Sybille Bauriedl, Anke Strüver (Hrsg.): Smart City - kritische Perspektiven auf die Digitalisierung in Städten
Rezensiert von Dr. Antje Flade, 13.02.2019

Sybille Bauriedl, Anke Strüver (Hrsg.): Smart City - kritische Perspektiven auf die Digitalisierung in Städten.
transcript
(Bielefeld) 2018.
361 Seiten.
ISBN 978-3-8376-4336-7.
D: 24,99 EUR,
A: 25,70 EUR,
CH: 31,60 sFr.
Reihe: Urban studies.
Thema
In den Beiträgen des Textbandes wird aus verschiedenen Blickwinkeln kritisch überprüft, wie sich die Raumwahrnehmung und Raumnutzung sowie das Alltagsleben der Stadtbevölkerung durch die neuen Technologien verändern. Es wird analysiert, welchen Einfluss IT- Konzerne auf die Stadtpolitik und Stadtentwicklung haben.
Herausgeberinnen, Autorinnen und Autoren
Sybille Bauriedl ist Professorin für Integrative Geographie an der Europa- Universität Flensburg.
Anke Strüver ist Professorin für Humangeographie an der Karl-Franzen-Universität Graz.
Die weiteren 33 beteiligten Autoren und Autorinnen sind in der Stadtforschung in den Bereichen Geographie, Soziologie, Stadtplanung, Stadt- und Regionalentwicklung, Kultur und Kommunikation tätig.
Aufbau
Der Textband setzt sich aus 26 Beiträgen zusammen, die fünf Teilen zugeordnet sind.
- Der erste Teil ist das einleitende Kapitel.
- Der zweite Teil befasst sich mit Politiken der Raum- und Wissensproduktion in Smart Cities,
- der dritte Teil mit den Verbindungen zwischen digitalen und anderen Technologien;
- im vierten Teil geht es um digitale Governance und
- im fünften Teil um digitale Urbanisierung und soziale Transformation.
Die Deutsche Nationalbibliothek bietet Einblick in das vollständige Inhaltsverzeichnis.
Inhalte
Im ersten Teil bzw. dem ersten Kapitel wird von den Herausgeberinnen das Feld abgesteckt: Koalitionen von IT-Konzernen und Stadtregierungen bis hin zu den Bürgern erproben und praktizieren neue Formen der Vernetzung. Einerseits tragen digitale Technologien zu einer besseren Steuerung und Verwaltung einer Stadt bei, andererseits fragt sich, wie angesichts einer rasant anwachsenden Datenflut Datenschutz und Freiheit bewahrt werden können. Die Rolle der großen IT-Konzerne mit ihren Profitinteressen und ihrer Überzeugung, für alle Probleme und Krisen eine technische Lösung parat zu haben, wird hinterfragt. Die fundamentale Frage ist, was der gesellschaftliche Gewinn dieser Entwicklung ist. Die Smart City wird kritisch gesehen, weil ihre Entstehung nicht nachfrageorientiert ist, weil sie keine Antwort auf die aktuellen Probleme der Stadtbevölkerung gibt, weil sie das Verständnis von Stadtpolitik verändert hat, indem Stadtregierungen ihre Stadt wie Unternehmen führen, und weil IT-Unternehmen die Datenkontrollmacht besitzen. Dass digitale Infrastrukturen das Alltagsleben erleichtern, ist unstrittig; es werden dadurch zugleich aber auch Normen generiert. Die permanente digitale Datenerfassung führt zu unerwünschten Überwachungs- und Kontrolleffekten. Die Smart City reduziert das Städtische auf das Ökonomische.
Im zweiten Teil geht es um Politiken der Raum- und Wissensproduktion in der Smart City.
Cordula Kropp schildert, wie für die diversen städtischen Probleme technische Lösungen angestrebt werden. Man stützt sich auf das Vermögen von Algorithmen, Probleme zu lösen und effizient zu handeln. Diese Algorithmen sind jedoch selektiv, indem sie bestimmte Daten als relevant auswählen und in Handlungsvorschriften integrieren, andere nicht. Sie gestalten die Zukunft mit, indem sie Verhaltensmuster aufgrund vergangener Beobachtungen antizipieren und damit die Maßnahmenplanung beeinflussen.
Gillian Rose befasst sich mit Unternehmensvisionen der Smart City. Wie sie konstatiert, ist eine Stadt „smart“, wenn sie darauf angelegt ist, große Mengen digitaler Daten (big data) mit Hilfe in die gebaute Umwelt eingebetteter Sensoren und mit Smartphones zu sammeln.
