Elmar Brähler, Oliver Decker: Flucht ins Autoritäre
Rezensiert von Prof. Dr. Wolfgang Frindte, 06.12.2018

Elmar Brähler, Oliver Decker: Flucht ins Autoritäre. Rechtsextreme Dynamiken in der Mitte der Gesellschaft. Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG (Gießen) 2018. 300 Seiten. ISBN 978-3-8379-2820-4. 19,90 EUR.
Thema
„Wer treten will, muss sich treten lassen“, so Diederich Heßling, der Hauptheld im Roman „Der Untertan“ von Heinrich Mann. Kurt Tucholsky besprach den Roman 1919 in der „Weltbühne“ und bezeichnete das Buch als das „Herbarium des deutschen Mannes“. „Denn“, so Tucholsky, „diese beiden Charaktereigenschaften sind an Heßling, sind am Deutschen auf das subtilste ausgebildet: sklavisches Unterordnungsgefühl und sklavisches Herrschaftsgelüst. Er braucht Gewalten, Gewalten, denen er sich beugt wie der Naturmensch vor dem Gewitter, Gewalten, die er selbst zu erringen sucht, um andere zu ducken“ (Tucholsky, 1919, hier zit. n. Tucholsky, 1972, S. 409).
Heinrich Mann erzählt die Sozialisation und Gefährlichkeit eines Sozialcharakters, der einige Jahre später von Erich Fromm, Max Horkheimer, Wilhelm Reich und dann grundlegend in „The Authoritarian Personality“ (Adorno, Frenkel-Brunswick, Levinson & Sanford, 1950) wissenschaftlich erklärt wurde und während des Nationalsozialismus schreckliche regimetragende Wirklichkeit werden sollte – der Sozialcharakter des Autoritären.
Noch immer geht es um – das autoritäre Gespenst. Es geistert durch die wissenschaftlichen und pseudowissenschaftlichen Landschaften, ändert hin und wieder seine Erscheinung und dient als Folie, um Erklärungen über Vorurteilsstrukturen und deren Dynamik zu entwickeln.
Dem von Adorno, Frenkel-Brunswik, Levinson und Sanford (1950) herausgegebenen Band „The Authoritarian Personality“ (TAP) folgten bekanntlich mehrere tausend theoretische, methodische und empirische Arbeiten, in denen entweder das ursprüngliche Konzept der Gruppe um Adorno aufgegriffen und theoretisch sowie methodisch rekonzeptualisiert oder einer scharfen methodischen und theoretischen Kritik unterworfen wurde.
Ein innovativer Schritt in der Autoritarismusforschung gelang in den 1980er Jahren. Die Veröffentlichung von Robert Altemeyers Buch „Right-wing Authoritarianism“ (1981) gilt dabei als Zäsur und Beginn der modernen Autoritarismusforschung.
Altemeyer reduzierte das ursprüngliche Konzept der TAP auf drei Subdimensionen:
- Konventionalismus (ein hoher Grad des Festhaltens an sozialen Konventionen, die als von der Gesellschaft und den etablierten Autoritäten geteilt wahrgenommen werden),
- autoritäre Unterwürfigkeit (ein hohes Maß an Unterordnung unter Autoritäten, die als rechtmäßig in der Gesellschaft wahrgenommen werden) und
- autoritäre Aggression (gegen Personen oder Gruppen gerichtete allgemeine Aggressivität, die als von den etablierten Autoritäten als sanktioniert wahrgenommen wird).
Right-Wing-Authoritarianism ist nach Altemeyer eine individuelle Differenzvariable, nach der Menschen sich mehr oder weniger Autoritäten unterwerfen, gegen Außenseiter vorgehen und sich beständig konventionellen Normen anpassen (Altemeyer, 1996). In der modernen sozialpsychologischen Literatur werden autoritäre Überzeugungen auch als zeitlich sehr stabile und generalisierte Einstellungen oder ideologische Überzeugungen bezeichnet (Cohrs & Stelzl, 2010; Six, 1996; Duckitt, 2001)
Nun, im Jahre 2018, scheint es einen neuen Schub in der Autoritarismusforschung zu geben. Zeitgleich mit dem vorliegenden Band von Oliver Decker und Elmar Brähler publiziert Wilhelm Heitmeyer ein Buch mit dem Titel „Autoritäre Versuchungen. Signaturen der Bedrohung I“ (Heitmeyer, 2018). Christian Fuchs (2018), Kommunikationswissenschaftler an der Universität von Westminster, betitelt sein Buch „Digitale Demagogie. Autoritärer Kapitalismus in Zeiten von Trump und Twitter“. In den USA erscheinen Neu- bzw. Nachauflagen von Büchern mit Titeln, wie „The Terror of Neoliberalism. Authoritarianism and the Eclipse of Democracy“ (Giroux, 2018), „False Prophets: Studies on Authoritarianism“ (Löwenthal [1], 2017) oder „Saving the Sacred Sea: The Power of Civil Society in an Age of Authoritarianism and Globalization“ (Brown, 2018).
