Rita Braches-Chyrek, Tilmann Kallenbach u.a. (Hrsg.): Bildungs- und Teilhabechancen geflüchteter Menschen
Rezensiert von Dr. Doris Gräber, 16.04.2019

Rita Braches-Chyrek, Tilmann Kallenbach, Christina Müller, Lena Stahl u.a. (Hrsg.): Bildungs- und Teilhabechancen geflüchteter Menschen. Kritische Diskussionen in der Sozialen Arbeit. Verlag Barbara Budrich GmbH (Opladen, Berlin, Toronto) 2018. 250 Seiten. ISBN 978-3-8474-2226-6.
Thema und Entstehungshintergrund
Der Sammelband vereinigt Beiträge aus dem thematischen Feld von Migration, Flucht und Sozialer Arbeit und reiht sich damit in eine ganze Reihe jüngst erschienener Literatur zu diesem Thema ein. Der Fokus liegt auf der Präsentation von Forschungsarbeiten in diesem neu „entdeckten“ Forschungsfeld, in denen sich die Diskussionen einer zweitägigen Tagung abzeichnen, die 2017 an der Otto-Friedrich-Universität in Bamberg stattfand und vom dortigen Lehrstuhl für Sozialpädagogik organisiert war. Dabei stand die kritische Reflexion von Macht- und Herrschaftsverhältnissen und die sich daraus ergebenden Ambivalenzen und Verstrickungen für die Profession und die Disziplin der Sozialen Arbeit mit geflüchteten Menschen im Vordergrund.
Herausgeber*innen
Die Herausgeber*innen [1] haben die o.g. Tagung „Soziale Arbeit mit Geflüchteten“ in Bamberg organisiert und gehören alle dem Institut für Erziehungswissenschaften der Otto-Friedrich-Universität in Bamberg an.
Frau Prof. Dr. Rita Braches-Chyrek ist dort Inhaberin des Lehrstuhls für Sozialpädagogik, Tilmann Kallenbach und Christina Müller sind Mitarbeiter*innen am Lehrstuhl, Lena Stahl ist dort aktuell als ehemalige Mitarbeiterin gelistet.
Aufbau
Der Band beginnt mit einer Einführung durch die Herausgeber*innen und ist danach in fünf Abschnitte gegliedert.
- Es finden sich grundlagentheoretische Perspektivierungen,
- intersektionale Perspektiven und
- politische Positionierungen genauso wie
- ein inhaltlicher Schwerpunkt auf Kinderrechte und Partizipation sowie
- ein Abschnitt zu empirischen Ergebnissen.
Zuletzt findet sich eine Übersicht über die beitragenden Autor*innen.
Inhalt
Einführung
Die Herausgeber*innen Rita Braches-Chyrek, Tilman Kallenbach, Christina Müller und Lena Stahl nehmen Merkels „Wir schaffen das!“ als Ausgangspunkt für eine Nachzeichnung der Debatten und Entwicklungen der Flüchtlingsfrage in Deutschland seit 2015 und zwar sowohl auf Seiten der Regierung als auch der Bürgerschaft (S. 11-22). Dabei werden vor allem Positionierungsprozesse in den Blick genommen und die Frage, wer mit dem „wir“ gemeint ist und von welchen „anderen“ sich dieses angenommene Kollektiv abgrenzt. Aber auch – und das insbesondere mit Blick auf die Institution der Sozialen Arbeit – die Frage nach dem, was zu „schaffen“ ist, was das Ziel ist oder sein sollte. Nicht weiter überraschend wird „Fluchtmigration“ schließlich als ein Tätigkeitsfeld Sozialer Arbeit postuliert, in dem sich die unauflösbar paradoxen Ansprüche an die Profession besonders deutlich abzeichnen (S. 15). Dementsprechend sollen die nachfolgenden Beiträge weder Überblickwissen vermitteln noch Handlungsanweisungen entwerfen, sondern in Form von Berichten aus Forschung und Praxis die Ambivalenzen und Verstrickungen der Sozialen Arbeit mit Geflüchteten beleuchten und „neue Perspektiven für eine reflexive und kritische sozialpädagogische Forschung aufzeigen“ (S. 15). Die sprachlich an einigen Stellen ungenaue Einführung weist ein lückenhaftes Literaturverzeichnis auf.
Grundlagentheoretische Perspektivierungen
Als grundlagentheoretische Perspektivierungen werden zwei Beiträge präsentiert, die konstruktivistisch orientiert sind und vor diesem Hintergrund Selbst- und Fremdzuschreibungsmechanismen in Bezug auf geflüchtete Menschen aufgreifen.
