schreckliches. Es knüpft Verbindungen, stellt Hypothesen auf und beginnt, die Affekte voneinander zu trennen, die Ängste auseinander zu schweißen, die Geschichte (Eltern, Geschwister, Freunde, Feinde) in Einzelteile zu zerlegen. Wie auf einer riesigen Baustelle leistet der Patient Aufklärungsarbeit, klassifiziert, sortiert und gräbt er wie ein Archäologe. In diesem ersten Abschnitt der Analyse klassifiziert er Schuldige, Bekannte und Unterschätzte, erkennt Schicksalsschläge und Verletzungen. Indem er sie benennt, heilt (und denkt) er sie und desinfiziert die schlummernde, die ganze Psyche infizierende Wunde. … Dann beginnt der eigentliche Verlust. Denn nach und nach sieht er, wie die vermeintlich stabilen Stützen zusammenbrechen und die Sicherheit dem Zweifel, dem abgrundtiefen Schwindel das Feld überlässt.“ (147)
„Doch es wird sich ein anderer Verlust einstellen, ein Seins-Verlust, der so radikal ist, dass er alle anderen Verluste verschieben wird: Ein geistiger Verlust, die Leere, die anzieht und gedeihen lässt, die Bindung und Leben ermöglicht.“ (149) -
Fazit
Beginnt man zu lesen, wird man überwältigt von der Gewalt der Sätze: sie sind erzählend-dramatisch, agierend, voller Handlung bis in den Satzbau hinein – eine bewegt-suggestive Sprache nicht nur in den (kursivherausgehobenen) Berichten über die psychoanalytische Arbeit der Autorin mit Patienten und Patientinnen, sondern auch in den erklärenden Sachtexten und allgemeinen Reflexionen.
Immer wieder faszinieren Klang, Gewalt und Präzision ihrer Sätze, die Genauigkeit ihrer Beschreibungen. Dazu einige Beispiele:
- „Psychoanalytiker sein bedeutet, auf die stimmlose Musik verödeter Leben, verhinderter Freude, dumpfer Liebesangst, stillen Ausharrens, zurückgehaltener Tränen zu hören“, schreibt sie am Schluss von La sauvagerie maternelle.
- „Gehorchen heißt zunächst einmal, sprechen zu können; die Grammatik einer Sprache durchdrungen, ihre Regeln verinnerlicht zu haben, um sie besser untergraben zu können. Die Sprache ist der erste Ort unseres Gehorsams … die erste Voraussetzung unserer Möglichkeit zum Ungehorsam.“ (43)
- „Ihre Stimme klang verändert… Der Analytiker ist sprachlos und wagt kaum zu atmen, er traut seinen Ohren nicht, das sind ja ganz neue Töne, wie verbotene Radiofrequenzen mit unbekannten akustischen Signalen. Er erkennt diese Frau, die seit neun Jahren seine Patientin ist, nicht wieder.“ (56)
Bei aller Bewunderung für die Kraft dieser Sprache – mir fehlt in dem Buch noch ein Aussteigen aus dem Erzählen von in Bilder übersetzten dramatisch-handelnden Geschehnissen zu einem Zusammenschluss von Einsichten und Gedanken. „Wie viele Leben würden gerettet, wenn wir in der Lage wären, uns über unsere Familienmuster, unsere vorsintflutlichen Wiederholungen und die immer wieder neu durchpflügten Wege hinwegzusetzen?“ (195)
Rezension von
Prof. Dr. Hans Wolfgang Nickel
Institut für Spiel- und Theaterpädagogik der Universität der Künste Berlin
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