Michael Shermer: Der moralische Fortschritt
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 27.02.2019
Michael Shermer: Der moralische Fortschritt. Wie die Wissenschaft uns zu besseren Menschen macht.
Alibri Verlag
(Aschaffenburg) 2018.
564 Seiten.
ISBN 978-3-86569-285-6.
D: 32,00 EUR,
A: 32,90 EUR.
Grundner, Harald (Übersetzer) .
Ein positives Weltbild
Angesichts der Kakophonien von Ego- und Ethnozentristen, Fundamentalisten und Populisten, von Weltuntergangsstimmungen und pessimistischen Welteinschätzungen ist es gewagt – und gefragt – vom „moralischen Fortschritt“ zu sprechen; besonders in den Zeiten der Fake News und Wirklichkeitsverdrehungen für Moral als eine wünschenswerte und verlässliche Kategorie einzutreten. Ethische und moralische Verhaltensregeln bestimmen ein friedliches, gerechtes, gleichberechtigtes individuelles und kollektives Denken und Handeln.
Moral im anthropologischen Verständnis, beruht auf der Grundlage von Natur- und sozialen Gesetzen (Michael Tomasello, Eine Naturgeschichte der menschlichen Moral, 2016, www.socialnet.de/rezensionen/21987.php). Es ist der Bogen, der das moralische Universum umspannt und zur Gerechtigkeit aufsteigt, wie dies der Nobelpreisträger und Bürgerrechtler Martin Luther King bei seiner Rede beim Marsch nach Montgomery in Alabama den rund 25.000 Demonstranten zur Durchsetzung von Bürgerrechten zurief. Die aus der Zeit der Sklavenbefreiung stammende Metapher vom „Bogen des moralischen Universums“ benutzt der US-amerikanische Psychologe und Wissenschaftshistoriker Michael Shermer für seine These:
- Wir leben im moralischsten Zeitalter der Menschheitsgeschichte! Es ist das Zeitalter der Vernunft und der Aufklärung, das Menschen dazu befähigt, „den Glauben an Absurditäten aufzugeben“ und sich auf die Suche nach Menschlichkeit zu begeben (vgl. z.B. dazu auch: Jos Schnurer, Die Menschen motivieren, dass sie aufgeklärt und gebildet sein wollen! In: Pädagogische Rundschau, 3/2018, S. 363 – 373).
Diese Herausforderungen fallen weder vom Himmel; sie liegen auch nicht in den Genen, noch dürfen sie per Ordre du Mufti verordnet werden. Erforderlich ist, „Wissenschaft zur Ermittlung der Bedingungen einzusetzen, die am besten geeignet sind, die Sphäre der Moral zu erweitern“. Shermers Schluss daraus, dass „die experimentellen Methoden und die analytische Argumentation, angewandt auf die soziale Welt mit dem Ziel der Lösung gesellschaftlicher Probleme und der Besserstellung der Menschen in der Zivilisation ( ) die moderne Welt hervorgebracht (hat), eine Welt freiheitlicher Demokratien, bürgerlicher Rechte und Freiheiten, Gleichheit vor dem Gesetz, offener politischer und wirtschaftlicher Grenzen und eines Wohlstands, wie ihn bisher keine menschliche Gesellschaft erlebt hat“, freilich dürfte in dieser pauschalisierten Aussage auf erheblichen Widerstand und „Aber-Argumentationen“ stoßen.
Autor
Der Psychologe und Wissenschaftsjournalist Michael Shermer lehrt an mehreren US-amerikanischen Universitäten. Er gibt die Zeitschrift „Skeptic“ heraus und ist Autor des Fachblatts „Scientific American“. Mit dem Buch „Der moralische Fortschritt“ meldet er sich auf Deutsch zu Wort.
Aufbau und Inhalt
Es ist angebracht, die optimistischen Einschätzungen des Autors weder als Hirngespinste noch als blinde Prophezeiungen abzutun, sondern sich mit der Weltsicht auseinander zu setzen, dass viele Anzeichen auf Fortschritt hindeuteten und es gute Gründe für Optimismus gäbe. Zu klären nämlich sind die Begrifflichkeiten, die in Shermers Studie benutzt werden.
Er gliedert seine Analysen in drei Kapitel.
- Im ersten geht es um die „Definition des moralischen Fortschritts“;
- im zweiten um die „Anwendung des moralischen Fortschritts“ und
- im dritten Teil um die „Korrektur des moralischen Fortschritts“.
