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Henriette Engelhardt: Grundlagen der Bevölkerungs­wissenschaft und Demografie

Rezensiert von Dr. phil. Gudrun Exner, 16.05.2019

Cover Henriette Engelhardt: Grundlagen der Bevölkerungs­wissenschaft und Demografie ISBN 978-3-95650-167-8

Henriette Engelhardt: Grundlagen der Bevölkerungswissenschaft und Demografie. Ergon Verlag (Würzburg) 2016. 436 Seiten. ISBN 978-3-95650-167-8. D: 58,00 EUR, A: 59,70 EUR.

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Thema

Die Studie versteht sich als Lehrbuch für Studierende, für welche das Fach Bevölkerungswissenschaft und Demografie „angesichts der aktuellen demografischen Entwicklungen und der damit einhergehenden gesellschaftlichen Herausforderungen“ von zunehmendem Interesse ist. (S. 1) Sie kann aber auch WissenschaftlerInnen anderer Disziplinen und interessierten Laien als Grundlage und als Nachschlagewerk auf dem derzeitigen Stand der Forschung dienen.

Autorin

Dr. Henriette Engelhardt-Wölfler ist ordentliche Professorin für Demografie an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg.

Aufbau

  • Voraussetzungen des Fachs (Kapitel 1 und 2),
  • Wesentliches zur demografischen Theoriebildung (Kapitel 3),
  • Herkunft und Beschaffung der Datengrundlagen (Kapitel 4),
  • Bevölkerungsgröße und Bevölkerungswachstum (Kapitel 5),
  • Altersstruktur und Altersaufbau (Kapitel 6),
  • Geografische Aspekte der Demografie (Kapitel 7),
  • Fertilität (Kapitel 8),
  • Mortalität (Kapitel 9),
  • Migration (Kapitel 10),
  • Angewandte Demografie (Familienpolitik); Weltbevölkerung (Kapitel 11).

In jedem Kapitel finden eine Vielzahl von Detailfragen aus der Forschung, anschaulichen Beispielen und mathematischen Formeln, Kennzahlen, Maßen usw. sowie Hinweise auf weiterführende Literatur Berücksichtigung.

Inhalt

Kapitel 1

Untersuchungsgegenstand und Grundlagen“ handelt zunächst von grundlegenden Definitonen und speziellen Forschungsbereichen wie z.B. Sozialdemografie, Familiendemografie, Bevölkerungsökonomie, ökologischer Demografie und anderes mehr. Auch die institutionellen Voraussetzungen des Fachs werden umrissen.

In Abschnitt 4, „Bevölkerungswissenschaft in Deutschland“ (S. 17-23), wird auf die belastete Vergangenheit der Fachdisziplin, die „unheilvolle Verstrickung mit dem Nationalsozialismus im Dritten Reich“ (S. 17) eingegangen. (Siehe hierzu auch den Abschnitt: Diskussion Punkt 4) Die Autorin kommt zu folgendem Resümee: „Mit der Verletzung wissenschaftlicher und ethischer Normen während des Dritten Reiches ging der Niedergang der Disziplin einher, wovon sich das Fach bis heute nicht wirklich erholt hat.“ (S. 18 f.) Dies gilt vor allem dann, wenn man die institutionelle Ausstattung des Fachs in Deutschland mit jener in den USA, Frankreich, Italien oder den skandinavischen Ländern vergleicht. (Vgl. S. 17)

Es bestehen in Deutschland schon seit längerer Zeit einige wenige Lehrstühle für Bevölkerungswissenschaft, etwa in Bamberg, Bielefeld und Rostock. (Vgl. S. 19 f.) Außerdem existieren weitere Institutionen, die sich unter anderem mit den Forschungsschwerpunkten der Migration und der Alterung befassen. (Vgl. S. 21-23)

