Olaf Tietje: "Wir nahmen uns das Wort"
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 01.03.2019
Olaf Tietje: "Wir nahmen uns das Wort". Migrantische Akteur_innen in Almería, Spanien: Zwischen Subalternisierung und Handlungsmacht. Verlag Westfälisches Dampfboot (Münster) 2018. 300 Seiten. ISBN 978-3-89691-285-5. D: 35,00 EUR, A: 36,00 EUR.
Subalternisierung in heterotopen Subwelten
Migrationsprozesse produzieren verschiedenartige, individuelle und kollektive, existenz-, situationsbedingte und räumliche Strukturen und Lebensformen. Es sind Push- und Pull-Faktoren die auf Bedürfnisse und Bedarfe reagieren. Wanderungsprozesse sind somit veranlasst und ausgerichtet in zweierlei Hinsicht: Zum einen auf die (Not-)Wendigkeit von Menschen, sind aus unterschiedlichen Gründen existenzsichernde und aussichtsreichere Lebensbedingungen zu suchen als diese die angestammte Heimat bietet, und zum anderen die (Lock-)Signale, die von ökonomisch entwickelten Kontinenten, Ländern und Regionen ausgesendet werden. Das klassische Beispiel der Anwerbung von „Gastarbeitern“ der nord- und westeuropäischen Gesellschaften in den 1960er/1970er Jahren kann als Beispiel für Subalternisierung in ausgewählten, eher gesellschaftlich randständigen und ökonomisch prekären Arbeitsverhältnissen gelten. Obwohl die Integrationsprozesse bei dieser Klientel weiterhin nicht als befriedigend und abgeschlossen betrachtet werden können, verläuft der (kontroverse) Diskurs eher in demokratisierten Formen ab (vgl. z.B. dazu: Aladin El-Mafaalani, Das Integrationsparadox. Warum gelungene Integration zu mehr Konflikten führt, 2018, www.socialnet.de/rezensionen/24884.php).
Autor
Oaf Tietje ist Soziologe an der Hochschule für Technik in Rapperswill/Ost-Schweiz
Entstehungshintergrund
Eine andere Entwicklung nehmen Formen von Fluchtbewegungen im Rahmen der aktuellen Migrations- und Flüchtlingskrisen ein. Immer mehr Länder nehmen europa- und weltweit Abwehrreaktionen gegen Zuwanderung ein. Sie bauen wieder Mauern, errichten Zäune, Selbstschuss- und elektronische Grenzüberwachungsanlagen, um Asylsuchende und Flüchtlinge abzuwehren. Fremdenfeindliche, ethno-, egozentrierte, rassistische und populistische Parolen werden ungeschützt hinausposaunt (vgl. dazu: Jos Schnurer, Deutschland ist ein Einwanderungsland, 22.12.2014, https://www.sozial.de/deutschland-ist-ein-einwanderungsland.html). Der Willkommenskultur ist längst die Abwehrreaktion gefolgt.
Langwierige und zögerliche Aufnahme- und Anerkennungsprozeduren münden in Abschiebungsaktionen oder unzumutbare unsichere Wartepositionen. Die Betroffenen, ob als legale oder illegale Einwanderer, werden, um überleben zu können genötigt, ausbeuterische und rechtlose Arbeitsverhältnisse aufzunehmen. Die (UN-) internationale Arbeitsorganisation ILO geht davon aus, dass derzeit rund 150 Millionen Menschen weltweit als migrierte Arbeitskräfte tätig sind. Sie arbeiten überwiegend in den Niedriglohnbereichen in der Landwirtschaft, im Haushalt und in der Industrie. Besonders beim Früchte- und Gemüseanbau sind offiziell und inoffiziell Migrantinnen und Migranten tätig. Im „mar de plástico“, dem Gemüseanbaugebiet in der andalusischen Provinz Almeria, werden Zehntausende, meist aus den afrikanischen Ländern eingewanderte LandarbeiterInnen illegal in Niedriglohnbereichen und ohne Gewerkschaft s- und Arbeitsschutz beschäftigt. Die Produkte werden bei uns in Supermärkten zu Vorzugspreisen angeboten.
