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Meredith Haaf: Streit!

Rezensiert von Prof. Dr. Klaus Hansen, 25.04.2019

Cover Meredith Haaf: Streit! ISBN 978-3-423-28977-1

Meredith Haaf: Streit! Eine Aufforderung. Deutscher Taschenbuch Verlag (München) 2018. 285 Seiten. ISBN 978-3-423-28977-1. D: 18,00 EUR, A: 18,50 EUR, CH: 26,50 sFr.

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Autorin

Meredith Haaf, Jahrgang 1983, studierte Geschichte und Philosophie. Seit 2017 ist sie Redakteurin bei der Süddeutschen Zeitung. 2008 trat sie mit ihrem Buch „Wir Alphamädchen. Warum Feminismus das Leben schöner macht“ auf die Bühne der Buch-Autorinnen. Sie lebt mit ihrer Familie in München.

Aufbau und Inhalt

Das Buch ist in drei Großkapitel unterteilt.

1. Streit muss sein

Das erste trägt die Überschrift „Warum Streit sein muss“. – Warum also? In Abwandlung des berühmten Diktums von Heraklit könnte man mit einem Satz darauf antworten: „Der Streit ist der Vater aller Dinge.“ Jedenfalls in der Demokratie, der Selbstherrschaft durch Selbstbeherrschung, des government by discussion and disputation.

Damit der Wert des Streits – des „zivilisierten“, „konstruktiven“, „verantwortungsvollen“ Streits, wie die vielfach wiederholten Qualitäts-Adjektive lauten – erkannt wird, muss zuvor der „Konflikt“ um Ziele, Mittel und Wege als Lebenselixier einer Demokratie anerkannt sein. Daran fehle es in Deutschland, meint die Autorin. Sie diagnostiziert „Konfliktfaulheit“ und nennt die „Konfliktscheu“ einen „destruktiven Charakterzug“. Im Gegenzug treibt sie das Lob des Streits auf die Spitze: „Indem ich einem Kommentar auf Facebook wiederspreche, teile ich dem Kommentierenden mit, dass mich das, was er schreibt, beschäftigt – dass wir vielleicht nicht in einem Boot sitzen, aber doch im selben Wasser treiben. Streit ist einfach nur ein Ausdruck von Beziehung – man kann ihn als einen Akt gegenseitiger Anerkennung verstehen.“

2. „Warum Streit schwer ist“,

so ist das zweite Kapitel überschrieben. – Es ist deshalb schwer zu streiten, weil in jeder Auseinandersetzung nicht nur strittige Sachverhalte im Mittelpunkt stehen, sondern immer auch streitende Personen. Oft werden Differenzen in der Sache mit despektierlichen Angriffen auf die Person verknüpft – und vergiften so den Streit, machen ihn zum „Fight“, wie Haaf schreibt. In öffentlichen Diskussionen hat sich in den letzten Jahren eine entlarvende Redewendung eingebürgert: Man „argumentiert“ nicht mehr, um zu „überzeugen“, man möchte „Punkte machen“. „Lassen Sie mich diesen Punkt noch machen“, insistiert der CDU-Generalsekretär, bevor die Moderatorin zum nächsten Podiumsgast übergeht. Die argumentative Auseinandersetzung ist einem Schlagabtausch um Punkte gewichen. Am Ende möchte man als Punktsieger die Talkshow verlassen. Was wäre in dieser Logik die gelungene Überzeugung eines einsichtigen Gegenübers, ein K.o.-Sieg?

Angst hemmt Streit. Natürlich ist es auch deshalb nicht leicht zu streiten, weil es die Angst, oft Existenzangst ist, die den Widerspruch hemmt. Die Autorin berichtet aus ihrem Berufsleben als Publizistin: „So viele Streits, die ich nie geführt habe, aus Angst vor den möglichen Konsequenzen: dem älteren Kollegen nicht gesagt, er könne sich die ‚süße Maus‘ sparen, weil was, wenn er sich weigern würde, künftig mit mir zu arbeiten? Dem Chef, der meine Idee als seine verkaufte, nicht mal im Nachhinein gesagt, wie unfair das war, weil was, wenn er mir daraufhin gekündigt hätte? Das absurde Honorar nicht verhandelt, weil ich dachte, dann fragen sie mich nie wieder, ob ich etwas für sie schreibe.“

Strukturelle Streitverhinderung. Die neuen sozialen Medien mit ihrem strukturellen Zwang zur kurzen Mitteilung und direkten Antwort erleichtern die Polemik und erschweren den Streit. Guter Streit verträgt sich nicht mit Zeitdruck und Kurzfassung. „Im Netz gut zu streiten, gehört zu den komplizierten Konfliktdisziplinen: Alles, was den Wert eines Streites im Alltag und in der direkten Kommunikation ausmacht – das Ziel, der Gegenstand, der Ton, die Fähigkeit zuzuhören und sich und dem anderen Zeit zu geben –, ist … schwer zu verwirklichen, wenn man es auf elektronischem Weg versucht.“ Die Sprache ist auch hier verräterisch: Netzkontroversen setzen wir, indem wir sie „Shitstorm“ nennen, mit umherfliegenden Fäkalien gleich.

