Manfred Schnabel: Macht und Subjektivierung
Rezensiert von Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind, 02.05.2019
Manfred Schnabel: Macht und Subjektivierung. Eine Diskursanalyse am Beispiel der Demenzdebatte. Springer Science+Business Media GmbH & Co. KG (Berlin) 2018. 382 Seiten. ISBN 978-3-658-23324-2. D: 64,99 EUR, A: 66,81 EUR, CH: 67,00 sFr.
Siehe auch Replik oder Kommentar am Ende der Rezension
Thema
Demenz war bis vor einigen Jahren ausschließlich ein Syndrom für überwiegend degenerative und auch vaskuläre neuropsychiatrische Erkrankungen des Gehirns, wobei die Alzheimerdemenz als eine klassische Alterserkrankung in ihrer Begrifflichkeit und auch Symptomatik ein Bestandteil des Allgemeinwissens der Gesellschaft wurde. Das Unvermögen trotz aufwendiger Forschung in den letzten Jahrzehnten überwiegend im pharmakologischen Bereich diesen progredient verlaufenden Erkrankungen Herr zu werden, führte zu einem eklatanten Dilettantismus in der Erfassung und Bearbeitung dieser Thematik vor allem in den Arbeitsfeldern der Sozialarbeit, Pflege und Betreuung. So entstanden eine Vielzahl an Modellen und Konzepten im Umgang mit Demenzkranken, die sich nicht mit dem wissenschaftlichen Stand der Forschung begründen ließen. Und die gleichzeitig den Nachweis der Wirksamkeit schuldig blieben, wie z.B. die Validation, die Mäeutik und der Ansatz von Tom Kitwood.
Im Kontext dieser Entwicklung hin zu einer bewussten Entsagung medizinischer Erkenntnisse und damit zugleich auch Praxisferne dominiert gegenwärtig in Deutschland die Tendenz, Demenz vorrangig nicht als Krankheit sondern eher als eine besondere Hirnalterung aufzufassen. Das führte u.a. dazu, dass z.B. sozialen und psychologischen Ursachen die gleiche Wertigkeit wie den pathologischen Hirnveränderungen für die Entstehung einer Demenz eingeräumt wird (Demenz als „Phänomen“ oder „Betroffenheit“). Die hier vorliegende Publikation kann diesem neuen Trend zugeordnet werden.
Autor und Entstehungshintergrund
Manfred Schnabel, Krankenpfleger und Sozialarbeiter, arbeitet seit Dezember 2016 als Professor für das Fach Gemeindenahe Pflege an der Evangelischen Hochschule in Ludwigsburg. Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um seine Dissertation an der Pflegewissenschaftlichen Fakultät der Philosophisch-Theologischen Hochschule Vallendar (PTHV).
Aufbau und Inhalt
Das Buch besteht aus sechs Kapiteln.
In Kapitel 1 (Zum Gegenstand: Dimensionen der Demenz, Seite 11 - 36) expliziert der Autor seine Vorstellungen und Einstellungen zur Demenz zu Beginn anhand des Amyloid-Konzeptes als zentralem Erklärungsansatz der Alzheimerdemenz. Hierbei weist er kritisch auf die Abweichungen zwischen klinischer Symptomatik und neuropathologischem Befund (Histologie) hin, wobei er u.a. Bezug auf die bekannte „Nonnenstudie“ von David Snowden nimmt. Es folgen kritische Ausführungen zu den Verfahren der „Biomarker-Diagnostik“ als Zugang zu einer präklinischen Erfassung der Erkrankung, der Diskussion über die „kognitive Reserve“ und der „leichten kognitiven Störung“ als ein potentielles Frühstadium der Alzheimerdemenz. Die Unklarheiten und teilweise auch Widersprüche veranlassen den Autor zu der Einschätzung, dass die Alzheimerdemenz eher als ein „Mythos“ (Whitehouse) als eine Krankheit im engeren Sinne aufgefasst werden kann. In seiner Argumentation geht er noch eine Stufe weiter, indem er annimmt, dass das Entstehen der Demenzthematik wohl auch mit dem demografischen Wandel (zunehmende gesellschaftliche Alterung) und den sozioökonomischen und sozialpolitischen Prozessen der letzten Dekaden des 20. Jahrhunderts in Verbindung zu bringen sind, ohne jedoch diese Zusammenhänge und Thesen zu belegen.