Kapitel 2

Geschichte bevölkerungswissenschaftlichen Denkens“, befasst sich mit einem historischen Überblick von den Anfängen an. Die Demografie im modernen Sinn begann im Jahr 1662, dem Zeitpunkt der Publikation dervon John Graunt „Natural and Political Observations … Mentioned in a following Index, and made upon the Bills of Mortality“ (London: Thomas Roycroft 1662). Der Autor, ein Londoner Kaufmann, führte hier erste Berechnungen zur durchschnittlichen Lebenserwartung, zu Bevölkerungsgröße und Bevölkerungswachstum, zum Verlauf von Epidemien und anderes mehr durch. (Vgl. S. 63 f.) Modernes bevölkerungspolitisches und bevölkerungswissenschaftliches Denken bildete sich im Rahmen des Merkantilismus/ Kameralismus und Physiokratismus des 17. und 18. Jahrhunderts heraus und wurde von einigen Klassikern der Nationalökonomie wie Adam Smith, John Stuart Mill und besonders Thomas Robert Malthus weiter entwickelt. Der Schwerpunkt der neuzeitlichen Beschäftigung mit bevölkerungspolitischen und bevölkerungswissenschaftlichen Fragen lag somit vorerst in Westeuropa und in einer Zeit, in der die „bevölkerungsfreundlichen Anschauungen“, die eine hohe Bevölkerungszahl mit politisch-militärischer Macht und wirtschaftlichem Wohlstand verknüpften, überwogen (vgl. S. 39 f.).

Kapitel 3

Theorie, Erklärung, Modell und Simulation“, bringt einen Überblick über die demografische Theoriebildung bis hin zu Modellen und Simulationen. Es wird erklärt, warum die moderne Bevölkerungswissenschaft nicht ohne Mathematik auskommt, und welche Weiterentwicklungen hierdurch möglich sind:

„Die Mathematisierung von Theorien ist nicht nur eine rein akademische Übung. Die mathematische Formulierung dient der Präzisierung von Theorien. Darüber hinaus stellt die Mathematik Deduktions- oder Ableitungsregeln zur Verfügung, so dass aus formalisierten Theoriefassungen Hypothesen abgeleitet werden können, wodurch häufig auch neue, überraschende Einsichten gewonnen werden können. Dabei können auch versteckte Annahmen und die damit verbundenen Konsequenzen sichtbar werden, die in rein verbalen Theoriefassungen nicht erkennbar sind.“ (S. 89)

Mathematik in der Demografie ermöglicht die Erstellung von Modellen und Simulationen, die in einer Vielzahl von Typen vorliegen und unter anderem für Prognosen (siehe hierzu auch: Diskussion Punkt 2) verwendet werden. Die Mikrosimulation prognostiziert „z.B. auf der Basis von Umfragedaten künftige Raten von demografischen Ereignissen (z.B. Heiraten, Scheidungen, Geburten, Sterbefälle) anhand unterschiedlicher Annahmen über die künftige Entwicklung der Übergangswahrscheinlichkeiten (z.B. weiter steigende Scheidungswahrscheinlichkeiten, sinkende Wahrscheinlichkeiten für Eheschließungen, Geburt und frühem Tod) […]. Zur Politikberatung werden Mikrosimulationsmodelle in entwickelten Staaten praktisch ständig eingesetzt.“ (S. 94)

Kapitel 4

Grundlagen demographischer Analyse“, definiert die Demografie als eine empirische Wissenschaft, die auf Datengrundlagen angewiesen ist. Demografische Ereignisse wie Geburten, Heiraten und Sterbefälle wurden stets von religiösen und staatlichen Organisationen erfasst, und demografische Forschung ist auf deren Daten angewiesen. (Vgl. S. 97) Hinzugefügt werden kann, dass auch der/die beste einzelne DemografIn keine Volkszählung durchführen kann (die zur Ergänzung der oft fehlerbehafteten Verwaltungs- und Melderegisterdaten nötig ist), sodass sich die moderne Demografie erst in einer Zeit hoher staatlicher Organisation entwickeln konnte. Die Problematik von Volkszählungen liegt in vielen Staaten in den hohen Kosten und in der mangelnden Akzeptanz durch die Bevölkerung, sodass nach anderen Wegen gesucht wurde. (Vgl. S. 102) In Deutschland etwa verwendete man 2011 erstmals die „registergestützte Volkszählung“, für welche verschiedene amtliche Datenquellen zusammengeführt wurden und nur mehr ein Teil der Bevölkerung direkt befragt wurde. Die „EU-Verordnung zur Durchführung von Volkszählungen“ musste ebenfalls berücksichtigt werden. „Nach Abschluss des Verfahrens liegt zu jeder Person, die in Deutschland wohnt, ein typischer Zensusdatensatz vor, der Daten zu demografischen, wohnungs-, haushalts- und erwerbsstatistischen Merkmalen enthält.“ (S. 104) Die durch die Mikrozensus (eine weitere Form der amtlichen Bevölkerungserfassung) gewonnenen „Scientific-Use-Files“ werden seit 1987, weiteres „nicht amtliche Individualdaten“ sowie „international vergleichbare Makrodaten“ für die wissenschaftliche Forschung verwendet. Die Autorin listet einige der betreffenden Datenprojekte, die solche Daten zur Verfügung stellen, und ihre Internetpräsenz (URLs) auf (vgl. S. 108, S. 112). (Siehe hierzu auch: Diskussion Punkt 2). Kapitel 4 erklärt nach der Darstellung der Wege der Datenbeschaffung die grundlegenden Methoden ihrer Analyse.