3. „Wie wir besser streiten können,“

so ist das dritte und letzte Kapitel überschrieben.

Das erste Gebot der Streitkunst lautet: Den anderen zu Wort kommen lassen, ihm dabei aufmerksam zuhören und vorschnelle Bewertungen unterlassen. – Grundsätze der themenzentrierten Interaktion und des kontrollierten Dialogs, die nicht neu sind.

Die Sprache des produktiven Streits ist die Sprache der konstruktiven Kritik: die Sachverhalte klar benennen, ohne die Personen zu beleidigen. So einfach das klingt, so schwierig die „Umsetzung“. Menschen, die es aushalten, Widerspruch zu erfahren, ohne sich persönlich attackiert zu fühlen, sind rar – und werden unter Interneteinfluss nicht zahlreicher. Menschen, die viel austeilen, können in der Regel nur wenig einstecken. Die Haudraufs werden zu beleidigten Leberwürsten, wenn sie selbst ins Fadenkreuz der Kritik geraten. Hier empfiehlt die Autorin eine selbstsuggestive Einredung: „Kritik einzustecken geht leichter, wenn man sie als besondere Form der Zuwendung versteht.“ Nun ja, demnach wäre die intensive Zuwendung, die mir der Folterknecht schenkt, fast schon Liebe.

Die Sprache, die der Streit braucht, wird zunehmend komplizierter. Die Bemühungen um eine geschlechtergerechte und diskriminierungsfreie Sprache machen es oft schwerer zur Sache zu kommen, weil der Streit schon bei „nicht korrekten“ Formulierungen anfängt und oft auch hängenbleibt. Hier gilt es semantisch ab- statt aufzurüsten

Diskussion

Wir leben in Deutschland in einer besonders gearteten Demokratie, die sich zu Recht „wehrhafte Demokratie“ nennt. Das ist eine Regierungs-, Staats- und Lebensform, in der nicht alles und jedes strittig gemacht und zur Debatte gestellt werden darf. Man sollte sich weigern mit Leuten zu reden, die bestreiten, dass Schwarze Menschen sind. Man sollte sich weigern mit Leuten zu reden, für die Juden kein Existenzrecht haben. Mit Holocaust-Leugnern gibt es nichts zu bereden. Diese Leute erfüllen Straftatbestände und gehören vor Gericht, aber nicht in ein Streitgespräch. – Das sind die roten Linien einer wehrhaften Demokratie. Darüber ist wenig im Buch zu finden.

Aus Universitäten hört man, dass Studierende dagegen protestieren, Ansichten hören zu müssen, die sie nicht teilen, weil sie die richtige Antwort schon gefunden zu haben glauben und deshalb eine Entfernung des Dozenten aus dem Lehrbetrieb fordern. Die Professoren Baberowski und Münkler von der Humboldt-Universität können ein Lied davon singen. – Über diese neue Spießigkeit im akademischen Milieu findet sich nichts im Buch.

Etwas Weiteres fehlt: Der Blick auf den Kleinmut unserer gewählten Politiker, die mit fadenscheinigen Manipulationen der Begegnung mit dem Unangenehmen aus dem Wege gehen. Jüngstes Beispiel: Als im Sommer 2017, kurz vor der Bundestags-Wahl, absehbar war, dass die neue Partei AfD ins Parlament einziehen und dank des Alters einer ihrer Kandidaten den Alterspräsidenten stellen könnte, änderte man auf Antrag der Regierungsfraktionen die Geschäftsordnung des Bundestages. Nun obliegt es nicht mehr dem lebensältesten, sondern dem dienstältesten Parlamentarier, die neue Legislaturperiode zu eröffnen. – Aus Angst davor, die Ansprache eines Abgeordneten aus der AFD anhören zu müssen, veränderte man die angestammte, über hundertjährige Institution des Alterspräsidenten. Das ging sang- und klanglos über die Bühne. – Solange von solchen Machenschaften kaum Notiz genommen wird, befinden wir uns in einer erbärmlichen Streitkultur.

Fazit

Das Buch ist ein Plädoyer für den Streit als Lebenselixier einer lebendigen Demokratie, für ein besseres Gegeneinander im Miteinander. Die Autorin will, dass man in Deutschland zur Sache spricht, ohne sich in Anfeindungen zu verlieren. Geschrieben in der Manier eines flotten Essays, liegt ein gewitztes Feuilleton vor uns, das in eine Reihe mit Stéphane Hessels „Empört euch!“ (2010) und Andrea Römmeles „Zur Sache. Für eine neue Streitkultur in Politik und Gesellschaft“ (2019) zu stellen ist.

Rezension von
Prof. Dr. Klaus Hansen
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Es gibt 102 Rezensionen von Klaus Hansen.

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Zitiervorschlag
Klaus Hansen. Rezension vom 25.04.2019 zu: Meredith Haaf: Streit! Eine Aufforderung. Deutscher Taschenbuch Verlag (München) 2018. ISBN 978-3-423-28977-1. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/25107.php, Datum des Zugriffs 02.12.2023.


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