Ingmar Zalewski fragt in seinem Beitrag nach den Herausforderungen für den Status von geflüchteten Menschen als soziales Subjekt, die er vor allem in den exkludierenden Lebensbedingungen und dem damit drohenden sozialen Ausschluss begründet sieht (S. 25-34). Anhand qualitativer Einzelinterviews mit geflüchteten jungen Männern aus Kamerun werden vier herausfordernde Konstellationen herausgearbeitet, die als „Ankommen als Migrant“ (S. 25), „Ankommen als Schwarze Person“ (S. 28), „Ankommen als Flüchtling“ (S. 30) und „Ankommen in der Gemeinschaftsunterkunft“ (S. 32) benannt werden. Hervorzuheben ist, dass durch die verwendeten Zitate den interviewten Geflüchteten eine Stimme gegeben und dem Status als „Forschungsobjekt“ entgegengewirkt wird. Gleichzeitig fehlt aber Information darüber, mit welcher Auswertungsmethode gearbeitet wurde, sodass die filternde Hand des Wissenschaftlers unreflektiert bleibt. Auch eine theoretische Verortung, wie es von einem grundlagentheoretischen Beitrag zu erwarten wäre, bleibt aus. So bleibt offen, warum für die Herausforderungskonstellation „Flüchtling“ das Stigma-Konzept herangezogen wird, während für die Herausforderungskonstellation „Schwarze Person“ auf einen postkolonial begründeten rassistischen Diskurs zurückgegriffen wird. Die soziale Kategorie des Geschlechts wird als Herausforderungskonstellation nicht in den Blick genommen, obwohl sie in den zitierten Interviewausschnitten durchaus aufscheint und bei der Wahl des Samples auch zu erwarten ist. Zuletzt wäre auch eine Einordnung der Funde bezüglich ihrer Bedeutung für die Soziale Arbeit mit geflüchteten jungen Männern wünschenswert und über die Konstellation „Ankommen in der Gemeinschaftsunterkunft“ auch leicht möglich gewesen.
Mariam Arouna (S. 35-47) begründet historisch, dass die Konstruktion „Flüchtling“ eng mit der Logik einer Distanzierung verbunden ist, wenn Geflüchtete (nicht zuletzt durch die Definition in der Genfer Flüchtlingskonvention) als fremd, nicht-zugehörig und schutzbedürftig konstruiert werden (S. 40f). Zudem etablierte sich durch die Fokussierung auf Fluchtgründe ein Diskurs, in dem zwischen „echten“ Flüchtlingen als passive Opfer und „unechten“ Flüchtlingen als handlungsfähigen und bedrohlichen Kriminellen unterschieden wird. Problematisch sieht die Autorin vor allem die implizite Normalität dieser Vorstellungen, die nicht hinterfragt werden und damit Ungleichheitsverhältnisse stärken. Für die Soziale Arbeit mit Geflüchteten ergibt sich aus der Konstruktion der Adressat*innen als schutzbedürftig, handlungsunfähig und nicht-zugehörig ein unauflösbarer Widerspruch zwischen dem Auftrag der Ermöglichung von Teilhabe und der definierten Nicht-Zugehörigkeit (und damit logisch verbundener Nicht-Teilhabe) von Flüchtlingen. Auch die Viktimisierung von Flüchtlingen, aus der sich deren Hilfsbedürftigkeit und damit Klientelisierung ergibt, sieht Arouna kritisch. Doch endet, was hier Ausgangspunkt einer kritischen und inspirierenden Diskussion der Funktion Sozialer Arbeit im Fluchtbereich sein könnte, in einem vage gehaltenen Plädoyer für eine Selbstreflexion der Profession und eine Neuverortung in transnationalen Zusammenhängen. Soziale Arbeit solle sich aus dieser Perspektive weniger an der Hilfsbedürftigkeit ihrer Adressat*innen orientieren, sondern vielmehr die Reproduktion gesellschaftlicher Ungleichverhältnisse und deren Überwindung in den Blick nehmen (S. 46), eine Thematik, die in dem Abschnitt „Intersektionale Perspektiven“ weitergeführt wird.
Kinderrechte und Partizipation
Die hier versammelten Beiträge beziehen sich inhaltlich auf die Gruppe geflüchteter Kinder und Jugendlicher und deren Berücksichtigung als neue Adressat*innengruppe in Organisationen der Kinder- und Jugendhilfe.
Ausgehend von der Frage, wie geflüchteten Menschen als heterogener Adressat*innengruppe Sozialer Arbeit „Zugang zu gesellschaftlicher Teilhabe“ (51) erschlossen werden kann, skizzieren Bernd Christmann, Jan Pöter und Maik Sawatzki die Bedeutung der beiden Handlungsbereiche bzw. Querschnittsaufgaben Sexualpädagogik (S. 55ff) und Kinderschutz (S. 58ff). Trotz fehlender statistischer Belege können beide Bereiche als relevant für Teilhabechancen gesehen werden, sei es über die Bearbeitung sexueller Gewalterfahrung (Sexualpädagogik) oder die Prävention von Kindeswohlgefährdungen, die von den Autoren als Teilhaberisiken eingeschätzt werden. Für die Angebotsstruktur ergibt sich die Notwendigkeit einer interkulturellen Öffnung, um geflüchteten Menschen eine Teilhabe an diesen Angeboten zu ermöglichen, wobei die Autoren einer differenz- und migrationssensiblen Ausgestaltung des Regelangebots gegenüber einer spezialisierten Migrationsberatung den Vorzug geben. Fluchterfahrung und die Herkunftsgeschichte von Familien oder Ratsuchenden könnten in dieser Form als Risikofaktoren zum Tragen kommen, ohne dass die sozialen Probleme der Adressat*innen ethnisiert oder kulturalisiert werden. Der Beitrag kann als Plädoyer für eine interkulturelle Öffnung und Sensibilisierung von Regeldiensten und deren Akteur*innen gelesen werden, wobei die Autor*innen auf die einschlägige Literatur hierzu (als Beispiele seien die Veröffentlichungen von Gaitanides und Handschuck/Schröer genannt) keinen Bezug nehmen.