Kapitel 5

Bevölkerungsgröße und Bevölkerungswachstum“, setzt sich mit ebendiesen Phänomenen auseinander. Das Bevölkerungswachstum wird in einem historischen Überblick von den Anfängen der Menschheitsgeschichte bis zum Anwachsen auf etwa 7 Milliarden Menschen im Jahr 2011 nachgezeichnet. Für das Verständnis der modernen demografischen Analyse des Bevölkerungswachstums und zur Erstellung von Wachstumsmodellen ist die Unterscheidung von verschiedenen Typen oder Formen des Bevölkerungswachstums grundlegend. Lineares, geometrisches und exponentielles Wachstum sowie auch das logistische Wachstumsmodell (siehe hierzu auch: Diskussion Punkt 2) sind mögliche Formen und werden in ihren Zusammenhängen mit realen Bevölkerungsvorgängen erörtert.

Kapitel 6

Vitalstruktur“: Hier steht die Alterung im Mittelpunkt. Allgemein bekannt ist in diesem Zusammenhang die sehr anschauliche grafische Darstellung der Altersverteilung durch die „Alterspyramide (synonym: Bevölkerungspyramide)“ (S. 186), die in den vier Grundformen der Pagode, der Pyramide, des Bienenkorbs und der Urne vorliegt. Die Aussagekraft dieser Darstellungsformen des Altersaufbaus wird erklärt, weiters werden auch zahlreiche einfache sowie komplizierte mathematische Kennziffern der Altersstruktur und der Bevölkerungsalterung (demografische Altersindizes und dynamische Alterungsmaße) erläutert.

„Die Bedeutung des Alters rührt daher, dass die Altersstruktur einer Bevölkerung wesentlich Geburten und Sterbefälle und damit die natürliche Bevölkerungsbewegung bestimmt.“ (S. 182) Eine Bevölkerung mit vielen jungen Leuten kann ein starkes Bevölkerungswachstum in den folgenden 15 bis 20 Jahren bedeuten, für eine Bevölkerung mit vielen älteren und alten Leuten ist dies nicht wahrscheinlich. Die Altersstruktur ermöglicht daher auch „die Vorausschätzung der Anzahl der Heiraten, Geburten oder Todesfälle, des Umfangs künftiger Schülerkohorten oder potentiell Erwerbstätigen, usw.“ (S. 182)

Auswirkungen der Altersstruktur auf Geburtenentwicklung, Alterssicherung, Bildung und Arbeitsmarkt, Technischen Fortschritt, Güter und Dienstleistungen, Wohnungsmarkt, Heiratsmarkt und familiale Generationenbeziehungen sowie Wählerklientel (vgl. S. 207-214) werden, teilweise in allgemeiner Hinsicht und immer wieder mit dem Schwerpunkt auf Deutschland, kurz abgehandelt.

Kapitel 7

Regionalstruktur“, behandelt die geografische Dimension der Bevölkerungsfragen. Die praktische Bedeutung von räumlichen Erfassungen und Darstellungen von bevölkerungswissenschaftlichen Fragestellungen wird an einem medizinstatistischen Beispiel veranschaulicht: So stellte John Snow anlässlich der Cholera-Epidemie des Jahres 1854 in London fest, dass sich die Todesfälle im Bereich einer bestimmten Wasserpumpe häuften. „Nachdem Snow die Pumpe von der Stadtverwaltung außer Betrieb setzen ließ, kam es zum Stillstand der Epidemie.“ (S. 219)

Generell liefern „Informationen über die regionale Verteilung der Bevölkerung“ „Ansatzmöglichkeiten zur differentiellen Analyse der Altersstruktur, des generativen Verhaltens, der Sterblichkeit, der Wanderungsbewegungen und des Bevölkerungswachstums.“ (S. 215) Differentielle Analyse bedeutet hier, dass ein Bevölkerungsvorgang nicht nur für die gesamte Bevölkerung untersucht, sondern auch für einzelne Bevölkerungsgruppen analysiert wird.

