Manuela Dudeck, Florian Steger (Hrsg.): Ethik in der Forensischen Psychiatrie und Psychotherapie
Rezensiert von Dr. phil. Gernot Hahn, 02.07.2019

Manuela Dudeck, Florian Steger (Hrsg.): Ethik in der Forensischen Psychiatrie und Psychotherapie. MWV Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft (Berlin) 2018. 309 Seiten. ISBN 978-3-95466-360-6. D: 49,95 EUR, A: 51,45 EUR, CH: 60,00 sFr.
Thema
Die Forensische Psychiatrie und Psychotherapie umfasst die Begutachtung und Behandlung psychisch kranker Straftäter und ist eines der schwierigsten Terrains zwischen Medizin und Recht. Ärzte und Psychologen werden als Sachverständige in Strafverfahren verpflichtet, um Fragen nach Schuldfähigkeit, Glaubhaftigkeit oder Kriminalprognose zu beantworten.
Wird bei einem Straftäter die verminderte oder aufgehobene Schuldfähigkeit anerkannt, so kann das Gericht eine Maßregel neben oder anstelle einer Freiheitsstrafe anordnen. Die Maßregel dient der Besserung und Sicherung von psychisch kranken Rechtsbrechern. Sachverständigengutachten, die wesentlichen Einfluss auf die Urteilsfindung haben, Freiheitsentzug und Zwang bei der Unterbringung und Sicherheitsverwahrung oder die psychiatrische Versorgung in Haftanstalten – das sind Handlungsfelder, in denen ethische Fragestellungen entstehen.
Dieses neue Standardwerk vereint erstmalig das breite Themenspektrum und eröffnet Einblick in die relevanten ethischen Prinzipien und Fragen der Forensischen Psychiatrie und Psychotherapie. Es hilft nicht nur bei der Einordnung und Bewertung schwieriger ethischer Konstellationen, es bietet auch konkrete Lösungsansätze für Entscheidungssituationen im weiten Spektrum forensisch-psychiatrischer Handlungsfelder.
HerausgeberInnen und AutorInnen
Prof. Dr. Manuela Dudeck ist Lehrstuhlinhaberin für Forensische Psychiatrie und Psychotherapie an der Universität Ulm und ärztliche Direktorin der gleichnamigen Klinik der Bezirkskliniken Schwaben. Sie war als Mitglied der „Task Force Maßregelbehandlung“ der DGPPN mitverantwortlich für die Entwicklung der Standards für die Behandlung im Maßregelvollzug und ist stellv. Vorsitzende der Ethikkommission der Universität Ulm.
Florian Steger ist Universitätsprofessor und Direktor des Instituts für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der Universität Ulm, zuvor und seit 2011 in gleicher Funktion am Institut für Geschichte und Ethik der Medizin der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Vorsitzender der Ethikkommission der Universität Ulm.
Die Einzelbeiträge wurden von bekannten und größtenteils namhaften VertreterInnen der Forensischen Psychiatrie verfasst.
Aufbau
Der Sammelband ist in acht Kapitel unterteilt und folgt den thematischen Schwerpunkten
- Einführung
- Prognosegutachten
- Recht auf Selbstbestimmung
- Zwangskontext
- Genderaspekte
- Behandlung im Maßregelvollzug
- Gesellschaftlicher Diskurs
- Sicherungsverwahrung und Gefängnispsychiatrie
Inhalt
Das Einführungskapitel bietet in drei Beiträgen grundsätzliche Aspekte und Fragestellungen, die als Einführungstext und Rahmung für die in den folgenden Kapiteln behandelten Spezialfragen dienen.
Steger und Rubeis fragen z.B. danach, ob man Menschen durch Therapie „besser“ machen kann, also die Entwicklung der „ethischen Qualität“ eines Menschen verändert werden kann und was „therapeutische Besserung“ im Rahmen kriminaltherapeutischer Behandlung bedeuten kann – und was nicht. Die AutorInnen vertreten die Auffassung das ethische „Besserung im Kontext des Maßregelvollzugs“ möglich ist, dass „ethisches Handeln gelernt“ werden kann (9), insbesondere durch eine ressourcenorientierte therapeutische Behandlungsstrategie.