Einleitend zu ihrem Beitrag nimmt Christina Müller (S. 67-78) eine vergleichsweise umfangreiche Einführung in die Fluchtthematik als rechtlich und diskursiv hervorgebrachte Differenzkonstruktion vor, die zu Ungleichheit und struktureller Benachteiligung führt. Sie zieht dazu Schlagworte aus unterschiedlichen theoretischen Perspektiven wie das „othering“ (S. 68), „civic stratification“ (ebd.) und den Kapitalbegriff nach Bourdieu (S. 69) heran, ohne diese jedoch systematisch aufeinander zu beziehen. In Bezug auf Kinder mit Fluchthintergrund zeigen sich Differenzkonstruktionen darin, dass Minderjährigen in Begleitung ein anderer Status zugeschrieben wird als unbegleiteten jungen Geflüchteten. So erfährt das Thema „Unbegleitete Minderjährige Geflüchtete“ viel mehr Aufmerksamkeit, während Kinder, die in ihren Familien leben, bisher kaum in das Blickfeld – auch der Forschung – gerückt sind. Das wäre jedoch umso wünschenswerter, da diese Kinder im Gegensatz zu unbegleiteten, minderjährigen Geflüchteten nicht als schutzbedürftig eingestuft werden und deshalb nicht nach SGB VIII versorgt werden, sondern unter das Asylgesetz fallen. Aus diesem Grund sind sie auch denselben räumlichen Restriktionen und damit verbundenen Teilhabegrenzen unterworfen wie ihre Eltern. Die Autorin plädiert nicht nur für mehr Forschung zu den Lebensrealitäten dieser Gruppe von geflüchteten Kindern, sondern auch für eine partizipative Forschung, die die Kinder als Subjekte mit einbezieht.
Meike Kampert und Tanja Rusack beschäftigen sich in ihrem Beitrag mit Schutzkonzepten zum Schutz des Kindeswohls in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe und die Herausforderungen, die sich hierfür mit geflüchteten Kindern und Jugendlichen als neue Adressat*innengruppe ergeben (S. 79-93) Um wirksam zu sein und zu einem Schutzklima in Organisationen beizutragen, darf es sich bei Schutzkonzepten nicht um starre Checklisten oder abgeheftete Verhaltenskodizes handeln. Sie sollten vielmehr Anstoß für Aushandlungs- und Entwicklungsprozesse in Einrichtungen sein, die sich als lernende Organisationen begreifen. Teil dieser Prozesse ist die Entwicklung von Beteiligungs- und Partizipationsmöglichkeiten für die Kinder- und Jugendlichen selbst, die Berücksichtigung ihrer Perspektive und auch deren aktive Mitgestaltung am Konzept. Insbesondere für junge Menschen mit Fluchterfahrung sehen die Autorinnen hier ein großes Potenzial, denn nur sie „selbst können sagen und bestimmen, wie und wo sie Diskriminierung, Benachteiligung und Rassismus empfinden und sich Schutz und Unterstützung sowie Beteiligung und Begleitung wünschen“ (S. 87f). An dieser Stelle wäre es wünschenswert, wenn die Perspektiven von fluchterfahrenen Kindern nun auch konkretisiert und in die vorher vorgestellte Schutz-Trias (Schutz der persönlichen Integrität, Schutz innerhalb der Organisation, Schutz im sozialen Umfeld) eingeordnet würden oder ein Best-Practice-Beispiel vorgestellt würde. So ist beispielsweise die Frage, wie Schulen und Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe mit Abschiebungen umgehen (können), eine durchaus reale. Doch verbleibt der Beitrag hier auf dem Niveau eines Plädoyers und informiert stattdessen abschließend über ein wissenschaftlich begleitetes Fortbildungsprojekt zur Erarbeitung von Kinderschutzkonzepten, das sich an Fachkräfte und Ehrenamtliche richtet.
Ausgewählte Empirische Ergebnisse
Dieser Abschnitt ist mit fünf Beiträgen auf 50 Seiten der umfassendste Teil des Sammelbandes, enthält jedoch nicht ausschließlich Beiträge, die sich auf Forschungsergebnisse beziehen.
Der Beitrag von Ulrich Deinet und Katja Jepkens ist zweigeteilt. Zuerst wird basierend auf einem Forschungsprojekt in zwei Stadtbezirken Düsseldorfs die Entwicklung und Struktur von kommunalen Kommunikationsnetzwerken und Kontakten in der Arbeit mit Geflüchteten nachgegangen (S. 97-103). Mit Fokus auf die interviewten Sozialbetreuer*innen wird festgehalten, dass diese sich – auch aufgrund des schlechten Betreuungsschlüssels – vor allem als Vermittler*innen für weitere Angebote sehen und inhaltlich koordinierend und damit in verschiedenen Themenbereichen tätig sind. Professionelle Rollenbilder hingegen seien nur wenig ausgeprägt, wobei hier auch das Sample „Sozialbetreuer*innen“ entscheidend sein mag [2]. Im zweiten Teil werden die Ergebnisse einer „kleinen“ (S. 104) Begleitstudie vorgestellt, bei der Mitarbeiter*innen der Offenen Kinder- und Jugendhilfe interviewt wurden (S. 103-110). Obwohl einerseits nur wenig Unterschiede zwischen den „Stammbesucher*innen“ und der neuen Zielgruppe der Kinder, Jugendlichen und Familien mit Fluchthintergrund zu bestehen scheinen, wird andererseits von einem höheren Betreuungsaufwand berichtet. Die Wahrnehmung der professionellen Rolle der Mitarbeitenden hat sich verändert, zum einen wegen veränderter Rollenzuschreibungen und Verwechslungen als Lehrer*innen oder Betreuer*innen durch die Adressat*innen mit Fluchthintergrund, andererseits aber auch durch die Übernahme neuer Aufgaben wie die Sensibilisierung der Stammbesucher*innen für die Probleme von Geflüchteten und dem Abbau von Vorurteilen. Die Netzwerkarbeit und die Informationsarbeit an Schulen und in Wohnheimen rückt in den Vordergrund und auch für die Struktur der OKJH ergeben sich Veränderungen wie neues Personal oder veränderte Öffnungszeiten. Leider geben die Autor*innen zu beiden Abschnitten keine detaillierten Informationen über die Datenbasis und deren Auswertung. Das Gesamtresümee des Beitrags (110f) geht deutlich über die zuvor dargestellten Ergebnisse hinaus, nimmt gleichzeitig aber keinen Bezug auf das Thema des Sammelbandes, den Bildungs- und Teilhabechancen geflüchteter Menschen.