Bevölkerungskarten ermöglichen etwa Veranschaulichungen, Vergleiche, die Unterstützung von Analysen und Interpretationen und damit die Entwicklung neuer Erkenntnisse (vgl. S. 217f). Bis in die späten 1960er Jahre mussten Bevölkerungskarten noch händisch erstellt werden. Seither kommen Geoinformationssysteme (GIS) zum Einsatz.

  • Abschnitt 7.3. befasst sich mit der mathematischen Darstellung der Bevölkerungsdichte und anderer demografischer Dichtemaße (z.B. Brutto- und Nettosiedlungsdichte) und teilweise sehr komplizierten demografischen Kennziffern.
  • Abschnitt 7.4. ist der Urbanisierung oder Verstädterung als einem weltweiten modernen Phänomen vorbehalten,
  • Abschnitt 7.5. spricht die sozialpsychologischen Folgen der Bevölkerungsdichte im Sinne des negativ besetzten Begriffs „(over-)crowding“ an. Dieser Ausdruck bezeichnet eine Bevölkerungsdichte, die „als unerwünscht oder unangenehm empfunden wird“. (S. 241) Auch Auswirkungen der Bevölkerungsdichte auf die Fertilität werden thematisiert.

Kapitel 8 und 9

Kapital 8 ist der Fertilität und Kapitel 9 der Mortalität vorbehalten. Diese zwei Kapitel sind ähnlich strukturiert und nehmen von der speziellen Terminologie des Forschungsbereiches und der jeweiligen statistischen Erfassung bzw. demografischen Messung dieser Bevölkerungsvorgänge ihren Ausgang. Im Folgenden werden hierzu jeweils einige aktuelle und relevante Forschungsfragen und -problematiken behandelt.

So werden im Kapitel „Fertilität“ aus der Fülle der Theorien der Fertilität einige Ansätze vorgestellt, die zu erklären versuchen, aus welchen Motiven sich Menschen für oder gegen Kinder entscheiden.

Die Zusammenhänge zwischen Fertilität und Bevölkerungswachstum, Bevölkerungsrückgang sowie „Bestandserhaltungsniveau“ werden erklärt. Eine wichtige demografische Maßzahl hierfür kann die „Nettoreproduktionsrate“ sein. Sie gibt „unter Berücksichtigung der zugrunde gelegten Sterblichkeitsverhältnisse an, in welcher Relation eine Frauengeneration durch eine Töchtergeneration ersetzt wird. Je größer die Säuglings- und Kindersterblichkeit eines Landes, desto größer ist die Differenz zwischen der Brutto- und der Nettoreproduktionsrate. Ein Nettoreproduktionswert von genau Eins ist der kritische Wert für die Bestandserhaltung einer Bevölkerung; in diesem Fall wird – bei den Sterblichkeitsverhältnissen der berücksichtigten Sterbetafel und unter Ausschluss von Wanderungen – die Frauengeneration vollständig durch die Töchtergeneration ersetzt. Nettoreproduktionswerte kleiner Eins deuten auf eine schrumpfende Bevölkerung hin […].“ (S. 261) Oder etwas weniger demografisch formuliert:

„In den meisten entwickelten Ländern ist die Zahl der Kinder unter das Bestandserhaltungsniveau von 2,1 Kindern gefallen, sodass in diesen Regionen langfristig mit einem Bevölkerungsrückgang zu rechnen ist.“ (S. 261 f.) Weltweit wird, falls die „mittlere Prognosevariante der Vereinten Nationen“ zutrifft, etwa für das Jahr 2050 „eine Konvergenz der Nettoreproduktionsrate bei einem Niveau von 1,04 Kindern pro Frau“ erwartet, jedoch nicht für alle Regionen. (Vgl. S. 262)

Im Kapitel „Mortalität“ werden unter anderem Morbidität (Krankheitsziffern), (maximale) Lebenserwartung und differentielle Mortalität, d.h. die Mortalität bestimmter Bevölkerungsgruppen (siehe hierzu auch: Diskussion Punkt 2) angesprochen.