Sicher, sozialwissenschaftliche Publikationen zum Thema „Autoritarismus“ haben seit Jahren national wie international Konjunktur. Und doch liegt die Frage nahe: Warum das anhaltende Interesse an einem scheinbar alten Konzept? Oliver Decker und Elmar Brähler geben gleich im Vorwort eine Antwort: „Die Gesellschaft wird von einer autoritären Dynamik beherrscht, die das Einverständnis vieler Bürgerinnen und Bürger hat. Und diese Dynamik, so unsere These, bringt die rechtsextremen Einstellungen hervor“ (S. 10).
Herausgeber und Autor/innen
- Prof. Dr. Elmar Brähler war bis zu seiner Emeritierung im Jahre 2013 Leiter der Abteilung für Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie an der Universität Leipzig und ist gegenwärtig Gastwissenschaftler an der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Universität Mainz. Dort leitet er das BMBF-Projekt „DDR-Vergangenheit und psychische Gesundheit…“.
- PD Dr. Oliver Decker leitet den Forschungsbereich „Sozialer und medizinischer Wandel“ an der Medizinischen Fakultät und ist Direktor des Kompetenzzentrums für Rechtsextremismus- und Demokratieforschung an der Universität Leipzig.
- Prof. Dr. Dirk Baier ist Leiter des Instituts für Delinquenz und Kriminalprävention der Züricher Hochschule für Angewandte Wissenschaften.
- Marie Christine Bergmann arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen.
- Barbara Handke ist Lektorin für geistes- und sozialwissenschaftliche Texte und Dozentin für wissenschaftliches Schreiben.
- Dr. Johannes Kiess arbeitet derzeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Siegen im Rahmen des EU-Projekts „EURYKA – Reinventing Democracy in Europe: Youth Doing Politics in Times of Increasing Inequalities“.
- Dr. Sören Kliem ist Leiter der Forschungseinheit Dunkelfeld Monitoring am Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen.
- Felix Korsch arbeitet als Fachjournalist und Berater im NSU-Untersuchungsausschuss des Sächsischen Landtages.
- Dr. Dani Kranz ist Direktorin von Two Foxes Consulting, Senior Researcher im Israelprojekt an der Bergischen Universität Wuppertal sowie Wissenschaftlerin am Zelikovitz Center für Jewish Studies an der Carleton Universität in Ottawa.
- Yvonne Krieg ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen und Doktorandin an der Freien Universität zu Berlin.
- Dr. Dominic Kudlacek ist Sozialwissenschaftler und Kriminologe und stellvertretendes Direktor des Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen.
- Prof. Dr. Gert Pickel ist Professor für Religions- und Kirchensoziologie an der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig.
- Daniel Poensgen ist Mitarbeiter in der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus – Bundesweite Koordinierung (RIAS-BK) und promoviert zurzeit im Bereich der Antisemitismusforschung.
- Julia Schuler ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Abteilung für Medizinische Psychologie und Soziologie der Universität Leipzig.
- Benjamin Steinitz gründete und leitet die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus – Bundesweite Koordinierung (RIAS-BK).
- Dr. Alexander Yendell ist PostDoc in der Abteilung für Medizinische Psychologie und Soziologie der Universität Leipzig.
Aufbau
Seit 2002 beobachten Oliver Decker und Elmar Brähler mit ihren Mitarbeiter/innen die rechtsextremen und autoritären Entwicklungen in Deutschland. Alle zwei Jahre wurden bisher die Ergebnisse der repräsentativen Befragungen publiziert. Bis 2016 erschienen sie unter dem Label „Leipziger Mitte-Studien“ und wurden von der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) gefördert. Im Jahre 2016 vergab die FES die „Mitte-Studien“ an das Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung in Bielefeld.