In dem Beitrag von Hannes Reinke, Julian Klaus und Tobias Kärner geht es inhaltlich um die Phase der beruflichen Orientierung bei geflüchteten Jugendlichen (S. 113-126). Es wird zuerst eine Einführung in die Berufsorientierung im Allgemeinen sowie die Bedeutung betrieblicher Orientierungspraktika im Besonderen gegeben. In der vorgestellten Studie wurde das Erleben der Teilnehmenden in und von ebendiesen Orientierungspraktika, welches als wichtiger Faktor für eine gelungene berufliche Orientierung angesehen wird, in Form einer Tagebuchstudie erhoben. Es wird – wenig überraschend – festgestellt, dass diejenigen Praktikanten, die ein Praktikum in dem Beruf absolvieren konnten, in dem sie auch eine Ausbildung anstreben, sich signifikant stärker kompetent und sozial eingebunden erleben, als Praktikanten, deren Praktikumsplatz nicht ihren Berufswünschen entspricht (S. 119ff). Die Aussagefähigkeit der Ergebnisse ist durch die geringe Stichprobenzahl allerdings stark begrenzt, was die Autoren auch kritisch diskutieren. Leider wird die Methode der Tagebuchstudie in dem Beitrag selbst nicht weiter erläutert. Für die Rechtfertigung des t-Tests, insbesondere bei der extrem unterschiedlichen Stichprobengröße, fehlt im Beitrag auch die Prüfung auf Varianzhomogenität, auf Anfrage wurde mir aber mitgeteilt, dass der Levene-Test durchgeführt wurde. In Anbetracht der begrenzten Aussagekraft sind die Ergebnisse als erste Deskription zu verstehen, die ihre Bedeutung mehr als Hinweis für weiteres Forschungspotenzial entfaltet.
Marie Esefeld, Amina Fraij und Kirsten Müller behandeln das Thema Bildung in Bezug auf unbegleitete minderjährige Geflüchtete und stellt ein Teilergebnis einer Studie zur Bildungsaspiration dieser Gruppe vor (S. 127-140). Es wird gezeigt, dass junge Geflüchtete, die eine stärkere Unterstützung von Betreuer*innen und auch Lehrer*innen erhalten, insgesamt höhere Schulabschlüsse anstreben. Der Beitrag überzeugt durch die theoretische Verortung, eine transparente Darstellung der Untersuchungsmethoden und der Analyse. Allerdings zeigen die Ergebnisse starke Limitationen, die von den Autorinnen auch dargestellt und diskutiert werden. Eine Einbeziehung erster Erkenntnisse aus den Interviews hätte an dieser Stelle vielleicht zu möglichen Erklärungsansätzen und damit auch zu mehr Information für die Leserschaft beigetragen.
Juri Kilian stellt mit den „Hilfen für junge Volljährige“ eine bisher wenig in den Blick genommene Unterstützungsmöglichkeit für junge Geflüchtete aus der Kinder- und Jugendhilfe vor (S. 141-148). Anhand des 15. Kinder- und Jugendberichts wird deutlich gemacht, wie wichtig diese Übergangshilfen insbesondere für geflüchtete Jugendliche und junge Erwachsene sind. Gleichzeitig wird aber auch deutlich, dass die Phase des Care Leavings sowohl in der Forschung als auch in der Gewährung von Hilfen stark marginalisiert ist. Der Beitrag stellt keine empirischen Ergebnisse vor, wie aufgrund der Zuordnung zu diesem Abschnitt zu erwarten wäre, sondern beschreibt die Ist-Situation und endet mit einem Plädoyer für mehr Forschung und einer stärkeren politischen Positionierung der Sozialen Arbeit.
Auch der Beitrag von Markus Kraft und Daniel Poßeckert enthält kein Forschungsergebnis, sondern ist eine fundierte Deskription des Tätigkeitsfeldes von Asylsozialberater*innen und der einzige Beitrag des Sammelbandes aus der Perspektive der Praxis heraus (S. 149-163). Dazu erläutern die Autoren zunächst die organisationalen Bedingungen und die strukturelle Einbindung der Asylsozialberatung in der Aufnahmeeinrichtung Bamberg und stellen diesen Organisationstyp auch in einen geschichtlichen Zusammenhang. Nachfolgend werden die Beratungsschwerpunkte sowohl während des Asylverfahrens als auch nach dem Erhalt eines Bescheids dargestellt, wobei vor allem die engen Grenzen und die Probleme im Falle eines abgelehnten Asylgesuchs ausführlich erläutert werden. Der Beitrag benennt konkrete Dilemma-Situationen der Asylsozialberatung und nimmt kritisch Bezug auf die restriktiven bayrischen Beratungsrichtlinien, die Asylgesetzgebung und deren Umsetzung. Hilfreich wäre eine genauere Ausdifferenzierung der Asylsozialberatung gegenüber der Asylverfahrensberatung gewesen. Die recht pragmatisch gehaltene Prognose, dass sich Asylsozialberatung künftig verstärkt auf die Rückkehrberatung beziehen wird, überrascht etwas angesichts des zuvor hervorgehobenen politischen Auftrags der Asylsozialberatung (S. 155).