Kapitel 2 (Theoretische Grundlegung: Subjekt, Macht, Diskurs, Seite 37 - 102) enthält die Explikation zentraler Begriffe seiner Abhandlung aus philosophischen Themenkreisen. Im Mittelpunkt stehen u.a. die Gedanken der französischen Philosophen Michel Foucault und Jaques Derrida, die ideengeschichtlich als Vertreter des Strukturalismus und Poststrukturalismus bezeichnet werden. Das zentrale gedankliche Konstrukt dieser geisteswissenschaftlichen Welterfassung besteht aus der Kategorie Macht, die alle gesellschaftlichen Bezüge bis hin zur Sprache zu durchdringen scheint und die es kritisch zu reflektieren gilt.
In Kapitel 3 (Poststrukturalistischen Perspektiven in den Pflegewissenschaft, Seite 103 - 119) wird der Versuch unternommen, diese philosophische Begrifflichkeit und die damit verbundenen gedanklichen Implikationen mit dem Schwerpunkt Macht auf die Ebene der Pflegewissenschaft mit dem Aspekt Ökonomisierung zu transferieren. Bezüglich der Demenzthematik wird u.a. anhand der Kritik einiger Fachbeiträge aufgezeigt, dass das Instrumentarium Sprache („Demenz als bedrückendes Leiden“) und auch das Instrumentarium „unreflektierte Klassifizierungen“ wie „Demenz als Krankheit“ Wirkkraft im Diskurs über Macht und Subjekt in Anlehnung an Foucault zeigen.
Kapitel 4 (Diskurse analysieren: Methodologie und Methode, Seite 121 - 238) beinhaltet zu Beginn die Darstellung wesentlicher Teile der Methodologie und der damit zusammenhängenden Methoden dieser Abhandlung, die im Kern als eine Diskursanalyse verstanden werden soll. Neben den Ansätzen von Foucault über Macht, Subjekt und weitere Zugangswege erweitert der Autor seinen theoretischen Bezugsrahmen um den Ansatz einer so genannten Hegemonie-Theorie in Anlehnung an Ernesto Laclau und Chantal Mouffe, die dieses poststrukturalistisches Ideenkonzept entwickelten. Im Folgenden wird dann u.a. eine Differenzierung der Diskursarten bezüglich des Themenfeldes Demenz vorgenommen: naturwissenschaftlicher Diskurs, anthropologischer Diskurs und gesellschaftspolitischer Diskurs.
In Kapitel 5 (Ergebnisse: Drei Diskurse, Seite 239 - 280) werden die Unterscheidungskriterien dieser unterschiedlichen Diskursebenen konkret anhand verschiedener Erfassungsmodalitäten aufgelistet. So ist z.B. im naturwissenschaftlichen Diskurs die Demenz eine Krankheit und an ein Einzelschicksal gebunden, während sie im gesellschaftlichen Diskurs zusätzlich mit dem Alter verbunden ist und ein kollektives Risiko darstellt. Im anthropologischen Diskurs bedeutet Demenz neben Krankheit und Alter auch zugleich eine conditio humana. Der Problembezug im naturwissenschaftlichen Diskurs ist der kranke Körper, im gesellschaftlichen Diskurs die Gesellschaft und im anthropologischen Diskurs das „falsche Leben“.
In Kapitel 6 (Diskussion der Ergebnisse, Seite 281 - 317) werden die bisherigen Diskurse und Analysen nochmals einem Reflexionsprozess unterzogen, wobei zu Beginn die Machtthematik mit ihren unterschiedlichen Seinsmodalitäten im Fokus steht. Des Weiteren werden die folgende Themenfelder erörtert: Überlegungen zu den methodischen Fragen der Abhandlung, der Beitrag zur pflegewissenschaftlichen Diskursanalyse, der Beitrag zu einer kritischen Pflegewissenschaft und eine abschließende Diskussion des Forschungsdesigns.