Das Leipziger Projekt heißt nun Leipziger Autoritarismus-Studie und wird von der Otto-Brenner-Stiftung und der Heinrich-Böll-Stiftung unterstützt. Die Namensänderung des Leipziger Projekts hat also auch einen Marketing-Hintergrund. Aber nicht nur. Im Vorwort des vorliegenden Buches räumen die Herausgeber ein, dass der „Mitte“-Begriff zwar seine analytische Kraft besaß, als es darum ging, die antidemokratischen Potenziale in allen Teilen der Gesellschaft sichtbar zu machen. Um die Polarisierung und Radikalisierung in der heutigen Gesellschaft analysieren zu können, reiche der Mitte-Begriff aber nicht mehr aus. Die Dialektik zwischen gesellschaftlicher Polarisierung und individueller Radikalisierung lasse sich durch den Rückgriff auf das Autoritarismus-Konzept schlüssiger erklären. „Autoritarismus ist jene Form von Herrschaft, die neben Freiwilligkeit auch einen eigenen Antrieb zur Unterwerfung voraussetzt“ (S. 10).
Der vorliegende Band enthält neben den Vorworten der beteiligten Stiftungen und der Herausgeber zehn Beiträge, in denen die theoretischen Grundlagen der Leipziger Mitte-Studien, das methodische Vorgehen, die empirischen Befunde und zeitdiagnostische Analysen zum Stand der Zivilgesellschaft vorgestellt werden. Die Deutsche Nationalbibliothek bietet Einblick in das vollständige Inhaltsverzeichnis.
Im ersten Beitrag („Flucht ins Autoritäre“) setzt sich Oliver Decker noch einmal mit dem Mitte-Begriff auseinander, macht auf die Hilflosigkeit im Umgang mit dem Populismus-Begriff aufmerksam und entwickelt – unter Rückgriff auf die Altmeister der Autoritarismusforschung – die theoretischen Grundlagen der „Leipziger Mitte-Studien“. Autoritarismus hat nach Auffassung der Leipziger Forscher/innen eine individuelle Seite, die sie das autoritäre Syndrom nennen, und eine gesellschaftliche Seite, die als autoritäre Dynamik bezeichnet wird. Zum autoritären (individuellen) Syndrom gehören die von Robert Altemeyer (siehe oben) übernommenen Facetten der autoritären Aggression, der autoritären Unterwürfigkeit und des Konventionalismus. Auch Verschwörungsmentalitäten werden zum autoritären Syndrom gezählt. Parallelen zur Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit (GMF) der Bielefelder Forscher/innen um Wilhelm Heitmeyer sind unverkennbar. Oliver Decker meint allerdings, dass sich das GMF-Syndrom nur auf die autoritäre Aggression beziehe und das autoritäre Syndrom aus Sicht der Leipziger vielschichtiger sei (S. 53). Ganz überzeugend schien dem Rezensenten diese Argumentation aber nicht.
Viel wichtiger ist ihm, dem Rezensenten, indes die schon im Vorwort angesprochene und von Oliver Decker in diesem ersten Beitrag entwickelte These, dass die gesellschaftlich entfaltete autoritäre Dynamik (und die damit einhergehende Forderung nach Unterordnung der Wünsche und Lebensziele des Einzelnen) nicht zwangsläufig zur Entwicklung individueller autoritärer Syndrome führen muss (S. 55). Es handelt sich eben nicht um eine lineare Kausalität, sondern um dialektische Beziehungen, die schlicht und ergreifend auch dazu führen können, dass sich Menschen freiwillig den autoritären Dynamiken unterwerfen und populistischen Agitatoren aus eigenem (bewussten und/oder randbewussten) Antrieb folgen. Das ist das zentrale Thema des vorliegenden Bandes: Warum sind Menschen bereit, „ihre eigenen Wünsche und Erwartungen an ihr eigenes Leben zugunsten des Allgemeinen fahren zu lassen“ (S. 57).