Intersektionale Perspektiven
Dieser Abschnitt vereint drei Beiträge, welche die postkolonialen und machtkritischen Perspektivierungen, die auch schon in einigen vorherigen Beiträgen angeklungen sind, systematisch aufgreifen und deren Bedeutung für die Soziale Arbeit mit Geflüchteten diskutieren.
Norbert Frieters-Reermann, Nadine Sylla und Marianne Genenger-Stricker präsentieren einen Beitrag, der durch seine sprachliche Verständlichkeit mit gleichzeitiger Präzision besticht (S. 167-182). Er enthält im ersten Teil eine kritische Reflexion des eigenen Forschungsprojektes, das sich mit Zugang und Teilhabe von jugendlichen Geflüchteten im außerschulischen Bildungsbereich beschäftigt. Der Beitrag bedient sich dazu einer rassismuskritischen Perspektive, aus der heraus die Reproduktion von Ungleichheitsverhältnissen durch die Forschung und deren Akteur*innen selbst und zwar als Kategorien und Zuschreibungen (S. 171f), im Sinne von Macht- und Dominanzverhältnissen (S. 172f) und als Sprach- und Ausdrucksbarrieren (S. 173f) analysiert wird. Diese Reproduktionsmechanismen wirken auch auf die Bildungsteilhabe der beforschten Gruppe in außerschulischen Bildungssettings. So stellen die Autor*innen im zweiten Teil als Ergebnis ihrer Forschung die Zugangsmöglichkeiten und -barrieren von geflüchteten Jugendlichen auf verschiedenen Ebenen dar. Daraus abgeleitet stellen sie konkrete Reflexionsfragen für Organisationen als auch für Akteur*innen der außerberuflichen Bildung vor. Mit seinem durchgängig reflexiven Charakter ist der Artikel eine empfehlenswerte Lektüre für alle, die selbstkritisch und reflektiert in diesem Bereich forschen (möchten).
Hannah von Grönheim analysiert die Soziale Arbeit mit geflüchteten Menschen als Arbeit in einem System struktureller Ungleichheit (S. 183-196), die durch die rechtliche und kulturelle Differenzierung von „Anderen“ hergestellt wird und sich in institutionellen Praxen niederschlägt. Mit Bezug auf Foucault wird das asylpolitische Ungleichheitssystem als ein Machtsystem beschreibbar, das diskursiv hergestellt wird. Für die Soziale Arbeit schlägt die Autorin den Diversityansatz vor (S. 186), mit dessen Hilfe sich die Profession selbst reflektieren kann und soll, um ihre Beteiligung an der Reproduktion von Ungleichheit zu erkennen bzw. zu vermeiden. Nachfolgend werden als Differenzkategorien für den „Ungleichheitsfaktor Flucht“ (S. 186; Hervorh. i. O.) Rassismus und Klassismus und deren Überschneidungen genannt, aber auch Sexismus, Altersdiskriminierung und Ableismus finden Erwähnung. Als methodische Ansätze einer diskriminierungskritischen und diversity-reflexiven Sozialen Arbeit werden zuletzt der Ansatz der Kritik, der Ansatz des Perspektivwechsels sowie der Ansatz der Reflexion vorgestellt, die jedoch in ihrer praktischen Bedeutung vage bleiben. Hier wäre eine Vorstellung der wenigen Praxisbeispiele, die im Schlusssatz erwähnt werden, gewinnbringend gewesen (S. 194). Auf machtkritische Theorien Sozialer Arbeit wie den Menschenrechtsansatz von Staub-Bernasconi, dessen systemische Denkfigur durchaus als intersektionale Analysemethode für die Praxis Sozialer Arbeit gesehen werden kann, nimmt der Beitrag keinen Bezug.
Der Bezug auf Theorien Sozialer Arbeit fehlt auch im nächsten Beitrag von Lena Stahl (S. 197-208). Auch in diesem geht es um postkoloniale und intersektionale Perspektiven auf Soziale Arbeit mit geflüchteten Menschen, diesmal stärker verbunden mit dem Aspekt der Identitätszuschreibungen, die hinter der Konstruktion von Differenz im Sinne des Eigenen und Fremden, des Wir und des Anderen, stehen. Wie auch schon in einigen vorherigen Beiträgen wird die Verknüpfung hergestellt, dass Soziale Arbeit selbst als legitimierte Hilfe für Hilfsbedürftige Zuschreibungen vornimmt und dadurch in Gefahr gerät, Differenzkonstruktionen mit zu (re-) produzieren, und zwar auf der Ebene der Institution, auf der Ebene des individuellen Handelns von Fachkräften und auf der Ebene von Organisationsstrukturen. Als „Lösung“ wird die Erkenntnis präsentiert, „das alle Formen von Identitäten als flexibel zu betrachten sind“ (S. 206) und die Grenzen der eigenen professionellen Kompetenz im Sinne eines „Wissens über Andere“ gesehen werden (ebd.).