Diskussion und Fazit
Die vorliegende Studie überrascht und verwirrt zugleich, wird doch eine geisteswissenschaftliche Reflexion in Form eines Diskurses über ein biologisch-medizinisches Themenfeld vorgestellt. Das führt zu einigen kritischen Fragestellungen. Zum Beispiel, ob der Gegenstandsbereich Demenz vom Autor angemessen dargestellt wird, um ihn anschließend auf der Metaebene Philosophie gedanklich in seiner Komplexität durchdringen und interpretieren zu können.
Der Autor bleibt den Nachweis eines ausreichenden Wissensstandes über das Krankheitssyndrom Demenz schuldig, wenn er z.B. Amyloid-Plaques und Taufibrillen in ihrer Lokalität verwechselt (Seite 11). Er konstruiert Widersprüche und Wissenslücken z.B. anhand des Amyolid-Kaskaden-Ansatzes, der gegenwärtig nicht im Zentrum der wissenschaftlichen Diskussion steht. Auch blendet er vollständig den pathologischen Abbau mit den neurogenerativen und zugleich auch verhaltensbezogenen Symptomen aus: Retrogenese, systematische Ausbreitung des Absterbens der Nervenzellen in Gestalt der Neurofibrillen, siehe Reisberg- und Braak-Stadien. Bei der Alzheimerdemenz handelt es sich letztlich um eine „sekundäre Tautologie“ (1).
Der Autor vermag nicht zu explizieren, warum ein empirisch und damit zugleich ein naturwissenschaftliches Themenfeld einem so genannten poststrukturalistischen Reflexionsprozess unterzogen werden kann. Es fehlen die hierfür erforderlichen Ableitungs- und Vermittlungsschritte, um die Ebene eines wissenschaftstheoretischen Erklärungskontextes stringent und plausibel entwickeln zu können. So bleibt nur der Vorwurf an den Autor, willkürlich und dem Gegenstand nicht angemessen vorzugehen. Eine Erfassung und Durchdringung des Gegenstandes erfordert jedoch ein Mindestmaß an Adäquatheit der Begriffe, Methoden und Analyseschritte.
Es bleibt das Fazit zu ziehen, dass aufgrund fehlenden Fachwissens und der Thematik nicht angemessener Reflexionsmodalitäten es in der vorliegenden Studie nicht gelungen ist, das Krankheitssyndrom Demenz mit all seinen sozialen und persönlichen Leidenskomponenten in seiner Komplexität zu erfassen.
Literatur
Jessen, F. (Hrsg.) (2018): Handbuch Alzheimer-Krankheit. Grundlagen – Diagnostik – Therapie – Versorgung – Prävention. Walter de Gruyter (Berlin) www.socialnet.de/rezensionen/24698.php
Rezension von
Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind
Gerontologische Beratung Haan
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Es gibt 225 Rezensionen von Sven Lind.
Kommentare
Anmerkung der Redaktion: Am 25.6.2019 wurde die folgende Replik veröffentlicht.