Bezüglich der Lebenserwartung wird in Form von sehr unterschiedlichen Theorien generell ein weiterer Anstieg vorhergesagt. (Vgl. S. 315-317) Die moderne Demografie befasst sich insbesondere auch mit dem Zusammenhang zwischen Mortalität und Morbidität und weist darauf hin, dass eine gestiegene Lebenserwartung an sich nichts über den Anteil der in guter Gesundheit verbrachten Jahre aussagt. Es wird postuliert, dass eine gestiegene Lebenserwartung eher zur „expansion of morbidity“, also zu einer Verlängerung der „gesundheitlich eingeschränkten Lebensphase“ führt, als zur Verlängerung der gesunden Lebenszeit (vgl. S. 317 f.) Hierzu werden unterschiedliche Forschungshypothesen und Prognosen diskutiert. (Vgl. S. 318-321)

Kapitel 10

Auf das Kapitel 10, „Migration“, soll hier etwas ausführlicher eingegangen werden. Es ist in folgende Abschnitte gegliedert:

  • „Grundbegriffe“,
  • „Erfassung und Messung der Migration“,
  • „Einwanderung in Deutschland“,
  • „Theorien der Migration“
  • „Folgen der Migration“

Die Erklärungen komplizierter theoretischer Ansätze sind auch für eine fachfremde Leserschaft gut verständlich.

Der Abschnitt „Theorien der Migration“ bezieht sich auf die „Erklärung der freiwilligen Wanderungsbewegungen“ (S. 357) (im Gegensatz zu Flucht, Vertreibung oder Deportation) und stellt die wichtigsten makro- und mikrotheoretischen Ansätze vor. So entwickelte etwa Wilbur Zelinsky 1971 ein universelles Langzeitmodell des „Mobilitätsübergangs“, das eine Änderung des allgemeinen Mobilitätsverhaltens in der modernen Zeit gegenüber früheren historischen Epochen postuliert. „Die modernen Gesellschaften […] sind schließlich hoch mobil. Während die Anteile Land-Stadt-Wanderungen und Auswanderungen jedoch abnehmen, steigen Stadt-Stadt-Wanderungen und die allgemeine Zirkulation [Kurzzeitmobilität] anteilsmäßig weiter an. Hinsichtlich internationaler Wanderungen dominieren vor allem Immigrationen aus weniger entwickelten Ländern.“ (S. 358) Das Modell hat auch einige Schwächen, deren Kritik durch die Forschungsliteratur von der Autorin kurz zusammengefasst wird. Weitere makrotheoretische Migrationstheorien wie die „Migrationsgesetze“ von Ernest Georg Ravenstein aus dem Jahr 1885, und die so genannten „Gravitationsmodelle“ aus den 1940er und 1950er Jahren, die bereits die Theorie der „Push- und Pullfaktoren“ für das Wanderungsverhalten enthalten, erwiesen sich als nicht ausreichend, sodass auch individualistische Theoriebildungen unternommen wurden. Everett Spurgeon Lee übertrug 1972 „den Push-Pull-Ansatz der Makrotheorien auf Entscheidungen individueller Akteure und liefert so eine individualistische Interpretation des Push-Pull-Paradigmas“. (S. 362) Lee kam hierbei unter anderem zu dem Schluss, dass es weniger die Faktoren am Herkunftsort und am Bestimmungsort wären, die zur Migration führen würden, sondern „die Perzeption dieser Faktoren“. (S. 363) Auf allgemeinen Kosten-Nutzen-Überlegungen seitens der potentiellen MigrantInnen basiert das mikrotheoretische Modell von Larry Arlow Sjaastad und Alden Speare aus den Jahren 1962/1971, wonach die Erwartungen zukünftiger Nutzeffekte, die sich erst nach längerer Zeit einstellen, und die nicht nur ökonomisch sein müssen, wanderungsfördernd wirken können. (Vgl. S. 363 f.)

