Suche nach Titel, AutorIn, RezensentIn, Verlag, ISBN/EAN, Schlagwort
socialnet Logo

Matthias Müller: Zur Soziologie früher Demenz

Rezensiert von Alexandra Günther, 22.10.2019

Cover Matthias Müller: Zur Soziologie früher Demenz ISBN 978-3-8474-2213-6

Matthias Müller: Zur Soziologie früher Demenz. Doing dementia. Verlag Barbara Budrich GmbH (Opladen, Berlin, Toronto) 2018. 203 Seiten. ISBN 978-3-8474-2213-6. D: 29,90 EUR, A: 30,80 EUR.

Weitere Informationen bei DNB KVK GVK.
Inhaltsverzeichnis bei der DNB.

Kaufen beim socialnet Buchversand
Kaufen beim Verlag

Thema

Menschen mit Frühdemenz werden in der Öffentlichkeit und Forschung kaum beachtet. Sie werden bislang nicht als eigene Personengruppe betrachtet, obwohl ihre Bedürfnisse nicht denen hochaltriger oder pflegebedürftiger Menschen mit Demenz entsprechen. Die vorliegende Studie zu diesem neuen Thema analysiert die sozialen, gesellschaftlichen und institutionellen Deutungsmuster und Wissensbestände.

Autor

Dr. Matthias Müller ist Lehrkraft für besondere Aufgaben am Institut für Sozialwesen der Universität Kassel.

Aufbau

Das Fachbuch ist folgendermaßen aufgebaut:

  • Einleitung: Doing dementia,
  • Die halbierte Modernisierung von Pflege und Altenhilfe,
  • Annäherung an das Phänomen Demenz,
  • Eine Studie im Feld: Methodischer und methodologischer Rahmen,
  • Ethnografischer Zugang ins Feld,
  • Vertiefte Analysen im Altenhilfesetting,
  • Erweitertes Hilfesetting: Die universitäre Demenzsprechstunde,
  • Demenz als (Familien)Geheimnis,
  • Fluidität und Ambivalenz im Deutungsmuster,
  • Identitätstheoretische Zugänge zu Frühdemenz,
  • Momente der partizipativen Studie,
  • Genügsamkeit in einem wohlfahrtsstaatlichen Feld im Wandel.

Inhalt

In der Einleitung erläutert Matthias Müller das Anliegen seines soziologischen Forschungsprojektes. Zusammen mit Studierenden seiner Seminare greift der Autor dieses neue Themenfeld auf, das aus dem Bedarf einer Einrichtung der sozialen Demenzhilfe heraus entstanden ist. Als Anstoß benennt er den Wunsch nach Arbeit, der dort im Gesprächskreis von Frühdemenzkranken geäußert wurde. Als Frühdemente definiert Müller Menschen, die in jungen Jahren erkranken und junge Alte zwischen 60 und 70 Jahren im Anfangsstadium.

In Kapitel 2 und 3 geht Müller auf die theoretischen Grundlagen ein. Dabei behandelt er u.a. den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff für Demenz und den kulturellen Wandel in der Altenhilfe. Der Autor führt seine Ansichten zur halben Modernisierung im Altenhilfe- und Pflegebereich aus. Er diskutiert u.a. Ulrich Beck‘s Theorie über Individualisierungs- und Pluralisierungsprozessen in spätkapitalistischen Gesellschaften und Familienpflege durch weibliche Angehörige. Des Weiteren erläutert er die medizinischen Klassifikationssysteme für Demenz. Er geht auf kritische Positionen an der gesellschaftlichen Konstruktion von Altersbildern und Pflegebedürftigkeit ein, wie z.B. von Gronemeyer & Wißmann oder Whitehouse. Außerdem gibt der Autor einen Überblick zu den bisher nur vereinzelten Studien über Frühdemenz.