Im zweiten Beitrag („Die Leipziger Autoritarismus-Studie 2018: Methode, Ergebnisse und Langzeitverlauf“) stellen Oliver Decker, Johannes Kiess, Julia Schuler, Barbara Handke und Elmar Brähler die Ergebnisse über die Verbreitung und Ausprägung rechtsextremer Einstellungen in Deutschland vor. Derartige Einstellungen werden in der Leipziger Autoritarismus-Studie, wie auch in den früheren Leipziger Studien seit 2002, durch sechs Dimensionen erfasst: Befürwortung einer rechtsautoritären Diktatur, Chauvinismus, Ausländerfeindlichkeit, Antisemitismus, Sozialdarwinismus und Verharmlosung des Nationalsozialismus. Diese Dimensionen beruhen auf einer sogenannten Konsensdefinition (angeregt von Oskar Niedermeyer und Richard Stöss) aus den Jahren 2001 und 2004 (Kreis, 2007). Man kann diese Definition und die Dimensionen reichlich kritisieren. Es handelt sich um eine Definition durch Aufzählung, ohne dass ein Kriterium angegeben wird, ob die Aufzählung vollzählig, hinreichend oder nur beispielhaft erfolgt. Auch ein übergeordneter Referenzrahmen für diese sechs (und nicht z.B. acht oder sechsundsechzig) Dimensionen lässt sich nicht entdecken. Ebenso lässt sich bezweifeln, ob und inwieweit die sechs Dimensionen und ihre Operationalisierungen trennscharf genug sind. Diese und andere kritischen Einwände rücken allerdings in den Hintergrund, wenn man bereit ist, die Längsschnittartigkeit der Leipziger Studie zu würdigen. Hier liegen nämlich die eigentlichen Vorteile. Derartige Studien gehören zu den zentralen Instrumenten der empirischen Sozialforschung. Wichtige Voraussetzungen für solche Studien sind eben die Methodenkonstanz in der Erhebung und Auswertung von Daten über die Zeit. Beides wird in den Leipziger Studien seit 2002 garantiert.
In der Leipziger Autoritarismus-Studie 2018 wurden 2.416 erwachsene Personen im Mai und Juni 2018 befragt. Die Befunde zeigen u.a., dass die Befürwortung einer rechtsautoritären Diktatur im Osten Deutschlands signifikant ausgeprägter ist (mit 7 Prozent) als in Westdeutschland (2,7 Prozent). Auch die Ausländerfeindlichkeit weist im Osten mit 30,9 Prozent Zustimmung signifikant höhere Werte als im Westen (22,3 Prozent) auf. Das Ausmaß antisemitischer Einstellungen unterscheidet sich im Ost-West-Vergleich nicht statistisch auffällig (5,2 Prozent im Osten und 4,2 Prozent im Westen – im Vergleich zu früheren Jahren relativ niedrige Werte). Männer befürworten eine rechtsautoritäre Diktatur eher als Frauen und Männer sind ausländerfeindlicher und antisemitischer eingestellt als Frauen. AfD-Wähler/innen weisen im Vergleich mit Wähler/innen der anderen im Bundestag vertretenen Parteien die höchsten Werte auf den o.g. sechs Dimensionen auf, mit denen rechtsextreme Einstellungen gemessen werden. Und eine Fülle weiterer interessanter, aber auch erschreckender Befunde finden Leserinnen und Leser in diesem zweiten Beitrag.
Eine methodische Kritik kann sich der Rezensent nicht verkneifen: Die Befragten beantworten die jeweiligen Aussagen, mit denen die Facetten rechtsextremer Einstellungen erfasst werden, auf einer fünfstufigen Skala. Die Autor/innen der Leipziger Autoritarismus-Studie 2018 interpretieren die Zustimmungen auf den Skalenwerten 4 („stimme überwiegend zu“) und 5 („stimme voll und ganz zu“) als manifeste Zustimmung; die Zustimmung auf dem Skalenwert 3 („stimme teils zu, teils nicht zu“) werden als latente Zustimmung gewertet. Diese Interpretationen lesen sich zwar nachvollziehbar, sind aber inhaltlich betrachtet nicht unproblematisch. Am Beispiel sei das verdeutlicht: All jene, die antisemitische Aussagen auf den Skalenwerte 4 und 5 beantworten, werden von den Autor/innen als manifest antisemitisch eingestuft. Die Befragten, die mit „stimme teils zu, teils nicht zu“) (Skalenwert 3) antworten, werden als latent antisemitisch eingestuft. Das sind bundesweit etwa 10 Prozent, in Ostdeutschland sogar teilweise 30 Prozent (S. 110). Das mag sogar stimmen. Die Differenz zwischen manifestem und latentem Antisemitismus über das Zustimmungsausmaß zu operationalisieren, ist allerdings bedenklich. Die Unterschiede zwischen beiden antisemitischen Facetten sind doch tatsächlich von inhaltlicher Beschaffenheit: Zum manifesten oder klassischen Antisemitismus gehören offen inszenierte und auf traditionelle Vorurteile zurückgreifende Diffamierungen von Juden als Juden durch Nichtjuden. Mit dem Konstrukt des Latenten Antisemitismus dagegen wird in der Antisemitismusforschung und in Anlehnung an Bergmann und Erb (1991) die Kommunikationslatenz im öffentlichen Umgang mit antisemitischen Phänomenen bezeichneten und damit die Versuche, über die kalkuliert inszenierten Diskriminierungen und Diffamierungen von Juden als Juden öffentlich nicht zu reden (z.B. „Mir ist das ganze Thema Juden irgendwie unangenehm“ bzw. „Was ich über Juden denke, sage ich nicht jedem“).