In einer Feldforschung in den Jahren 2012 – 2015 hat Olaf Tietje die migrantischen Situationen in Almeria untersucht. In der ethnografisch angelegten Studie richtete der Forscher seine Aufmerksamkeit darauf, wie die „Externalisierung von Arbeitskraft“ in den agrarisch ausgerichteten Tätigkeiten sich zu „normalen“, nicht mehr kritisierten und auffälligen Ausbeutungsverhältnissen entwickelt haben.
Doch mit Unterstützung von Arbeitsvertretungen und Menschenrechtseinrichtungen entwickelten die AkteurInnen Konzepte und Methoden, um Rechte zu erstreiten, ohne jedoch ihre prekäre, legale oder illegale migrantische Situation zu gefährden. Dies fordert auch vom Forscher eine vorsichtige, vorausschauende und behutsame Arbeitsweise und Analyse. Mit der These, „dass die immigrierten Landarbeiter_innen handelnde Akteur_innen ( ) und nicht lediglich Spielball globaler kapitalistischer, auf ihre Verwertung abzielender Verhältnisse (sind)“, untersucht der Autor die sozio-historischen Bedingungen beim Forschungsfeld, setzt sich mit den institutionalisierten und mentalitätsbedingten Verhältnissen von Gewerkschafts(ohn-)macht und Migration auseinander, erkundet die Prozesse von Informalisierung und Neokolonialisierung in der industrialisierten Agrarwirtschaft, und geht den Entwicklungen der Feminisierung bei den Migrantinnen nach ( vgl. dazu auch: Dana Dülcke, Julia Kleinschmidt, Olaf Tietje, Juliane Wenke, Hrsg. Grenzen von Ordnung. Eigensinnige Akteur_innen zwischen (Un)Sicherheit und Freiheit, 2016, www.socialnet.de/rezensionen/22264.php ).
Aufbau
Neben der Einleitung mit den Ausführungen zu den Frage-, Zielaspekten, Forschungsstand und -design, und der Konklusion, wird die Forschungsarbeit gegliedert in:
- Regime, soziale Welten und Handlungsmöglichkeiten.
- Grenzräume und soziale Welten.
- Sozio-historische Bedingungen: Im Spannungsfeld von Landbesitz und -bearbeiten.
- Lohnarbeits- und Grenzregime in der idustrialisierten Agrikultur: Die soziale Welt der Landarbeit.
- Intersektionelle Verschränkungen, neoliberale Figuren und externalisierte Arbeitskraft: die sozialen Arenen der Landarbeit.
- Subalternisierung und Eigensinn: Störungen der sozialen Ordnung.
Inhalt
Wenn die weltweiten Migrationsbewegungen einerseits die menschliche Dynamik und die Fähigkeiten zur Veränderung verdeutlichen, andererseits aber auch Reaktionen auf die Fragmentierung und ungerechten, lokalen und globalen sozialen Lebenswelten provozieren, bedarf es der Aufmerksamkeit auf prekäre und Ausbeutungsstrukturen in den Ankunftsländern bei legalen und illegalen Eingewanderten. Die ökonomische Entwicklung in der andalusischen Provinz Almeira ist seit langem bestimmt durch den landwirtschaftlichen Anbau von Obst und Gemüse und dient der Versorgung der spanischen und europäischen urbanen Gebiete. Durch die klimatisch günstige Lage hat sich in den letzten Jahrzehnten der Tourismus- und Immobilienmarkt entwickelt. Die landwirtschaftliche, zeit- und bedarfsgetaktete Produktion hat dazu geführt, dass auf riesigen Flächen in der Region kunststoffgedeckte Treibhäuser (mar de plástico) errichtet und der Frucht- und Gemüseanbau industrialisiert wurden. Das hat(te) zur Folge, dass billige Handarbeit gefragt war, die gering entlohnt wurde und es den einheimischen Tagelöhnern kaum ermöglichte, sich und ihre Familien ernähren zu können (weswegen viele Menschen besonders aus dieser Region als „Gastarbeiter“ in den europäischen Nachbarländern einen besseren Lebensunterhalt suchten). Ebenso traditionell zeigt(e) sich die ökonomische, gesellschaftliche und politische Macht der (Groß-) Grundbesitzer und die Ohnmacht der Gewerkschaften.