Im Abschnitt „Folgen der Migration“ werden demografische Folgen, Folgen für den Arbeitsmarkt und soziale Folgen angesprochen. In ausgewogener Weise wird auf Vor- und Nachteile für das Zuwanderungs- und das Abwanderungsland eingegangen, etwa im Hinblick auf den Verlust junger, gut ausgebildeter Menschen für das Herkunftsgebiet, oder im Hinblick auf das Sozialversicherungssystem und den Arbeitsmarkt des Ziellandes, hier auf Deutschland eingegrenzt. Hierbei stützt sich die Autorin unter anderem auf den Forschungsbericht des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge von Manfred Kohlmeier und Peter Schimany (Hg.), Der Einfluss von Zuwanderung auf die deutsche Gesellschaft Deutscher Beitrag zur Pilotforschungsstudie ‚The Impact of Immigration on Europe’s Societies‘ im Rahmen des Europäischen Migrationsnetzwerks (Nürnberg: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2005). Demnach leisten ZuwanderInnen, die länger als 25 Jahre in Deutschland leben, einen positiven Beitrag zum Sozialversicherungssystem, AsylbewerberInnen dagegen, die nicht arbeitsberechtigt sind, belasteten dieses. (Vgl. S. 367) Bezüglich der Folgen für den Arbeitsmarkt heißt es: „Die Auswirkung der Migration auf den Arbeitsmarkt in den europäischen Ländern hat sich in der öffentlichen Debatte zu einem wichtigen Thema entwickelt. So bestehen Bedenken, dass Zuwanderer einheimische Arbeitnehmer ersetzen oder das Lohnniveau durch die Zuwanderung gesenkt wird.“ (S. 367) Zum Teil treffe dies für Deutschland zu, jedoch nicht in dem Ausmaß, wie angenommen. (Vgl. S. 367 f.) „In Zeiten mit starkem Wirtschaftswachstum werden allgemein weniger Zweifel an der Zuwanderung laut.“ (S. 368), wird im Rückblick, etwa auf die Beschäftigung der GastarbeiterInnen in den 1960er und 1970er Jahren formuliert.

Kapitel 11

Im letzten Teil, Kapitel 11, „Bevölkerungs- und Familienpolitik“, werden die angewandte Demografie, ihre Aufgabenbereiche, ihre Zielsetzungen und die Versuche, ihre Auswirkungen nachzuweisen, beschrieben. „Die Bevölkerungspolitik ist ein Bestandteil der in fast allen Staaten mehr oder weniger ausgeprägten Sozialpolitik. Grenzen zur Familienpolitik, zur Migrationspolitik und zur Gesundheitspolitik sind nur schwer zu ziehen; auch von der Wirtschaftspolitik, Finanzpolitik, Arbeitsmarktpolitik, Bildungspolitik sowie Wohnbaupolitik können bevölkerungsrelevante Wirkungen ausgehen. Nur wenige dieser sozialpolitischen Maßnahmen stellen unmittelbar auf die Änderung des demografischen Verhaltens der Menschen ab.“ (S. 371 f.)

Heute finden sich zielgerichtete Beeinflussungen vor allem in den Bereichen der Migration und der Fertilität. Die Regulierung der Migration fällt hierbei in den Bereich der Politik. Besonders in Deutschland, und auch in Österreich, ist man nach den Erfahrungen mit der NS-Bevölkerungspolitik, die zu Zwangssterilisationen und in letzter Konsequenz bis hin zum Krankenmord, sowie in Form der NS-Rassenpolitik auch bis zum Holocaust führte, darum bemüht, hinsichtlich der Beeinflussung der Fertilität eine explizite Bevölkerungspolitik zu vermeiden. Empfohlen werden familienpolitische Maßnahmen, damit „Kinderwünsche ohne zumutbare [unzumutbare? D. Rez.] materielle oder sonstige Einschränkungen realisiert werden können“, „nicht jedoch die Erreichung bestimmter Vorgaben für Geburtenzahlen.“ (S. 372) Andere Industrieländer, die wie Deutschland ihre Geburtenraten als zu niedrig betrachten, betreiben dagegen eine „entsprechende Interventionspolitik“. In Deutschland, Österreich und der Schweiz gilt jedoch der Grundsatz, dass die Entscheidung für oder gegen Kinder ausschließlich Privatangelegenheit ist. (Vgl. S. 372)

Die ersten zwei Weltbevölkerungskonferenzen der Vereinten Nationen, 1974 in Bukarest, 1984 in Mexiko City, wiesen eine starke Meinungsverschiedenheit bezüglich der Maßnahmen auf, die hinsichtlich einer stark wachsenden Weltbevölkerung und der weltweiten Ungleichheit der wirtschaftlichen Entwicklung zu treffen wären. Bei der dritten Weltbevölkerungskonferenz, 1994 in Kairo, einigte man sich auf eine Kombination von geburtenhemmenden (antinatalistischen) und ökonomischen Maßnahmen, und setzte internationale Maßstäbe für bevölkerungspolitische Regelungen. Tabelle 11.1 (S. 375-378) gibt die „15 Grundsätze der Bevölkerungspolitik nach der Weltbevölkerungskonferenz von Kairo 1994“ in deutscher Sprache wieder. Grundsatz 12 betrifft MigrantInnen, Grundsatz 13 Flüchtlinge, die in anderen Staaten um Asyl ansuchen. Hier heißt es: „Jeder hat das Recht wegen Verfolgung in anderen Ländern Asyl zu suchen und zu genießen. Gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention sind die Staaten verantwortlich für die Flüchtlinge.“ (S. 377)

