Andrea Kuhn: Die Errichtung einer Pflegekammer in Rheinland-Pfalz
Rezensiert von Prof. Dr. Wolfgang Schroeder, 05.05.2020

Andrea Kuhn: Die Errichtung einer Pflegekammer in Rheinland-Pfalz. Der fehlende Baustein zur Professionalisierung?
Springer Science+Business Media GmbH & Co. KG
(Berlin) 2016.
122 Seiten.
ISBN 978-3-658-12540-0.
D: 39,99 EUR,
A: 41,11 EUR,
CH: 41,50 sFr.
Reihe: Best of Pflege.
Thema
Das zentrale Thema der Studie ist die Einrichtung der Pflegekammer in Rheinland-Pfalz. Mit dieser Einrichtung soll die Pflege zukünftig auf Augenhöhe zu den Ärzten im politischen System vertreten sein. Um die Notwendigkeit dieser Einrichtung zu verstehen, reflektiert die Autorin den Weg des Pflegeberufes, dessen Professionalisierung in Deutschland spät einsetzte. Ursächlich dafür seien die besondere kirchlich-bürgerliche Einbettung weiblicher Arbeit, die Stärke der organisierten Ärzteschaft, die Untätigkeit des Staates und die fehlende Selbsttätigkeit. Die beruflichen Wurzeln der Pflege lassen sich auf drei Quellen zurückführen: Erstens liegen sie in der Idee des „christlichen Liebesdienstes“, insbesondere in den christlichen Orden. Zweitens im späten 19. Jahrhundert, wo die Pflege als eigenständiger Bereich bürgerlich weiblicher Emanzipation entdeckt wurde. Hinzu kommen drittens die sogenannten Wartetätigkeiten, die meist einen ausgesprochenen Hilfsdienstcharakter besaßen. Zwischen diesen drei Gruppen bestanden Konkurrenz und Missgunst; die Basis für gemeinsames kollektives Handeln fehlte. Darin wiederum liegt einer der zentralen Gründe dafür, dass die Pflege eine außerordentlich schwache organisatorische Verhandlungsmacht besitzt. Dies führt dazu, dass ihre Kompetenzzuschreibungen im Vergleich zu den Ärzten, ihr Professionalisierungsniveau und ihre Einkommenssituation im Vergleich zu anderen Berufen im Gesundheitswesen bis auf den heutigen Tag gering ausprägt sind.
AutorIn und Entstehungshintergrund
Die Autorin, Frau Kuhn, arbeitete in der Geschäftsstelle des von der rheinland-pfälzischen Landesregierung eingesetzten Gründungskongresses zur Etablierung einer Pflegekammer an der Hochschule Ludwigshafen. Sie schildert und reflektiert in ihrer Studie die Vorarbeiten zum Aufbau der ersten deutschen Pflegekammer in Rheinland-Pfalz zwischen 2012 und 2014. In diesem Sinne hat sie mit der vorliegenden Studie als teilnehmende Beobachterin ihren eigenen Arbeitskontext systematisiert und reflektiert.
Die vorliegende Studie wurde als Masterarbeit angenommen.
Aufbau
- Einleitung
- Gründungskonferenz zur Einrichtung einer Pflegekammer in Rheinland-Pfalz
- Theoretischer Zugang: Politikfeldanalyse
- Problemdefinition: Der lange Weg der Professionalisierung
- Zwischenbilanz
- Agenda Setting
- Politikfeldformulierung
- Implementierung
- Evaluation
- Rückblick und Ausblick
- Epilog
- Literaturverzeichnis
Inhalt
Andrea Kuhn vertritt in ihrer Arbeit die These, dass mit der Einrichtung der Pflegekammer ein wichtiger Baustein (23) auf dem Weg zu einer weiteren Professionalisierung und Stärkung der Pflegekräfte erreicht werden kann. Mit Blick auf die verbandlichen Aktivitäten der Berufsverbände und Gewerkschaften, die ebenfalls Interessen der Pflegekräfte vertreten, kommt sie zu dem Ergebnis, dass beide Organisationstypen nicht in der Lage sind die Anliegen der Pflegenden so zu bündeln, dass sich daraus ein starkes agieren auf Augenhöhe zu den Ärzten entwickeln konnte. Dagegen ermögliche es eine Kammer der Pflege „selbstbestimmt statt fremdbestimmt zu agieren. Sie bedeutet die Emanzipation weg vom Arzthilfsberuf hin zum eigenständigen Heilberuf“ (49).