Einige Bemerkungen zur Rezension von Herrn Dr. Lind aus der Perspektive der Betroffenen von Hermann Brandenburg & Manfred Schnabel
Einleitung
Reaktionen auf Rezensionen sind eine ungewöhnliche Gattung. In diesem Fall liegt eine Klarstellung nahe. Vor allem, weil Herr Dr. Lind ein Betroffener ist. Seine Veröffentlichungen und die von ihm vertretende Position waren Gegenstand der von ihm rezensierten Arbeit von Manfred Schnabel. Die Frage, ob der Adressat einer bestimmten Kritik eine neutrale, abgewogene und „objektive“ Rezension verfassen kann, werden wir noch behandeln. Dass unsere Replik auf seine Rezension ihrerseits nicht „objektiv“ ist, gestehen wir gerne ein. Ziel ist dennoch der Dialog. Wie unten noch ausgeführt wird, ist die Rezension von Herrn Dr. Lind Ausdruck einer bestimmten Position, nämlich einer biomedizinisch begründeten Haltung gegenüber der Demenz. Diese rückt die Pathologie (und damit die Therapie) in den Vordergrund. Sie muss ernst genommen werden, weil sie im Diskurs über die Demenz führend ist und damit hegemonial. Demenz wird in dieser Sichtweise unter dem Aspekt der Machbarkeit behandelt. Es geht vor allem darum, Demenz zu bewältigen, zu regulieren und zu managen. Dieser Anspruch wird auch immer wieder in der Pflegepraxis formuliert. Vieles von dem, was sich an Interventionen in der Praxis von Pflege und Medizin durchgesetzt hat, ist in seiner Wirksamkeit aber umstritten und durch wissenschaftliche Forschung nicht belegt. Aktuell wird deshalb die Frage gestellt, ob die Grenzen von Interventionen nicht nüchtern zur Kenntnis genommen werden müssen und die Demenz als eine nicht therapierbare Alterserscheinung zu akzeptieren sei. Demenz wird in dieser Perspektive als Teil der Fragmentarität und Endlichkeit des Menschen betrachtet. Anstatt sich in der (bis heute erfolglosen) Suche nach einer medizinischen Lösung zu erschöpfen, sollte die Gesellschaft ihre Mittel stattdessen in Pflege, Betreuung und Partizipation demenzbetroffener Menschen investieren. Wie heftig diese Position mitunter von Vertretern des „biomedizinischen“ Paradigmas zurückgewiesen wird, dokumentiert letztlich auch Sven Linds Rezension. Es ist genau diese Debatte, für die sich Manfred Schnabels Diskursanalyse interessiert. In seiner mit summa cum laude qualifizierten Dissertation blickt er quasi von einer Meta-Ebene auf die einzelnen Positionen und versucht überhaupt erst einmal zu verstehen, in welcher Art und Weise über Demenz gesprochen wird, welche Professionen hier Alleinvertretungsrechte anmahnen und welche gesellschaftlichen Ressourcen dafür eingefordert werden. Es geht in der besprochenen Arbeit nicht darum, für die eine und gegen eine andere Position zu votieren. Allerdings ist mit der Kontrastierung unterschiedlicher Positionen indirekt eine Absage an den Absolutheitsanspruch einer einzelnen Perspektive auf die Demenz verbunden.
Worum geht es in der rezensierten Publikation?
Thema des Buches ist die Konstruktion sozialer Wirklichkeiten im Diskurs. Es untersucht aus einer sozial- und pflegewissenschaftlichen Perspektive, mit welchen Sprachformen Phänomene in unterschiedlichen Diskursen jeweils einer eigenen Logik folgend konstituiert und als hegemonial gesetzt werden. Dies wird am Beispiel der aktuellen Debatte um die Deutung der Demenz exemplarisch aufgezeigt. Zu diesem Zweck wird eine Reihe von Texten von wichtigen und/oder besonders auffälligen Sprechern der Debatte einer Analyse unterzogen. Ziel der Studie ist die Identifikation übergreifender Muster der Wirklichkeitskonstitution. Die Studie verfolgt damit eine machtkritische Intention. Ausgehend von Foucaults Machtanalytik und Laclau/Mouffes Diskursbegriff werden die ausgewählten Texte auf hegemoniale Strategien, einfach gesagt auf Muster des Ein- und Ausschließens von Subjekten, Konzepten, Ideen etc., untersucht. Dabei wird angenommen, dass die Rezeption unterschiedlicher Konzepte zur Deutung der Demenz, seien sie „biomedizinisch“ oder „zivilgesellschaftlich-emanzipatorisch“, in weitestem Sinne politisch intendiert ist.