Demenz ist nach Müller ein kulturelles Phänomen und als doing dementia zu verstehen. Für den empirischen Teil der Studie arbeitet der Autor folgende Fragen heraus:

„Was sind (Sinn)Bezüge für Integration oder Inklusion von Menschen mit Frühdemenz? Ob und inwiefern spielt das kulturelle Leitbild oder gar Deutungsmuster des cogito im wohlfahrtsstaatlichen Hilfesystem der Demenz eine Rolle und ist bei den Betroffenen repräsentiert?“

Im vierten Kapitel stellt Müller Methoden und Ablauf seiner Arbeit dar. Die erste Forschungsphase untersucht das Thema „Arbeit“ bzw. sinnstiftende Tätigkeit und Frühdemenz. Die zweite Phase geht der Frage nach sozialer Integration durch institutionelle und sozialpolitisch agierende Akteure nach und umfasst eine Teilstudie zu Familien mit Frühdemenz. Methodisch orientiert sich die Studie an der Grounded Theory.

Das fünfte Kapitel stellt den ethnografischen Zugang ins Feld vor und analysiert das doing dementia in der sozialen Demenzhilfeeinrichtung. Eingegangen wird u.a. auf äußere Strukturmerkmale, wie z.B. architektonische und räumliche Ausstattung, oder die Gestaltung der Kooperation und Begleitung der Frühdementen. Der Autor arbeitet Konflikte und die forschungsleitende Kategorie der „Genügsamkeit“ im Feld heraus.

Kapitel 6 vertieft seine Analyse zum doing dementia im Hilfesetting. In den Einzelinterviews mit den ehrenamtlichen Leiterinnen des Gesprächskreises für Frühdemente zeigen sich nach Müller u.a. der sozialstrukturelle Kontext und Strukturen einer „exkludierenden Inklusion“.

Kapitel 7 thematisiert das doing dementia im medizinischen Altenhilfesystem. Am Beispiel der Demenzsprechstunde einer Universitätsklinik werden geltende medizinische Deutungsmuster für Demenz und Frühdemenz sichtbar gemacht und analysiert. Der Autor diskutiert u.a. das Vorherrschen der Deutungsdimensionen Alter, Krankheit und abweichendes Verhalten.

In Kapitel 8 stellt Müller den individuellen „Ankerfall“ für seine Studie vor. Der Autor zeigt in einer detaillierten Interviewanalyse die Perspektive einer Erkrankten mit Frühdemenz im Berufsleben und ihres Sohnes. Die Folgen von Selbststigmatisierung und Demenz als Familiengeheimnis werden herausgearbeitet.

Die bisherigen Erkenntnisse unterzieht Müller in Kapitel 9 einer Deutungsmusteranalyse. Der Autor geht der Frage nach, ob und wie die Deutungsmuster die Genügsamkeit im beobachteten Feld erklären können. Er zieht u.a. den Ansatz von Oevermann und Hildenbrand heran, um den sozialen Sinn von Frühdemenz zu untersuchen. Deutungen darüber zeichnen sich, wie der Autor aufzeigt, u.a. durch Fluidität und Ambivalenz aus.

Das Kapitel 10 analysiert die empirischen Ergebnisse unter dem Aspekt der Identität. Hierzu erläutert der Autor die Identitätstheorien von Goffman und Strauss und diskutiert das Forschungsmaterial unter den Gesichtspunkten: soziale Identität, Identitätsentwicklung in der Biographie, Identitätsdefinition durch Interaktionsprozesse und Bewältigung von Identitätswandlungen. Innerhalb der Familien und des Hilfesettings hat das Stigmamanagement nach Müller besondere Bedeutung.

Kapitel 11 geht auf die Frage nach sozialer Integration von Menschen mit Frühdemenz ein. Der Autor greift u.a. das Bedürfnis nach sinnvoller Tätigkeit bzw. Engagement bei den interviewten Menschen mit Frühdemenz auf. Er zeigt, inwiefern z.B. die Deutungen von Angehörigen und Fachkräften die Handlungsmöglichkeiten von Frühdementen begrenzen.

Kapitel 12 geht abschließend auf die forschungsleitende Kategorie der Genügsamkeit ein. Die soziale Demenzhilfe hat nach Ansicht Müllers Menschen mit Frühdemenz als eigene, neue Gruppe erkannt, aber bisher keine Rollen- oder Funktionskonzepte für sie entwickelt. Frühdemenz wird mit den gesellschaftlichen, kulturellen Deutungen und Wissensstrukturen belegt, die für hochaltrige oder fortgeschrittene Demenzkranke gelten. Das Bedürfnis der Frühdementen nach Aktivität und sinnvollem Engagement innerhalb der Gesellschaft widerspricht der beobachtbaren Genügsamkeit des Feldes.