Oliver Decker, Julia Schuler und Elmar Brähler widmen sich im dritten Beitrag dem autoritären Syndrom in heutigen Zeiten. Dabei geht es vor allem um die Ambivalenz, die in diesem Syndrom steckt. Etwa 40 Prozent der Befragten stimmen den Aussagen, mit denen autoritäre Überzeugungen erfasst werden, zu. Das heißt, es gibt eine relativ große Gruppe von Menschen, die bereit sind, sich unterzuordnen, gleichzeitig aber auch andere Menschen im Namen autoritärer Strukturen abzuwerten. Nur zirka 30 Prozent der Befragten sind ausdrücklich demokratisch orientiert. „Hier zeigt sich“, so die Autor/innen, „der Widerspruch zwischen dem Ideal der demokratischen Anerkennung und der Konkurrenzrealität in der Marktgesellschaft“ (S. 119). Menschen mit autoritären Syndromen sind meist gering gebildet oder üben Berufe mit subalternen Positionen aus; aber auch Mitglieder „neu-rechter Funktionseliten“ gehören zu den autoritären Typen (S. 152).
Im vierten Beitrag fragen Oliver Decker, Alexander Yendell und Elmar Brähler u.a., inwieweit gesellschaftliche Institutionen die autoritäre Dynamik beeinflussen. Den Autoren geht es dabei auch darum herauszufinden, ob und inwieweit gesellschaftliche Anerkennung oder der Verlust von Anerkennung autoritäre Überzeugungen und rechtsextreme Einstellungen beeinflussen. Die Ergebnisse verweisen – wie erwartet – darauf, dass fehlende Anerkennung als Bürger/in (ausgeprägt besonders bei Personen mit geringerer Bildung und geringerem Einkommen) stark mit Verschwörungsmentalitäten, autoritären Überzeugungen und rechtsextremen Einstellungen korreliert.
Der fünfte Beitrag (Oliver Decker, Johannes Kiess und Elmar Brähler) konzentriert sich auf die Verbreitung und Ursachen antisemitischer Ressentiments. Interessant und hervorzuheben sind nun doch erkennbare inhaltliche Differenzierungen antisemitischer Facetten. Neben dem traditionellen Antisemitismus wird auch ein „Antisemitismus in der Umwegkommunikation“ (S. 195) inhaltlich unterschieden, operationalisiert u.a. durch die Aussage „Ich kann es gut verstehen, dass manchen Leuten Juden unangenehm sind“. Die Autoren schreiben u.a.: „Etwa 10 % der Befragten … stimmen traditionellen antisemitischen Aussagen ausdrücklich zu, zwischen 10 % und über 50 % äußern sich zustimmend zu antisemitischen Aussagen, wenn diese eine Umwegkommunikation ermöglichen“ (S. 212). Gleichzeitig scheint es seit 2002 einen Rückgang des Antisemitismus in Deutschland zu geben. Und dennoch: Antisemitische Einstellungen und Gewaltbereitschaft bzw. -akzeptanz korrelieren miteinander, wenn auch schwach.