Betreffend die Wirksamkeit von familienpolitischen, etwa geburtenfördernden (pronatalistischen) Maßnahmen in den europäischen Ländern sind die bisherigen Forschungsergebnisse nicht ganz eindeutig. So gibt etwa zu denken, dass Großbritannien mit einer weniger stark ausgeprägten Familienpolitik seit dem Jahr 1965 eine fast ebenso hohe Geburtenrate aufweist wie das deutlich pronatalistische Frankreich. Die Autorin empfiehlt daher, auch Alternativerklärungen neben den Effekten politischer Maßnahmen in Betracht zu ziehen. (Vgl. S. 385)

Dazu kommen methodische Schwierigkeiten für die Forschung, solche Effekte nachzuweisen, da die zielführendste Methode, das Experiment, unter anderem aus Gründen der ethischen Vertretbarkeit und der langen Dauer demografischer Entwicklungen als Untersuchungsmethode in den allermeisten Fällen nicht angewendet werden kann. (Vgl. S. 380 f.) Zur Verfügung stehen jedoch zahlreiche nicht-experimentelle Methoden, die etwa auf Umfragedaten (Surveys) beruhen, und die hier jeweils kurz dargestellt werden.

Diskussion

  1. Ich halte das Buch für Studierende sehr geeignet, weil es locker und zugleich präzise formulierend geschrieben ist, weil es die verschiedensten Aspekte der Demografie beleuchtet und unterschiedliche Interessen berücksichtigt. So werden statistische, mathematische, historische, angewandte, verwaltungstechnische, soziologische, geografische, wirtschaftliche und andere Aspekte der Bevölkerungswissenschaft in ausgewogener Weise präsentiert. Die Studie ist nicht „theorielastiger“ als nötig und bringt zahlreiche anschauliche Beispiele. Der Aufbau ist durchdacht, und kompliziertere Darstellungsbereiche bauen auf vorangehenden Erklärungen auf.
  2. Das Lehrgebäude der Demografie wird teilweise relativiert, d.h. die Autorin steht dem Fach auch kritisch gegenüber. So ist das Unterkapitel 3.4. „Demografische Fehlschlüsse“ (S. 84-88) auch eine Warnung, den bevölkerungswissenschaftlichen Theorien gegenüber kritisch eingestellt zu bleiben. Ein konkretes Beispiel für eine Fehlerquelle der Statistik wird etwa auch in Kapitel 9, „Mortalität“, hinsichtlich der Lebenserwartung von Migranten gegeben: „In der Vergangenheit haben Studien in den USA, Kanada, England und Deutschland wiederholt ergeben, dass Menschen mit Migrationshintergrund länger leben als die einheimische Bevölkerung.“ (S. 326) Die Autorin erklärt in der Folge, dass ein „statistisches Artefakt“ dieses Ergebnis verursacht haben kann. Denn für Deutschland dürfte es eher auf die Tatsache zurückgehen, dass Wegzug und Sterbefälle von ausländischen BürgerInnen von der Bevölkerungsstatistik des Statistischen Bundesamtes nicht immer registriert wurden. Die Daten der Deutschen Rentenversicherung ergaben dagegen nach einer Studie aus dem Jahr 2009 eine durchschnittliche Lebenserwartung, die knapp unter jener der Deutschen lag. (Vgl. S. 327)
    Seitens der Rezensentin wurde allerdings eine grundlegende Auseinandersetzung mit der Problematik von Bevölkerungsprognosen etwas vermisst. Zwar wird diese Problematik etwa im Zusammenhang mit dem logistischen Modell des Bevölkerungswachstums (siehe Kapitel 5) angesprochen. Dieses Modell wurde „lange Zeit als Prognoseverfahren für die Entwicklung einzelner Nationen und der gesamten Weltbevölkerung eingesetzt“ (S. 167), aber die mit diesem Modell im Jahr 1920 prognostizierte „obere Grenze von 194 Mio. Einwohnern für die USA“ erwies sich bis heute nicht als die konkrete „Sättigungsgrenze“. (S. 167 f.) Die Kritik gilt an dieser Stelle jedoch eher dem logistischen Modell als Bevölkerungsprognosen an sich. (So werden etwa Bevölkerungsprognosen über mehr als zehn Jahre hinaus von einem Teil der DemografInnen als wissenschaftlich fragwürdig betrachtet, beziehungsweise gelten sie nur unter der Voraussetzung, dass die Grundannahmen sich nicht verändern oder nur so, wie es im jeweiligen Modell vorgesehen ist. Deshalb werden für Prognosen oft auch verschiedene Varianten mit unterschiedlichen Annahmen erstellt. Soweit der Wissensstand der Rezensentin, der natürlich das Interesse an der neuesten Entwicklung in diesem Bereich impliziert.) Weiters wäre ein Hinweis auf Datenschutzmaßnahmen im Zusammenhang mit Volkszählungsdaten oder sonstigen Daten von Befragungen oder aus amtlichen Registern, die für die wissenschaftliche Forschung verwendet werden (siehe Kapitel 4), von Interesse gewesen.
  3. Meiner Ansicht nach ist das Buch auch für WissenschaftlerInnen anderer Disziplinen als Nachschlagewerk geeignet, weil es Theorien, deren UrheberInnen und fallweise ihre Weiterentwicklung kurz erklärt und auf weiterführende Literatur verweist.
  4. Zum zeithistorischen Aspekt der Studie soll noch Folgendes angemerkt werden: Grundlage der oben angesprochenen, kurzen Auseinandersetzung mit der belasteten Vergangenheit des Fachs in der NS-Zeit (Kapitel 1, Abschnitt 4) ist vor allem Bernhard vom Brockes fundiertes Werk „Bevölkerungswissenschaft – Quo vadis. Möglichkeiten und Probleme einer Geschichte der Bevölkerungswissenschaft in Deutschland“ (Opladen: Leske + Budrich 1998). Es wird auch immer wieder aus dem Artikel von Michael Sontheimer, „Lange braune Schatten“, im Spiegel Special 8 (2006, S. 56-58) zitiert. Damit sind nach Ansicht der Rezensentin die wichtigsten Aspekte dieser Frage vertreten, allerdings nur teilweise. Es ist klar, dass in einem kurzen Überblick über die Rolle der Bevölkerungswissenschaft im „Dritten Reich“ nicht die gesamte umfassende Literatur zu diesem Thema, von Götz Aly bis zu Jutta Wietog, behandelt werden kann. Nach Ansicht der Rezensentin hätten aber doch zumindest jene umfassenden und ergiebigen Bemühungen zur Aufarbeitung der belasteten Vergangenheit der Disziplin, die in den Jahren von 1998 bis 2004 wesentlich auf die Initiative von Rainer Mackensen zurückgingen, in einer Anmerkung erwähnt werden können.