Herausgeberin Dudeck nähert sich der Fragestellung ethischer Aspekte forensischer Psychiatrie durch eine Auseinandersetzung mit dem Maßregelvollzug als totalitäres System. Die forensische Psychiaterin und als Gutachterin Tätige setzt sich mit der Dynamik in totalen Institutionen (mit Rückgriff auf den Diskurs bei Gofman) und die damit verbundene Machtproblematik auseinander, die im Fall des Maßregelvollzugs durch ordnungspolitische Aufgaben (der Psychiatrie) angetrieben wird.
Kröber, der in Deutschland weniger als Kriminaltherapeut sondern als DER forensische Gutachter und Sachverständige bekannt ist befasst sich abschließend mit der Frage nach dem psychotherapeutischen Umgang mit Gefangenen und den damit assoziierten ethischen Problemen. Entsprechend beschäftigt sich der Text dann auch vorwiegend mit ethischen Fallstricken im Kontext der forensischen Begutachtung und erst im zweiten Abschnitt mit allgemeinen Überlegungen zu Machtmissbrauchsphänomenen die in der Praxis oft als Ausdruck von Sicherheitsdebatten oder als fürsorgliche Belagerung erscheinen bzw. gerechtfertigt werden.
Begutachtung
Mit vier Beiträgen zur strafrechtlichen Begutachtung von Straftätern gehen Nedopil, Boetticher, Nowara, sowie Höffler und Herzog auf die ethischen Aspekte und Probleme kriminalprognostischer Fragestellungen ein. Die weitreichenden Konsequenzen für Begutachtete und Gutachter, aber auch die gesellschaftliche Relevanz ordnungswissenschaftlicher Interventionen bedürfen klarer Regeln, Abläufe und Strukturen, die u.a. anhand von qualitätssichernden Merkmalen und die Einforderung von Mindeststandards, die für die strafrechtliche Begutachtung gelten, formuliert werden.
Recht auf Selbstbestimmung
Selbstbestimmung, Patientenrechte, Zwangsmaßnahmen, Autonomie – entlang dieser Begriffe befassen sich in diesem Abschnitt ebenfalls vier Beiträge mit grundlegenden Fragestellungen der forensischen Psychiatrie, z.B. inwieweit überhaupt eine gerichtlich angeordnete Zwangstherapie vertretbar erscheint (was im Fall schwerer Gewalt- und Sexualdelinquenz bejaht wird). Allerdings gelten auch im Zwangskontext die Grundlagen der therapeutischen Aufklärung über Behandlungsmaßnehmen und -anlässe, mögliche Alternativen und die Voraussetzungen für Einwilligung und informed consent, deren Grenzen nicht automatisch bei fehlender Einwilligungsfähigkeit in Behandlungsmaßnehmen erreicht werden. Vielmehr bedarf es ausführlicher Bemühungen in jedem Einzelfall um z.B. Schädigungen die mit einer Zwangsbehandlung verbunden sind zu vermeiden und sie sind nur zulässig, wenn zuvor versucht wurde den Betroffenen die Notwendigkeit solcher Maßnahmen zu vermitteln, von deren Notwendigkeit zu überzeugen und dadurch drohende erhebliche gesundheitliche Schäden abzuwenden. Schlussendlich müssen Zwangsmaßnahmen -und das gilt auch für den gesamten Bereich der Maßregeln der Besserung und Sicherung, also auch für den Maßregelvollzug- angemessen und verhältnismäßig sein.