Zu Sven Linds Rezension
Sven Lind bespricht das Buch wie eine Abhandlung über Demenz. Mit dieser Engführung wird er der Arbeit nicht gerecht. Sie nimmt die aktuelle Auseinandersetzung zur Deutung der Demenz zwar zum Anlass, die Machtwirkungen von Diskursen zu analysieren; im Kern geht es aber um die Entwicklung und Erprobung eines in den Pflegewissenschaften neuen Forschungsdesigns zur Analyse von Machtstrukturen, exemplarisch dargestellt an einem aktuellen und relevanten Thema. Die theoretische Herleitung, Beschreibung, Ergebnisdarstellung und kritische Besprechung der gewählten Methode umfassen deshalb auch mehr als 90% der Arbeit. Sven Linds Rezension zielt ausschließlich auf den Teil zur Demenz und verfehlt damit das Thema der Abhandlung weitgehend. Sven Lind rückt die Arbeit in einen Kreis von Schriften, die Demenz als „Hirnalterung“ (und nicht etwa als Krankheit) bezeichnen. Wer seine eigenen Schriften kennt weiß, dass dies als Kritik gemeint ist. Diese Zuordnung ist ebenfalls nicht zutreffend. Die Arbeit macht keine Aussage zum Wesen der Demenz. Sie kritisiert weder einseitig das biomedizinische Paradigma noch votiert sie für eine der alternativen Deutung der Demenz. Deutlich abstrakter werden unterschiedliche Aussagen zum Wesen der Demenz (Demenz als Krankheit, Demenz als gesellschaftliche Herausforderung, Demenz als Teil des menschlichen Schicksals etc.) aus dem Textkorpus gewonnen und bzgl. ihrer impliziten Annahmen, Wertvorstellungen oder Menschenbilder analysiert. Wie oben ausgeführt geht es um die Beschreibung von diskursiven Mustern bei der Produktion von Aussagen. Zutreffend ist allerdings, dass damit implizit von der Existenz unterschiedlicher „Wahrheiten“ zum „Phänomen“ Demenz ausgegangen wird. Die (auch von Sven Lind vertretene) biomedizinische Position wird als ein Modus der Wirklichkeitskonstruktion neben anderen behandelt. Sven Lind drückt weiterhin seine Irritation darüber aus, dass ein „biologisch-medizinisches“ Thema wie Demenz aus einer geisteswissenschaftlichen Perspektive heraus bearbeitet wird. Die genaue Darstellung der biologischen Aspekte der Demenz erscheint ihm als Voraussetzung für eine philosophische Reflexion des Themas. Damit wird wohl die Vorstellung zum Ausdruck gebracht, dass die biomedizinische Perspektive Vorrang genießt und sich eine geisteswissenschaftliche Beschäftigung mit dem Thema stets an den medizinischen Implikationen abzuarbeiten habe. Eine geisteswissenschaftliche Kritik an der medizinischen Perspektive als solche scheint für den Rezensenten außerhalb des Möglichen zu sein. Er übersieht damit den weit über den engeren Bereich der Medizin hinausgehenden Einfluss ihrer Perspektive auf die gesellschaftliche und individuelle Wahrnehmung der Demenz. Die Einordnung eines körperlichen oder geistigen Zustandes als krank oder gesund, als normgerecht oder abweichend ist prägend für den Umgang mit dem Phänomen auf der Ebene politischer Entscheidungen ebenso wie in der Wahrnehmung der betroffenen Individuen. Aufgrund dieser Normierungsmacht medizinischer Diagnosen hat die Medizinkritik in der Sozialwissenschaft und Sozialphilosophie eine lange Tradition. Notwendig ist diese kritische Außenperspektive vor allem deshalb, weil die Medizin, ihrer besonderen Stellung zum Trotz, wie jede andere Wissenschaft fehlbar ist. Auch die biomedizinischen Wissenschaften stehen nicht außerhalb eines gegebenen kulturellen Kontextes und müssen sich eine kritische Durchleuchtung ihrer impliziten Annahmen gefallen lassen. Abschließend kommen wir zurück auf die Frage nach der Objektivität des Urteils von Sven Lind. Er