Diese historische Gemengelage von ökonomischer Macht Traditionen hat sich durch die lokalen und globalen Konsum- und Marktentwicklungen und menschenrechtlichen Forderungen nach menschenwürdigen Lebensbedingungen zwar für einheimische LandarbeiterInnen in der Region verändert; doch der ökonomische Druck im Gefüge von Angebot und Nachfrage bleibt: Die prekäre, saison- und bedarfsbedingte (Niedrig-)Lohnarbeit in der Agrarwirtschaft wird nun zu einem erheblichem Teil von Migrantinnen und Migranten übernommen, die ihre Tätigkeiten entweder ohne oder mit eher wirkungsarmen, offiziellen Arbeitsverträgen und ohne Arbeitsschutzvereinbarungen ausüben. Die im Zuge von Modernisierungs- und Technisierungsmaßnahmen in der industrialisierten Produktion von Obst und Gemüse erfolgten Entwicklungen zeigen einen eher geringen Einfluss auf eine Verbesserung der migrantischen Arbeitsbedingungen.
Olaf Tietje geht in seiner Forschungsarbeit beobachtend, diskutierend, analysierend, mit Interviews und Vergleichen auf die Situation von in der Region Almeria beschäftigten immigrierten Arbeitskräfte ein. Er untersucht die Gründe, weshalb sich so viele Menschen vor allem aus Nord- und Westafrika Arbeit als Niedriglohnarbeiter verdingen, schaut darauf, weshalb sie diese Tätigkeiten verrichten, und er erkennt den Druck, der von Innen und Außen auf sie ausgeübt wird. Da ist es umso erstaunlicher und bemerkenswerter, dass sich „eigensinnige“, organisierte und von Gewerkschaften und Interessengruppen unterstützte Aktivitäten mit dem Ziel entwickeln, die individuellen und kollektiven Bedingungen der immigrierten Lohnarbeit zu verbessern und so gerechtere, menschenwürdige Arbeitsverhältnisse im „Mar de plástico“ zu schaffen.
Fazit
Die Forschungsstudie richtet die Aufmerksamkeit auf die Subalternisierungen der migrantischen Landarbeiterinnen und Landarbeiter in der andalusischen Provinz Almeria. Damit verweist sie zum einen auf die lokalen, ausbeuterischen Bedingungen und die im nationalen und internationalen Migrationsprozess vorherrschenden Situationen; zum anderen aber auch darauf, „dass die Produktion von Obst und Gemüse zu den gegenwärtigen Preisen vor allem davon abhängt, dass die nordeuropäischen Supermarktketten die Preise der Produkte bestimmen“. Damit zeigt die Forschungsarbeit in zwei Richtungen. Sie verdeutlicht nicht nur die interdependenten Entwicklungen, die sich lokal und global auswirken und sich mit dem Spruch verdeutlichen, dass die Eine Welt bei uns beginnt (vgl. z.B. dazu: www.einewelt-hildesheim.de), sondern fordert auch dazu auf, das Menschenrecht auf eine menschenwürdige, lebenswerte Arbeit, wie es in der „globalen Ethik“, der von den Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948 proklamierten Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte zum Ausdruck kommt, zu verwirklichen. Almeria ist überall!
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 01.03.2019 zu:
Olaf Tietje: "Wir nahmen uns das Wort". Migrantische Akteur_innen in Almería, Spanien: Zwischen Subalternisierung und Handlungsmacht. Verlag Westfälisches Dampfboot
(Münster) 2018.
ISBN 978-3-89691-285-5.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/25112.php, Datum des Zugriffs 20.09.2024.
Urheberrecht
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