Zwangskontext
Vor dem Hintergrund der im Abschnitt zuvor formulierten Grundlagen folgen mit zwei Beiträgen weitere Ausführungen zur Zwangsbehandlung im Maßregelvollzug, insbesondere die Isolation von Patienten in Einzelzimmern, die Fixierung oder sonstige mechanische Einschränkungen und alle weiteren Maßnahmen, die mit unmittelbarem Zwang verbunden sind. Die Autoren verweisen hier insbesondere auf die geltenden rechtlichen Bestimmungen und die aktuelle Rechtsprechung hierzu.
Genderaspekte
So wie im Strafvollzug auch, finden sich im Maßregelvollzug vorwiegend männliche Patienten. Die besonderen Umstände der Unterbringung weiblicher psychisch kranker Straftäter, deren Unterbringung unter Berücksichtigung sozialer Aspekte, oder die Möglichkeiten der gemeinsamen Unterbringung von Müttern mit ihren Kindern werden anhand konkreter Erfahrungen auf einer solchen Schwerpunktstation beschrieben. Deutlich wird, dass weibliche Untergebrachte als Minderheit bislang kaum Berücksichtigung in der Prognose- und Therapieforschung finden.
Behandlung
Der umfangreichste Abschnitt geht mit acht Beiträgen auf die Frage maßregelspezifischer Aspekte der Behandlung in der Forensischen Psychiatrie ein. Die Einzelbeiträge umfassen die Themen Therapie von Sexualstraftätern, medikamentöse Behandlung bei paraphilen Sexualstraftätern, Gewalt im Zwangskontext, Schweigepflicht und Zwangstherapie, Verhältnismäßigkeit von Zwangsunterbringungen, Suizidalität im geschlossenen Zwangskontext, Missbrauchsphänomene in der forensischen Psychiatrie, sowie ethische Aspekte der Spezialtherapien (z.B. Arbeitstherapie).
Gesellschaftlicher Diskurs
In einem eigenen Abschnitt finden sich Überlegungen zur gesellschaftspolitischen Diskussion des Maßregelvollzugs. Gaudernack, die Leiterin eines Amtes für Maßregelvollzug in Bayern (Fachaufsicht) greift hierzu den Diskurs um den Preis der Unterbringung gefährlicher psychisch kranker Straftäter auf und argumentiert hier zwischen ethischen Mindestanforderungen (z.B. Raum, Ausstattung, Therapieangebot) und den Grundlagen wirtschaftlicher Betriebsführung. Letztlich, so die Amtsleiterin, bedarf es vermehrter Anstrengungen in der Wirksamkeitsmessung der Maßregelbehandlung: „Die Evaluation des Maßregelvollzugs muss intensiviert werden. Es muss ein stärkerer Reflektionsprozess eintreten in Richtung: ‚Bringt das eigentlich etwas, was wir hier tun?‘“
Sicherungsverwahrung und Gefängnispsychiatrie
Die Beiträge des letzten Abschnitts gehen auf die besonderen Bedingungen der Unterbringung im Maßregelvollzug und Sicherungsverwahrung ein, hier unter dem juristischen Begriff des sog. „Sonderopfers“, das die Untergebrachten in diesen Vollzugsformen erbringen. „Ein Sonderopfer liegt, vor, wenn die hoheitliche Maßnahme einen Einzelnen oder eine Gruppe im Vergleich zu anderen besonders trifft (Gleichheitsproblem). Maßgebend für das Sonderopfer sind Schwere und Tragweite des Eingriffs in die Grundrechte der betroffenen Person“ (277). Durch die lange Dauer dieser Unterbringungsformen ist der Umstand eines solchen Sonderopfers durch „Verzicht“ auf das Grundrecht der persönlichen Freiheit unter Verweis auf die Gefährlichkeit der Untergebrachten gegeben. Als Minimalforderung formuliert der Autor, dass den Betroffenen ein Leben in Menschwürde zugesichert werden müsse, auch wenn dies in Form der geschlossenen Unterbringung erfolgt. Allerdings findet sich hier auch der Hinweis, dass ein empirischer Beleg für die Notwendigkeit eines solchen Sonderopfers bislang nicht erbracht wurde. „Eine Vielzahl der schuldfähigen Straftäter im Regelvollzug wird zum Strafende ohne weitere Prüfung mit einer vergleichbaren oder sogar höheren Rückfallgefahr [im Vergleich zu psychisch kranken Straftätern] in Freiheit entlassen, als sie zum Zeitpunkt der Einweisung der Untergebrachten bestand. Dies gilt insbesondere für Gewaltdelikte“ (285). Die besonderen Regelungen und Bedingungen für die Unterbringungsform der Sicherungsverwahrung werden folgend, auch in Abgrenzung zur Lebenslangen Freiheitsstrafe und zur Unterbringung im Maßregelvollzug diskutiert.