Sybille Frank und Georg Krajesky nehmen den smarten Urbanismus unter die Lupe, der die urbanen Krankheiten nicht durch weniger Stadt sondern durch eine bessere Planung und Organisation zu heilen versucht. Urbanität sollte durch Technik unterstützt und nicht bedroht werden.
Sybille Bauriedl geht der Frage nach, wie es möglich ist, dass die Idee der Smart City mit den positiven Attributen einer sozial gerechten und umweltschonenden Stadt in Verbindung gebracht werden konnte. Sie verweist auf den Reallabor-Ansatz, mit dem digitale Technologien im Stadtraum erprobt werden, was durch Forschungsmittel unterstützt wird. Kritische Sichtweisen sind in der affirmativ ausgerichteten Smart-City-Forschung rar.
Marit Rosol, Gwendolyn Blue und Victoria Fast betrachten die Smart City aus der Perspektive Gerechtigkeit, wobei sie auf die Gerechtigkeitstheorie von Nancy Fraser zurück greifen, die Gerechtigkeit definiert hat als Gleichheit von Teilhabe am gesellschaftlichen Leben.
Christian Eichenmüller und Boris Michel werfen einen Blick auf die Smart-City-Mission in Indien, ein 2015 verkündetes politisches Programm, das vorsieht, 100 Städte in Indien in Smart Cities zu verwandeln.
Inga Gryl und Jana Pokraka befassen sich mit der Vorbereitung von Exkursionen im Rahmen der Lehramtsausbildung nach Tallinn und Riga, die sie als Pioniere der Digitalisierung bezeichnen.
Im dritten Teil geht es um die Verbindungen digitaler und anderer Technologien. Die Themen der Beiträge sind der Bevölkerungsschutz, körperliche Fitness, RFID und Smart Bodies.
Simon Runkel setzt sich kritisch mit dem Sicherheitsversprechen digitaler Technologie auseinander, was sich auf unterschiedliche Bereiche bezieht: die Cyber-Security, die öffentliche Sicherheit und der Schutz vor Natur- und Sozialkatastrophen.
Anke Strüver schildert sehr anschaulich das Erleben eines gemeinsamen „walk & talk“ mit einem Fitnessarmband entlang mehrerer mit Sensoren ausgestatteter Stationen.
Sybille Bauriedl geht auf die Funkfrequenzidentifizierung (RFID) ein. Dinge werden innerhalb eines Netzwerks identifizierbar.
Peter Lindner fragt nach den Schnittstellen zwischen dem Menschen als Smart Body und der Smart City. Der Vorstellung eines mündigen gesunden Bürgers, der über seinen Körper Bescheid weiß, steht der ausgelieferte kontrollierte reaktiv agierende dumb patient gegenüber.
Der vierte Teil ist der digitalen Governance gewidmet. Es werden spezifische Themen behandelt wie das informationelle Recht auf Stadt und die Macht von Google sowie die Smart City als eine durch Algorithmen gesteuerte Stadt am Beispiel des elektronischen Gesundheitsmonitoring.
Arne Semroth setzt dem Konzept der Smart City das von David Harvey beschriebene Konzept der „Rebel City“ entgegen.
Henning Füller beschreibt als Beispiel das in den USA erprobte Pilotprojekt ESSENCE zur Früherkennung einer Gefährdung der Gesundheit weiter Teile der Bevölkerung.
Im Beitrag von Till Straube und Bernd Belina wird die Kriminalitätsbekämpfung in Form eines predictive policing mit Hilfe der Nutzung großer Datenmengen geschildert und anhand von Fallbespielen erläutert.
Ulf Treger befasst sich mit den Voraussetzungen selbst fahrender Autos. Die dieser Technologie zugrundeliegenden Stadtpläne und Karten müssen höchst präzise und aktuell sein. Davon abgesehen haben Navigationssysteme einen Einfluss auf die Rezeption urbaner Räume.
Sören Becker stellt die Frage nach der politischen Rolle der Stadtbevölkerung in der Smart City. Die Zielvorstellung des von ihm dargestellten Berliner Open Knowledge Lab ist, einfachere Zugänge zu öffentlichen Informationen in zahlreichen Themenfeldern und Möglichkeiten zu einem selbstbestimmten Handeln zu schaffen.
Böker und Treger stellen in diese Richtung weisende Projekte einer Digital Citizenship vor.
Louisa Bäckermann setzt die Überlegungen von Shaw und Graham über Wege, zu einer Google freien Stadt zu gelangen, fort. Erforderlich sind widerständige Handlungen, aber auch eine Menge Know-how. Wunschbilder sind das Recht auf Stadt, Partizipationsmöglichkeiten und demokratische Teilhabe.