Der Autor erläutert, wie die Selbstgenügsamkeit der Frühdementen und die Genügsamkeit im Altenhilfesetting den gesellschaftlichen Ausschluss Frühdementer umsetzen. Es gilt nach Müller u.a. differenzierte Deutungen zu entwickeln, die die speziellen Bedürfnisse und persönlichen Potenziale als gesellschaftliche Teilhabemöglichkeiten ansehen.

Diskussion

Matthias Müller richtet in seiner Studie den Blick auf Menschen mit Frühdemenz. In ihrer Lebenswelt und eigenen Perspektive spiegeln sich die kulturellen Deutungen über Demenz als psychiatrische Erkrankung des hohen Alters wider. Eine eigene, angemessene Deutung gibt es bislang nicht. Der Autor weist aufgrund seiner soziologischen Analyse der Wissensbestände und -strukturen darauf hin, dass Inklusionskonzepte trotz konkreter Bedürfnisse der Betroffenen noch kaum entwickelt sind. In der sozialen Altenhilfe existiert ein ambivalentes, diffuses Bild zu Frühdemenz, dass nach Erkenntnissen der Studie eher „exkludierende Inklusion“ umsetzt. Hilfsangebote wie der untersuchte Gesprächskreis zielen allein auf Interaktionsförderung und sind bildungs- bzw. mittelschichtsbezogen. Im Anschluss an die derzeitigen Debatten über Inklusion kann die Personengruppe der Menschen mit Frühdemenz und ihre Angehörigen eine Differenzierung der geltenden Deutungen fordern.

Die Schlüsselkategorie in seiner Studie ist die beobachtete (Selbst)Genügsamkeit des Feldes. Nicht nur die Menschen mit Frühdemenz und ihre Angehörigen neigen zur genügsamen Lebensgestaltung, sondern auch die soziale Altenhilfe mit den überwiegend weiblichen, unentgeltlich tätigen Ehrenamtlichen zeigt genügsames, sozialpolitisch anspruchsloses Handeln. Die schwache Position der sozialen Altenhilfe gegenüber der ökonomisch und politisch starken medizinischen und pflegerischen Altenhilfe kritisiert der Autor zu Recht.

Fazit

Die soziologische Studie von Matthias Müller untersucht das neue Forschungsfeld Frühdemenz. Die geltenden Deutungen über frühe Demenz werden von Deutungen über Demenz als alterspsychiatrische Erkrankung vorbestimmt. Das vorherrschende Wissen führt zu einer exkludierenden Inklusion in der sozialen Altenhilfe. Bedürfnisse der Betroffenen nach sinnvoller Tätigkeit stehen in Konflikt mit den Zuschreibungen der Lebenswelt nach Genügsamkeit. Der Autor zeigt mit seiner Forschung das kulturelle doing dementia bei Frühdemenz.

Ehrenamtliche und professionelle Fachkräfte in der sozialen Altenhilfe bekommen Einblicke in die Lebenswelt frühdementer Menschen und Reflexionsanstöße für die Entwicklung von Konzepten zur Inklusion und Entstigmatisierung.

Rezension von
Alexandra Günther
Sozialpädagogin und Ethikerin
Mailformular

Es gibt 45 Rezensionen von Alexandra Günther.

Besprochenes Werk kaufen
Sie fördern den Rezensionsdienst, wenn Sie diesen Titel – in Deutschland versandkostenfrei – über den socialnet Buchversand bestellen.


Zitiervorschlag
Alexandra Günther. Rezension vom 22.10.2019 zu: Matthias Müller: Zur Soziologie früher Demenz. Doing dementia. Verlag Barbara Budrich GmbH (Opladen, Berlin, Toronto) 2018. ISBN 978-3-8474-2213-6. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/25108.php, Datum des Zugriffs 04.10.2023.


Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt. Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns. Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.


socialnet Rezensionen durch Spenden unterstützen
Sie finden diese und andere Rezensionen für Ihre Arbeit hilfreich? Dann helfen Sie uns bitte mit einer Spende, die socialnet Rezensionen weiter auszubauen: Spenden Sie steuerlich absetzbar an unseren Partner Förderverein Fachinformation Sozialwesen e.V. mit dem Stichwort Rezensionen!

Zur Rezensionsübersicht