Politische Positionierungen
In diesem Abschnitt finden sich nicht – wie der Titel vermuten lässt – Beiträge, in denen die Autor*innen sich selbst politisch positionieren, sondern Artikel, die Positionen und Positionierungen unterschiedlicher Gruppen wie Studierende, Geflüchtete, gesellschaftliche Akteur*innen und freiwillig Engagierte im Asylbereich beleuchten. Dabei wird auf Forschungsprojekte mit sehr unterschiedlichen methodischen Herangehensweisen zurückgegriffen.
Im ersten Beitrag dieses Abschnitts stellen Wassilios Baros, Thomas Theurer und Ricarda Gugg die Positionierungsmuster von Studierenden vor. Diese Muster wurden im Zuge einer Online-Befragung als offene, schriftliche Stellungnahmen zu einem Foto, das ein überfülltes Boot mit Menschen auf der Flucht zeigt, erhoben. Mit Hilfe der quantitativen Inhaltsanalyse und der latent class analysis konnten sechs Klassen gebildet werden, die sowohl Inhalt (z.B. die Thematisierung von Fluchtgründen) als auch die Artikulation von Emotionen berücksichtigen. In einem zweiten Schritt wurden diese Klassen zu den Ergebnissen von Tests zu Wissen, Regelbewusstsein und Sozialkompetenz in Verbindung gesetzt. Es ergibt sich eine große Gruppe von „sozialkompetenten Skeptiker*innen“ (fast ¾ der Befragten, S. 225) und eine kleine Gruppe aus „regelbewussten Wissenden“ (ebd.), was sicherlich auch auf das Sample, das sich hauptsächlich aus Studierenden der Erziehungs- und Sozialwissenschaften zusammensetzt, zurückzuführen ist. In der abschließenden Diskussion wird kritisch hervorgehoben, dass insgesamt wenig Befragte auf globale Ungleichheitsverhältnisse Bezug nehmen, womit eine „mangelnde Einsicht in […] transnational wirksame Mechanismen“ (S. 226) einhergeht. Dieses mangelhafte Wissen wiederum führt dazu, dass Emotionen eher auf einer Ich-Ebene zu finden sind (z.B. Mitleid oder Erschrecken), während kaum das als politisch bezeichnete Gefühl der Empörung zu finden ist. Hier sehen die Autor*innen eine wichtige und dringende Aufgabe kritischer Sozialer Arbeit, wenn diese auch als moralische und politische Bildung verstanden wird. Der Beitrag besticht durch die in der Disziplin der Sozialen Arbeit selten anzutreffende methodische Herangehensweise, die sauber und anspruchsvoll dargelegt wird. Auch die Bedeutung der Ergebnisse für die Profession der Sozialen Arbeit wird schlüssig und nachvollziehbar diskutiert.
Tilman Kallenbach setzt in seinem Beitrag die Geflüchtetenproteste seit dem Jahr 2012 als eine Soziale Bewegung in Bezug zur Profession der Sozialen Arbeit (S. 231-242). Dazu stellt er zuerst den Verlauf und die Kernforderungen der Proteste dar, die er mit Hilfe der Hegemonialanalyse auf den drei Ebenen des Kapitalismus und Kolonialismus (global), der Asylpolitik (institutionell) und der Lebensverhältnisse von Geflüchteten (sozial) verortet. Nachfolgend werden die Proteste als Soziale Bewegung definiert, in der Adressat*innen Sozialer Arbeit spezifische Forderungen nicht zuletzt auch an diese selbst stellen. Wie auch schon in einigen vorhergehenden Beiträgen wird der Auftrag Sozialer Arbeit ausschließlich als „Hilfe für Hilfsbedürftigkeit“ (S. 237) und deren Verstrickung in nationalstaatliche Kontroll- und Unterdrückungsmechanismen thematisiert. So ergibt sich einmal mehr die Frage, wie Soziale Arbeit als „nicht paternalistische Hilfe gestaltet werden“ (S. 236) und sich der Herausforderung durch die Globalisierung stellen kann. Der Autor schließt mit dem Statement: „Asylsozialarbeit scheint mit dem bestehenden theoretischen Instrumentarium nur unbefriedigend zu bewältigen zu sein“ (S. 237) und schließt dem noch einen kurzen Blick in die Rezeption der Geflüchtetenproteste in einigen Fachzeitschriften der Sozialen Arbeit an. Anzumerken ist, dass auch in diesem Beitrag eine diskursorientierte und poststrukturalistische Perspektivierung Sozialer Arbeit vorgenommen wird, während Theorien Sozialer Arbeit selbst keinen Niederschlag finden. Diese hätten an manchen Stellen sicherlich auch zu Antworten auf die aufgeworfenen Fragen führen können.