Mit der Pflegekammer stünden die Pflegekräfte erstmals organisationspolitisch auf Augenhöhe zu den Ärzten. Denn diese konnten bereits 1887 ihre ersten Kammern bilden. Damit Pflegekräfte in den gesundheitspolitischen Korporatismus eingebunden werden, um als Verhandlungspartner von Politik und Staat zu wirken, sind sowohl die Politik wie auch die Pflegekräfte gefordert. In Rheinland-Pfalz zeigte sich 2012 eine günstige Akteurskonstellation, weil sich dort sowohl die Regierung wie auch die Opposition dafür aussprachen eine solche Kammer zu gründen. Die Autorin arbeitet die langen Linien der Pflege als Frauenberuf (85 % der Beschäftigten in der Pflege sind Frauen) heraus, der „bis heute unpolitisch blieb und keine gemeinsame Identität ausgebildet“ (95) habe, was sich auch darin zeigte, dass nur eine kleine Minderheit der Pflegekräfte in Gewerkschaften und Berufsverbänden organisiert sind.
Diskussion
In einer am Policy Cycle orientierten Politikfeldanalyse beschreibt die Autorin den Prozess, der zur Gründung der rheinland-pfälzischen Pflegekammer führte. Sie startet mit einer Problemdefinition, die sie auf die Professionalisierungsdefizite in der Pflege konzentriert. Der Problemdefinition, der ersten Dimension des Policy-Cycles, wird mit über 40 Seiten vergleichsweise viel Platz eingeräumt. Dagegen fallen die Kapitel zum Agenda Setting (65-75), zur Politikfeldformulierung, indem die Novelle des Heilberufegesetzes beschrieben wird (79-84), die Implementierung der Landespflegekammer (85-92) sowie das Kapitel der Evaluation (93-104) eher knapp aus.
Leider werden bei der Analyse des Entstehungsprozesses der Kammer die Argumente der Gegner (vor allem Verdi und die Arbeitgeber) nicht intensiver genutzt, um die eigene Position stark zu machen. Stattdessen wird deren Argumentation mit dem Begriff „unnützes Bürokratiemonster“ (51) leichtfertig übergangen. Im Umgang mit den Argumenten der Gegner wird aber zugleich auch die strukturelle Schwäche der Studie offenbar, indem Argumente der Pflegekammergegner kaum diskutiert und schnell zur Seite gelegt werden, womit die Analyse weit unter ihren Möglichkeiten bleibt. Besonders ärgerlich ist dieses Vorgehen bei der Analyse des Abstimmungsergebnisses im Frühjahr 2013. Damals sprachen sich von den 44.500 Beschäftigten in der rheinland-pfälzischen Pflege letztlich nur 5335 für eine Pflegekammer aus (76); also knapp 12 Prozent der Betroffenen. Statt dieses Ergebnis zu hinterfragen; bezieht sich die Autorin darauf, dass von den 7033 gültigen Stimmen rund 76 Prozent für die Pflegekammer votierten. Was aber sind die Gründe für die geringe Wahlbeteiligung? War die Kampagne doch nicht so gut, wie von Autorin beschrieben, oder ist diese Berufsgruppe selbst bei bester Kampagne nur schwer erreichbar? Und was bedeutet dieses schwache Ergebnis für die zukünftige Arbeit und Legitimation der Pflegekammer? Antworten auf diese Fragen werden nicht gegeben.
Fazit
Im Mittelpunkt der Studie stehen Beschreibung und Analyse des Weges zur Einrichtung der Pflegekammer in Rheinland-Pfalz zwischen 2013 und 2015. Zudem liefert diese gut geschriebene Arbeit eine Fülle von interessanten Argumenten für die späte und zögerliche Professionalisierung der Pflege in Deutschland. Indem die Arbeit jedoch stark normativ sowie deskriptiv und wenig analytisch angelegt ist, besitzt sie keine sonderliche Sensibilität für die nicht intendierten Folgen des von ihr beschriebenen Institutionalisierungsprozesses. Das Verdienst dieses Buches besteht insgesamt darin, den Entstehungsprozess der ersten deutschen Pflegekammer zu beschreiben und damit den Startschuss für eine tiefer gehende Betrachtung der großen Schwierigkeiten bei der institutionellen Aufwertung der Pflege gegeben zu haben.
Rezension von
Prof. Dr. Wolfgang Schroeder
Universität Kassel
Fachbereich 05, Gesellschaftswissenschaften
Leiter des Fachgebiets „Politisches System der BRD – Staatlichkeit im Wandel“
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