Fazit

Das Buch befasst sich mit den wichtigsten Schwerpunkten der modernen Bevölkerungswissenschaft und Demografie wie Fertilität (Fruchtbarkeit/ Geburtenzahlen und -raten), Mortalität (Sterblichkeit), Migration (Wanderung), Bevölkerungswachstum, Alterung, Familienpolitik, erklärt die Fachbegriffe, die Wege und Methoden der Datenbeschaffung, die Methoden der Datenanalyse und die Erstellung demografischer Theorien, Modelle und Simulationen. Es weist auf den praktischen Aspekt der Demografie hin, die in vielen Politikbereichen, wie etwa der Familienpolitik, aber auch der Gesundheits-, der Wohnungs- oder der Wirtschaftspolitik zur Anwendung kommen kann. Der Schwerpunkt der Studie liegt auf Deutschland, jedoch mit Ausblicken auf unterschiedliche andere Länder und unter Einbeziehung von Fragen, die die gesamte Weltbevölkerung betreffen.

Das Werk vermittelt insgesamt einen sehr guten Einstieg in das Thema und verwendet eine sensible Terminologie. Es ist außerordentlich facettenreich und beschäftigt sich mit vielen Spezialfragen und -aspekten, von denen hier nur eine kleine und zugegebenermaßen subjektive Auswahl gegeben werden konnte.

Rezension von
Dr. phil. Gudrun Exner
freie Historikerin
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Zitiervorschlag
Gudrun Exner. Rezension vom 16.05.2019 zu: Henriette Engelhardt: Grundlagen der Bevölkerungswissenschaft und Demografie. Ergon Verlag (Würzburg) 2016. ISBN 978-3-95650-167-8. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/25196.php, Datum des Zugriffs 19.01.2025.


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