Katharina Auer-Voigtländer stellt in ihrer „gegenständlichen Forschungsnotiz“ (S. 244) erste Ergebnisse aus einem explorativen Pilotprojekt zu Inklusions- und Exklusionsprozessen anerkannter Asylsuchender in ländlichen Gemeinden vor (S. 243-254). Der Fokus des Beitrags liegt dabei auf den Positionierungs- und Interaktionsmustern „gesellschaftlicher Akteur*innen“ und dem gesellschaftlichen Umgang mit Migrationskritiker*innen und Befürworter*innen. Interessant dabei ist, dass die Positionierung einerseits einen gesellschaftlichen Zwang darstellt, andererseits nur zwei Extrempositionierungen zulässt (pro bzw. contra). Auf der Ebene der Interaktion zeigen sich ebenfalls diese Pole, werden aber durch eine „breite, nicht agierende (unschlüssige) Mitte“ (S. 248) ergänzt, die sowohl aus Migrationskritiker*innen als auch den Befürworter*innen besteht. Beide Positionierungsgruppen nehmen sich als angreifbar bzw. angegriffen wahr und von berichten von negativen Interaktionen. In der Interpretation der Autorin steht bei der Positionierung und deren sozialer Bewertung in der Gemeinde nicht die soziale Inklusion/Exklusion von Migrant*innen im Vordergrund. Vielmehr sind diese eine Projektionsfläche für allgemeinere soziale Prozesse, mit deren Hilfe Status und Rang innerhalb der Gemeinde ausgehandelt oder erkämpft werden. Der inhaltlich interessante Beitrag zeigt einen Mangel an sprachlicher Präzision, wenn Erleben, Deuten, Interaktionen, soziale Aushandlungsprozesse, Herstellen von Wirklichkeit, Umgang und Alltagshandeln parallel genutzt werden ohne dass deren Bezüge und Abgrenzungen deutlich werden. Eine genaue Beschreibung des Samples der „gesellschaftlichen Akteur*innen“ wäre für das Verständnis und die Einordnung der Ergebnisse hilfreich gewesen.
Pascal Bächer skizziert die Entwicklung und Struktur des freiwilligen Engagements im Fluchtbereich seit 2015 und stellt die Herausforderungen dieser Art der Arbeit mit und für geflüchteten Menschen sowohl für die Beziehungs- und Interaktionsebene zwischen Helfenden und Hilfeempfangenden als auch für die professionelle, hauptamtliche Soziale Arbeit dar (S. 255-266). Grundlage sind erste Ergebnisse aus einem ethnografisch angelegten Forschungsprojekt im ländlichen Raum. Aus einer Fußnote ist zu schließen, dass die Auswertung des vielfältigen Datenmaterials aus teilnehmenden Beobachtungen, Interviews und ero-epischen Gesprächen in Orientierung an die reflexive Grounded Theory erfolgte. Es werden Spannungsfelder herausgearbeitet, die auch für die Soziale Arbeit relevant sind und immer wieder diskutiert werden, wie zum Beispiel die geringe gesellschaftliche Anerkennung des Engagements bei gleichzeitiger (auch emotional) starker Belastung, die Mühseligkeit der Arbeit, die leicht zu Enttäuschung führt, wenn Angebote nicht angenommen werden und die Ungleichheit der Gruppen (in diesem Fall vornehmlich ältere Frauen aus der „weißen“ Mehrheitsgesellschaft als engagierte Helfende gegenüber den in der Regel jungen, männlichen Geflüchteten als Hilfeempfangenden). Eng mit dieser verbunden sind Tendenzen zu Paternalismus, die Frage nach dem „richtigen“ Maß an Hilfe, Erwartungshaltungen an die Hilfeempfangenden als genügsame, dankbare, die Hilfe verdienende Menschen sowie die Ausbalancierung zwischen effektivem, aber distanziertem Hilfehandeln und emotionaler Nähe, die stärker mit sozialer Integration in Zusammenhang gebracht wird. In Bezug auf Gemeinwesenarbeit fasst Bächer zusammen, dass freiwilliges, bürgerschaftliches Engagement zwar ein wichtiger „Baustein“ (265) für Integration ist und Unterstützung im Sinne von Vernetzung, Koordination, Reflexions- und Supervisionsangeboten erhalten sollte. Gleichzeitig kann die gesamtgesellschaftliche und staatliche Verantwortung nicht auf diesen Bereich allein abgewälzt werden.
Diskussion
Wie die Herausgeber*innen selbst betonen, bietet dieser Sammelband weder Überblickswissen noch Handlungsempfehlungen (S. 15). Was also kann die Leser*innenschaft dann von der Lektüre der Beiträge erwarten?
Eine Vielzahl der Beiträge bezieht sich auf noch laufende Forschungsprojekte, sodass der Sammelband vor allem einen ersten Einblick in verschiedenste Forschungsaktivitäten im erst kürzlich „entdeckten“ Forschungsfeld „Flucht“ bietet. Dabei besticht vor allem das breite Spektrum der angewandten Erhebungs- und Auswertungsmethoden sowie die in vielen Beiträgen dominierende gesellschaftskritische Perspektive. Durch ihre globalen Bezüge fordert die Fluchtthematik geradezu heraus, intersektionale und machtkritische Perspektivierungen vorzunehmen und die interdisziplinäre theoretische Ausrichtung vieler Beiträge ermöglicht diese.
Obwohl die Beiträge inhaltliche und theoretische Überschneidungen aufweisen, gelingt es den Herausgeber*innen nicht, diese durch ihre Anordnung zueinander in Bezug zu setzen und so einen inhaltlichen Spannungsbogen zu schaffen. So entsteht bei der chronologischen Lektüre der Einzelbeiträge der Eindruck, zwischen ähnlichen Fragestellungen, Perspektivierungen und theoretischen Bezügen zu springen, statt diese sukzessive zu erschließen. Auch die namensgebenden Konzepte „Bildung“ und „Teilhabe“ bieten keinen übergreifenden Rahmen, da die Beiträge diese nicht nur unterschiedlich intensiv und gewichtet einbeziehen, sondern auch in einer großen Bedeutungsvielfalt, die nicht immer klar definiert wird. Die Schlagworte Bildung, Teilhabe, Partizipation, Integration und Inklusion werden oftmals parallel und manchmal auch diffus genutzt. Auch wer sich neue Impulse in Bezug auf Bildungs- und Teilhabechancen erhofft, wird enttäuscht sein.