Der sechste Beitrag (von Gert Pickel und Alexander Yendell) trägt den Titel „Religion als konfliktärer Faktor im Zusammenhang mit Rechtsextremismus, Muslimfeindschaft und AfD-Wahl“. Ein nicht neuer, aber wichtiger Befunde: Mitglieder christlicher Kirchen scheinen etwas offener für autoritäre Einstellungen zu sein. Im Hinblick auf gruppenbezogene Menschenfeindlichkeiten (gegenüber Sinti und Roma, gegenüber Asylberwerber/innen oder Muslimen) unterscheiden sich die Anhänger christlicher Kirchen nicht sonderlich. Dass Muslimfeindlichkeit vor allem bei Befragten sehr hoch ist, die in Gebieten leben, in denen der Anteil an Muslimen in der Bevölkerung unter 1 Prozent liegt, ist auch nicht sonderlich überraschend (vgl. auch Frindte & Dietrich, 2017) und dennoch immer wieder hervorzuheben. Das gilt auch für den Befund, dass die stärkste Muslimfeindschaft und die höchste Ablehnung gegenüber Ayslbewerber/innen von Wähler/innen der AfD geäußert werden. Was die Wahlentscheidungen dieser Wähler/innen betrifft, so stimmt der Rezensent (mit Blick auf einige Kollegen aus der Professorenschaft) den Autoren voll und ganz, wenn sie betonen, dass es sich weniger um Modernisierungsverlierer handelt. Eher ist es eine „Mischung aus Autoritarismus, politischer Entfremdung, die sich vor allem in Politiker- und Parteienverdrossenheit äußert, und Sorge vor »kultureller Überfremdung« verantwortlich“ (S. 235). Irritierend und erklärungsbedürftig findet der Rezensent die Grafik auf Seite 232. Hier werden prozentuale Angaben über rechtsextreme Einstellungen nach Wahlpräferenzen von Parteien mitgeteilt. Danach gibt es unter den Befragten, die die AfD präferieren, – nachvollziehbar – etwas mehr als 52 Prozent mit rechtsextremen Einstellungen und unter den Grünen-Wähler/innen immerhin noch – kaum zu glaubende - 32,8 Prozent.
Dani Kranz plädiert im siebten Beitrag für den Alloismus („Ein Plädoyer für den Alloismus: Historische Kontinuitäten, Zeitgeist und transkultureller Antisemitismus“). Mit dem Begriff greift die Autorin die Definition des Antisemitismus als Allosemitismus von Zygmunt Bauman auf. Bauman (1995) hebt damit die ambivalente Praxis hervor, Juden als von anderen radikal verschiedenen Menschen abzugrenzen. Dani Kranz erweitert Baumans Begriff, um darauf hinzuweisen, dass und warum Juden, Israelis, Araber und Muslime als Outgroups im Gegensatz zu Deutschen als Ingroup konstruiert werden. Es geht der Autorin letztlich darum, deutsche Identitätsspiele und alloistische Projekte zu dekonstruieren.
Im achten Beitrag („Pegida und Gewalt: Das Beispiel der »Freien Kameradschaften Dresden«“) entzaubert Felix Korsch die Selbstdarstellung, mit der sich PEGIDA-Aktivist/innen als friedfertige Spaziergänger inszenieren. Unbestreitbar üben Teile des Protestspektrums, so der Autor, offen Gewalt aus. Die Öffentlichkeit müsste es inzwischen wissen und sich gegen die gewalttätigen Angriffe auf die Demokratie noch viel stärker wehren.
Im neunten Beitrag berichten Daniel Poensgen und Benjamin Steinitz über die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS). Viel zu wenig beachtet und gewürdigt werden zivilgesellschaftliche Akteure, die sich bemühen, die offiziellen Daten über rechtsextreme und antisemitische Gewalt durch eigene Recherchen zu ergänzen und zu validieren. Das RIAS-Monitoring macht einerseits auf die Unvollständigkeit polizeilicher Statistiken über antisemitische Handlungen aufmerksam und analysiert, dokumentiert und publiziert andererseits selbst Befunde über das Dunkelfeld des Antisemitismus.
Im letzten, dem zehnten Beitrag, berichten Sören Kliem, Yvonne Krieg, Dominic Kudlacek, Dirk Baier und Marie Christine Bergmann über eine repräsentative Befragung von Jugendlichen aus Niedersachsen. Ausgewertet wurden die Daten von 4.107 Schülerinnen und Schülern der neunten Jahrgangsstufe. Identifiziert wurden 3,7 Prozent der Befragten als Jugendliche mit einem geschlossenen rechtsextremen Weltbild. Diese Jugendlichen zeigen häufig auch rechtsextremes Verhalten (z.B. Gewalt gegenüber Ausländer/innen). So viel zum gelegentlich geäußerten Vorwurf, Jugendliche wüssten nicht, was sie tun.