Zielgruppe des Buches
Alle im Bereich des Maßregelvollzugs, der Sicherungsverwahrung und des Strafvollzugs tätigen Berufsgruppen, sowie Angehörige der Justiz und der Verwaltung die im Rahmen von Strafverfahren, Unterbringungsüberprüfungen oder Lockerungsentscheidungen beschäftigt sind.
Diskussion
Die 2017 von der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde formulierten und publizierten „Standards für die Behandlung im Maßregelvollzug nach §§ 63 und 64 StGB“ (www.socialnet.de/rezensionen/23888.php) gehen auf die ethische Grundlagen lediglich im Umfang von eineinhalb Seiten ein. Der hier vorgelegte Band schließt diese schmerzliche Lücke. Dabei werden die zentralen Fragen rund um Begutachtung, Kriminalprognose, Zwangsbehandlung, Selbstbestimmung, gesellschaftliche Rahmenbedingungen, Genderaspekte und Kriminaltherapie aufgegriffen und einer auf Grundlage ethischer Aspekte orientierten Diskussion unterzogen. Die Ausführungen haben dabei bei weitem nicht alleine programmatischen oder theoretischen Charakter, sondern orientieren sich fast durchgehend an den praktischen Erfordernissen der Forensischen Psychiatrie, dem Alltag in den Maßregelvollzugskliniken. Damit empfiehlt sich das Buch nicht nur als Standardwerk der Forensischen Psychiatrie, sondern vielmehr als Pflichtlektüre für alle in der Forensischen Psychiatrie tätigen Berufsgruppen. Der als interdisziplinäres Projekt angelegte Band wurde vorwiegend aus Sicht der Psychiatrie, Rechtswissenschaften und Psychologie formuliert. Beiträge aus der -zahlenmäßig starken Gruppe- der Pflegeberufe oder der angewandten Sozialwissenschaften fehlen, ebenso wie die Angehörigenperspektive.
Fazit
Längst überfällig: das erste umfassende Werk zum Thema Ethik in der Forensischen Psychiatrie, verfasst aus interdisziplinärer Perspektive. Der Band vervollständigt die 2017 von der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde formulierten Standards für Behandlung im Maßregelvollzug nach §§ 63, 64 StGB und geht auf alle relevanten Aspekte im Zusammenhang mit strafrechtlicher Begutachtung, Selbstbestimmung und Zwangskontext, Genderaspekte, Kriminaltherapie, gesellschaftspolitische Fragestellungen und Sicherungsverwahrung ein. Pflichtlektüre für alle in der Forensischen Psychiatrie Tätigen.
Rezension von
Dr. phil. Gernot Hahn
Diplom Sozialpädagoge (Univ.), Diplom Sozialtherapeut
Leiter der Forensischen Ambulanz der Klinik für Forensische Psychiatrie Erlangen
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Zitiervorschlag
Gernot Hahn. Rezension vom 02.07.2019 zu:
Manuela Dudeck, Florian Steger (Hrsg.): Ethik in der Forensischen Psychiatrie und Psychotherapie. MWV Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft
(Berlin) 2018.
ISBN 978-3-95466-360-6.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/25115.php, Datum des Zugriffs 04.10.2023.
Urheberrecht
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