Der fünfte Teil über das Thema digitale Urbanisierung und soziale Transformation beginnt mit dem Beitrag von Nadine Marquardt über den digital assistierten Wohnalltag im Smart Home, in dem die Ausstattung mit Mensch-Maschine-Schnittstellen besonders dicht ist. Die Autorin geht speziell auf Smart Homes für ältere Menschen ein, deren Alltag durch Assistenztechnologien erleichtert und durch companion robots erträglicher gemacht werden soll.
Stefanie Baasch befasst sich mit intelligenten Stromnetzen (smart grids), die einen Klima schonenden Stromverbrauch und eine kostengünstige Stromversorgung ermöglichen sollen.
Tanja Carstensen untersucht, welche Effekte die Digitalisierung auf das Geschlechterverhältnis hat. Der propagierten Vereinbarkeit von Erwerbsarbeit und Familienaufgaben durch die digitale Technologie stellt sie die Notwendigkeit gegenüber, über die weiter bestehenden Geschlechterungleichheiten neu zu verhandeln.
Michael Lobeck und Claus-C. Wiegandt befassen sich mit den Auswirkungen des Online-Handels auf die Stadtzentren, wobei sie auf statistische Daten zurückgreifen.
Andreas Exner, Livia Cepoiu und Carla Weinzierl untersuchen in den Städten Barcelona, Berlin und Wien das Machtverhältnis zwischen Stadtregierungen und Konzernen. Die Strategien hinsichtlich einer Smart City sind in den drei Städten unterschiedlich, keine steht den technologischen Trends machtlos gegenüber.
Im abschließenden Kapitel analysieren Philipp Späth und Jörg Knieling das EU-Projekt mySMARTLife in Hamburg, wobei sie den Fokus auf die Wirkungsmechanismen von EU-Smart-City-Wettbewerben richten. Vorgesehen sind in dem Projekt smart people, d.h. Menschen, die einbezogen werden, um die Akzeptanz der Maßnahmen zu gewährleisten. Die Vergabepraxis von EU-Fördermitteln wird kritisiert.
Diskussion
In den Beiträgen des Textbands wird das Konzept der Smart City von unterschiedlichen Blickpunkten aus auf den Prüfstand gestellt. Die vier inhaltlichen Teile nach der Einleitung sind zwar nicht trennscharf, indem bestimmte Beiträge auch an anderer Stelle hätten eingeordnet werden können, sie strukturieren aber dennoch das weite Feld der Fragen, welche die digitalisierte Stadt aufwirft. Die beteiligten Autorinnen und Autoren tragen zu dem impact assessment in unterschiedlicher Weise bei. Sehr informativ und fundiert kritisch sind unter anderen die Beiträge von Kropp über die Selektivität von Algorithmen und deren Einfluss auf die Planung, von Bauriedl über die Normierungseffekte von Smart-City-Experimenten, von Lindner zur Kongruenz von Smart Bodies und Smart Cities, von Füller zum Gesundheitsmonitoring sowie von Marquardt zum digital assistierten Wohnen älterer Menschen. Die Beiträge sind kurz, bei manchen hätte man sich eine ausführlichere Darstellung gewünscht. So hätte man von Späth und Knieling gern mehr über die Forschungsförderungspraxis der EU erfahren, die durch ihren affirmativen Ansatz das Projekt Smart City voran bringt. Auf der anderen Seite werden durch die zahlreichen angesprochenen Themen auch die enormen Auswirkungen der Digitalisierung auf sämtliche Politik- und Lebensbereiche sichtbar. Es wird viel (Hintergrunds-)Wissen vermittelt. So wird sehr deutlich, was es mit Big Data auf sich hat und dass Leitvorstellungen wie das Recht auf Stadt, Partizipationsmöglichkeiten und demokratische Teilhabe durch den Einsatz neuer Technologien untergraben werden können.
Fazit
Das Buch enthält zahlreiche Beiträge, in denen die Smart City von verschiedenen Blickwinkeln aus kritisch beleuchtet wird, es liefert aktuelles Wissen über das Pro und Contra der Digitalisierung in Städten, die beteiligten Akteure und die Effekte der Digitalisierung auf die Bevölkerung. Es wird untersucht, welchen Einfluss IT-Konzerne auf die Stadtentwicklung haben und welche Implikationen Big Data hat. Darüber hinaus werden konkrete Smart-City Projekte geschildert. Das Buch, das eine Fülle an gesellschaftlich relevantem Wissen vermittelt, geht alle an. Es ist unbedingt zu empfehlen.
Rezension von
Dr. Antje Flade
Psychologin, Sachbuchautorin
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