selbst weist in seinen Schriften immer wieder darauf hin, dass die Demenz zum einen ausschließlich biomedizinisch zu betrachten sei und das zum anderen die Neurowissenschaften (denen er sich selbst zuordnet) als Leitwissenschaften im Umgang mit allen diesbezüglichen Fragen akzeptiert werden müssten. Davon abweichende, z.B. aus der Perspektive der Sozial- und Pflegewissenschaften oder der humanistischen Psychologie vertretende Meinungen zur Demenz werden von ihm vehement zurückgewiesen (vgl. Lind 2004: 41; Lind 2010: 671; vgl. auch Müller-Hergl 2011). Er ist in der Frage nach der korrekten Deutung der Demenz also keineswegs neutral, sondern vertritt im Gegenteil selbst eine kompromisslose biomedizinische Perspektive. Ob Sven Lind daher geeignet ist, ein Buch zu besprechen, dass die von ihm vertretene Perspektive mit anderen Deutungen kontrastiert und damit relativiert, ist fraglich. Dies gilt umso mehr, als in der Studie auch eine seiner Schriften analysiert wurde. Sven Linds Aussagen können wegen ihrer eindeutigen Positionierung für das biomedizinische Paradigma und ihrer rigorosen Ausgrenzung anderer Meinungen als besonders geeignet für die Analyse hegemonialer Strukturen in Texten zur Demenz betrachtet werden. Darum wird er in der Untersuchung häufig zitiert.
Zum Schluss
Wie eingangs dargestellt, versteht sich diese ausführliche Replik auch als Beitrag zu einer konstruktiven Debatte über den Umgang mit einem Phänomen von außerordentlicher gesellschaftlicher Bedeutung. Angesichts der Größe der Herausforderung erscheint es kontraproduktiv, einen einzelnen Zugang zum Thema absolut zu setzen, gegen Kritik zu immunisieren und Beiträge anderer Disziplinen zu marginalisieren. Dies umso mehr, als auch die Biomedizin die wichtigsten Fragen zur Alzheimer Demenz, der häufigsten Demenzform, bis heute nicht klären konnte (Müller et al 2017: 89). Die Zunahme demenzbetroffener Menschen ist zudem vor allem einen soziale Frage, die wesentlich die Sozial- und Pflegewissenschaften adressiert. Benötigt wird daher ein interdisziplinärer Dialog. Die Anerkennung der Bedeutungsoffenheit der Demenz oder zumindest die Akzeptanz anderer Positionen und Zugänge ist aus unserer Sicht ein notwendiger erster Schritt dazu. Die intensivierte Suche nach Wegen der interdisziplinären Kooperation erscheint geboten. Eine reflexartige Abwehrhaltung, wie wir sie an dieser Stelle Sven Linds Rezension unterstellen, halten wir dagegen für wenig konstruktiv.
Literatur
Lind 2004: Pflege und Betreuung Demenzkranker. PflegeImpuls 1+2, 35-42 Lind 2010: Strategien einer biografisch orientierten Scheinweltgestaltung: Stress und Überforderung vermeiden. Pflegezeitschrift 63(11), 668-671
Müller-Hergl 2011: Die Welt des Herrn Lind besteht aus Fehlschlüssen. Pflegezeitschrift 64 (1), 6-8
Müller; Schnicker; Müller 2017: Präventionsstrategien gegen Demenz. Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie, 50 (Sonderheft 2), 89-95.
Autoren
Prof. Dr. Hermann Brandenburg, Philosophisch-Theologische Hochschule Vallendar, Kontakt: hbrandenburg@pthv.de
Prof. Dr. Manfred Schnabel, Evangelische Hochschule Ludwigsburg, Kontakt: m.schnabel@eh-ludwigsburg.de
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Zitiervorschlag
Sven Lind. Rezension vom 02.05.2019 zu:
Manfred Schnabel: Macht und Subjektivierung. Eine Diskursanalyse am Beispiel der Demenzdebatte. Springer Science+Business Media GmbH & Co. KG
(Berlin) 2018.
ISBN 978-3-658-23324-2.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/25129.php, Datum des Zugriffs 17.09.2024.
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