Fazit
Eine Gesellschaft muss sich selbst beobachten können. Nur so ist es möglich, gesellschaftliche Risiken und Entwicklungschancen zu entdecken und zu mobilisieren. Längsschnittstudien, wie die Leipziger Autoritarismus-Studie, sind wichtige wissenschaftliche Instrumentarien für diese Selbstbeobachtung. Nicht alle theoretischen Prämissen und methodischen Vorgehensweisen, die Herausgeber und Autor/innen im vorliegenden Buch präsentieren, teilt der Rezensent. Das macht aber nichts, da nicht seine Meinung, sondern die der wissenschaftlichen und außerwissenschaftlichen Leserschaft entscheidender sein dürfte. Die Leipziger Autoritarismus-Studie gehört zu den professionellen sozialwissenschaftlichen Beobachtungsinstrumenten. Das ist zu betonen. Dem vorliegenden Band ist eine breite Leserschaft zu wünschen. Den Herausgebern und Autor/innen drückt der Rezensent die Daumen, auch in den nächsten Jahren genügend Förderung zu erhalten, um die Leipziger Autoritarismus-Studie auf Dauer zu stellen.
Zitierte Literatur
- Adorno, W. T., Frenkel-Brunswick, E., Levinson, J. D. & Sanford, R. N. (1950). The authoritarian personality. New York: Harper & Row.
- Bauman, Z. (1995). Große Gärten, kleine Gärten. Allosemitismus: Vormodern, Modern, Postmodern. In M. Werz (Hrsg.), Antisemitismus und Gesellschaft. Zur Diskussion um Auschwitz, Kulturindustrie und Gewalt. Frankfurt a. M.: Verlag Neue Kritik.
- Bergmann, W. & Erb, R. (1991). Antisemitismus in der Bundesrepublik Deutschland. Ergebnisse der empirischen Forschung 1946 – 1989. Opladen: Leske und Budrich.
- Brown, K. P. (2018). Saving the Sacred Sea: The Power of Civil Society in an Age of Authoritarianism and Globalization. New York: Oxford University Press.
- Cohrs, J. C. & Stelzl, M. (2010). How ideological attitudes predict host society members’ attitudes toward immigrants: Exploring cross-national differences. Journal of Social Issues, Vol. 66, No. 4, 2010, pp. 673—694.
- Duckitt, J. (2001). A dual-process cognitive-motivational theory of ideology and prejudice. In M. P. Zanna (Ed.), Advances in experimental social psychology (Vol. 33, pp. 41 – 113). San Diego, CA: Academic Press.
- Frindte, W. & Dietrich, N. (Hrsg.). Muslime, Flüchtlinge und Pegida. Sozialpsychologische und kommunikationswissenschaftliche Studien in Zeiten globaler Bedrohungen. Wiesbaden: Springer VS.
- Fuchs, C. (2018). Digitale Demagogie. Autoritärer Kapitalismus in Zeiten von Trump und Twitter. Hamburg: Verlag Hamburg.
- Giroux, H. A. (2018). Terror of Neoliberalism: Authoritarianism and the Eclipse of Democracy. New York: Routledge.
- Heitmeyer, W. (2018). Autoritäre Versuchungen. Signaturen der Bedrohung I. Berlin: Suhrkamp.
- Kreis, J. (2007). Zur Messung von rechtsextremer Einstellung: Probleme und Kontroversen am Beispiel zweier Studien. Arbeitshefte aus dem Otto-Stammer-Zentrum Berlin, Nr. 12.
- Löwenthal, L. (2017). False prophets: Studies on authoritarianism. Abingdon, Oxford: Routledge.
- Mann, Heinrich (1918). Der Untertan. Leipzig: Kurt Wolff Verlag.
- Six, B. (1996). Generalisierte Einstellungen. In M. Amelang (Hrsg.). Enzyklopädie der Psychologie (S. 1-50). Göttingen, Bern, Toronto, Seattle: Hogrefe.
- Tucholsky, K. (1919, 1972). „Der Untertan“. Kurt Tucholsky Ausgewählte Werke, Band 1, Berlin: Verlag Volk und Welt.
[1] Leo Löwenthal war in den 1930 Jahren Mitarbeiter im Frankfurter Institut für Sozialforschung, an dem auch Altmeister der Autoritarismusforschung tätig waren.
Rezension von
Prof. Dr. Wolfgang Frindte
Friedrich-Schiller-Universität Jena
Institut für Kommunikationswissenschaft - Abteilung Kommunikationspsychologie
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