Sein Plädoyer für eine „Wissenschaft der Moral“ bedingt, den Begriffen und den daraus entstehenden, positiven und negativen Wirklichkeiten auf die Spur zu kommen. Welche individuellen und kollektiven Selbst- und Weltbilder stecken hinter Begriffen wie „Fortschritt“ und „Moral“? In der Verbindung dieser beiden Begrifflichkeiten entsteht der ‚moralische Fortschritt‘ mit dem Ziel der Durchsetzung von „Verbesserungen für das Überleben uns Gedeihen empfindungsfähiger Wesen“. Es ist also nicht nur der anthrôpos, der Mensch, der sich human weiterentwickeln soll, sondern alle Lebewesen auf der Erde. Diese nachhaltige, ganzheitliche Betrachtung leitet der Autor in seiner wissenschaftlichen Analyse von der „wachsenden Sphäre der Moral“ her und benutzt dazu eine Reihe von Wissenschaftsmodellen, wie z.B. den Flynn-Effekt, Spieltheorien, Belohnungs-, Bestrafungs- und Signalmuster. Wenn Wissenschaft Wissen schafft, muss danach gefragt werden, wie dieses Wissen entsteht, woher es kommt und was es bewirkt. Die Feststellung, dass bestimmte Denkrichtungen und Verhaltenskodizes keine Quelle der Moral sein können, wie z.B. die Religion – zumindest solange es nicht gelingt, Religiosität vom Anspruch von Alleinstellungsmerkmalen und Fundamentalismen zu befreien und einen gleichberechtigten, interreligiösen, rationalen Dialog zustande zu bringen.
Die Bedeutung des moralischen wissenschaftlichen Denkens und Tuns, als alltägliche Allgemeinbildung, wie als Profession, sollte beruhen auf den zehn goldenen Regeln:
- Behandle andere so, wie du von ihnen behandelt werden möchtest!
- Vorher fragen, ob eine Handlung richtig oder falsch ist!
- Nicht das eigene Glück anstreben, ohne auch das Glück der Anderen zu wollen!
- Bei der Durchsetzung der eigenen Freiheit die Freiheit der Anderen mit denken!
- Sei fair!
- Sei vernünftig!
- Sei verantwortlich!
- Trete ein für die Menschenrechte!
- Beachte: Der Andere könntest Du sein!
- Sei nachhaltig in deiner Existenz!
Wie wird moralischer Fortschritt wirklich? Indem den Ursachen von historischen und aktuellen Menschenrechtsverletzungen nachgegangen wird. Indem die Motive erkundet werden, die Menschen dazu gebracht haben und weiterhin dazu bringen, für Menschenrechte einzutreten. Der Autor zeigt dafür eine Reihe von Denkmustern und Modellen auf, wie dies wissenschaftlich erkannt werden kann, z.B. nach dem „Prinzip der austauschbaren Perspektiven“. Angeraten wird, sich auf das Abenteuer eines Perspektivenwechsels einzulassen: „Stell‘ dir vor, du bist…!“.
Moralischer Fortschritt hat Ecken und Kanten; weil moralisches Denken und Handeln immer verbunden ist mit Anstrengung und Herausforderung; weil unmoralisches Verhalten und das Böse überall sind; aber auch: Weil das Gute, das Positive, Hoffnungsvolle präsent ist (vgl. auch: 11.8.2015, www.sozial.de/woher-kommt-das-gute.html).
Fazit
Die Studie, in der Michael Shermer mit zahlreichen Analysen, Annahmen und Belegen für den moralischen Fortschritt eintritt, besticht durch die konsequente Betrachtung des optimistischen Zustandes der Weltlage Hier und Heute. Sie irritiert durch einen unerschütterlichen Fortschrittsglauben, der das Unglaubliche, Mächtige und Böse (scheinbar) ausklammert. Die Versöhnung freilich ergibt sich durch sein „evidenzbasiertes logisches Denken… (das) die Prinzipien objektiver Daten, theoretischer Erklärung, experimenteller Methodik, Begutachtung durch Experten…, öffentlicher Transparenz und offener Kritik, und ‚Versuch und Irrtum’ als dem verlässlichsten Weg (erkennt), herauszufinden, wer Recht hat“. Es ist erlaubt und anzuraten, positiv zu denken!
Die auf 65 Seiten ausgewiesenen Literatur- und Quellenhinweise, und die 37-seitige Bibliographie verdeutlichen den wissenschaftlichen Forschungsertrag!
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 27.02.2019 zu:
Michael Shermer: Der moralische Fortschritt. Wie die Wissenschaft uns zu besseren Menschen macht. Alibri Verlag
(Aschaffenburg) 2018.
ISBN 978-3-86569-285-6.
Grundner, Harald (Übersetzer) .
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/25201.php, Datum des Zugriffs 25.01.2025.
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