Die durchaus kritischen und fundierten Analysen zu Ungleichheit und Ausschluss enden in der Mehrzahl in vage gehaltenen Plädoyers statt zu konkreten Perspektiven von Ermöglichung zu führen. Dies ist umso bedauerlicher, da gerade die Profession der Sozialen Arbeit, die in diesen Plädoyers adressiert wird, doch einen klaren (auch politischen) Auftrag hat, bei der Befriedigung dieser grundlegenden Bedürfnisse mitzuwirken, und zwar sowohl auf der Ebene der individuellen Unterstützung als auch auf der Ebene der Veränderung behindernder Machtstrukturen. Während sich viele Beiträge kritisch auf die erste Ebene als Hilfeauftrag für als hilfsbedürftig konstruierte, viktimisierte und klientelisierte Adressat*innen beziehen, bleibt die zweite Ebene in diesem Sammelband mehrheitlich außen vor. Dies zeigt sich aus meiner Sicht auch darin, dass keiner der Beiträge (Professions-) Theorien der Sozialen Arbeit aufgreift, um diese am relativ neuen Tätigkeitsfeld der Sozialen Arbeit mit geflüchteten Menschen zu prüfen, gegebenenfalls zu modifizieren oder daraus sogar Antworten bezüglich der Bildungs- und Teilhabechancen abzuleiten. Hier mag sich vielleicht eine Art der Geschichtsvergessenheit bei denjenigen Autor*innen zeigen, die aus einer vergleichsweise „jungen“ Perspektive auf die Disziplin und Profession der Sozialen Arbeit blicken. Oder der Sammelband fungiert an dieser Stelle als Spiegel dessen, was im Moment „en vogue“ ist in der sozialwissenschaftlichen Forschung: machtkritisch, intersektional, poststrukturalistisch und postkolonialistisch sind zentrale Stichworte, die sich in vielen Beiträgen finden.
Die Autor*innen sind in der Mehrzahl Nachwuchswissenschaftler*innen und es ist aus meiner Sicht begrüßenswert, dass der Sammelband dieser Gruppe die Möglichkeit eröffnet, sich in einem noch zu erschließenden Forschungsfeld zu präsentieren und zu positionieren. Möglicherweise sind hier jedoch auch die Gründe dafür zu finden, dass manche Beiträge sprachlich unpräzise sind und formale Schwächen wie fehlende Angaben im Literaturverzeichnis aufweisen.
Fazit
Der Sammelband ist geeignet, um sich einen ersten Einblick in eine bunte Mischung von Forschungsarbeiten zum Themenfeld Flucht und Soziale Arbeit zu verschaffen und sich eine machtkritische und intersektionale Perspektive auf das Thema zu erschließen. Er vereint eine Vielfalt methodischer Zugänge und eine Bandbreite von Themen, die sich grob den Bereichen Bildung und Partizipation zuordnen lassen. Die Qualität der Beiträge ist durchaus unterschiedlich, viele erfüllen eher die Funktion einer kurzen Beleuchtung als einer tiefergehenden Analyse. Der häufig plädoyerhafte Charakter vieler Beiträge gepaart mit ausbleibenden Konkretisierungen macht den Sammelband für Praktiker*innen wahrscheinlich eher weniger attraktiv, für Forschende mögen sich gerade hier interessante Anschlussmöglichkeiten bieten.
[1] Diese Form des Genderns wird für die Rezension herangezogen, weil sie sich auch in dem rezensierten Werk findet.
[2] Leider fehlen im Beitrag Informationen dazu, wie sich das Sample der Sozialbetreuer*innen zusammensetzt. In Berlin beispielsweise sind Sozialbetreuer*innen Angestellte in Flüchtlingswohnheimen, die keinen formalen sozialarbeiterischen oder ähnlich gestellten Bildungsabschluss haben und neben anderen Tätigkeiten (Wachdienst, Hausmeisterdienst) auch die Betreuung der geflüchteten Menschen übernehmen sollen. Die Anstellung als „Sozialbetreuer*in“ ist damit nach meinem Wissen ein Unikum des Fluchtbereichs. Professionelle, im Studium erworbene Rollenbilder können von dieser Gruppe nicht erwartet werden.
Rezension von
Dr. Doris Gräber
Diplom Rehabilitationspädagogin; Promotion an der Humboldt-Universität zu Berlin (Institut für Rehabilitationswissenschaften) zur Sozialen Arbeit in Flüchtlingswohnheimen mit einem Fokus auf die gesundheitlichen Probleme von geflüchteten Menschen
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Zitiervorschlag
Doris Gräber. Rezension vom 16.04.2019 zu:
Rita Braches-Chyrek, Tilmann Kallenbach, Christina Müller, Lena Stahl u.a. (Hrsg.): Bildungs- und Teilhabechancen geflüchteter Menschen. Kritische Diskussionen in der Sozialen Arbeit. Verlag Barbara Budrich GmbH
(Opladen, Berlin, Toronto) 2018.
ISBN 978-3-8474-2226-6.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/25199.php, Datum des Zugriffs 29.09.2023.
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