Jobst Paul: Der binäre Code
Rezensiert von Prof. Dr. Nausikaa Schirilla, 12.05.2020
Jobst Paul: Der binäre Code. Leitfaden zur Analyse herabsetzender Texte und Aussagen.
Wochenschau Verlag
(Frankfurt am Main) 2018.
160 Seiten.
ISBN 978-3-7344-0753-6.
D: 14,90 EUR,
A: 15,40 EUR.
Reihe: Politisches Fachbuch.
Thema
Mediale, politische und teilweise auch wissenschaftlichen Diskurse sind aktuell von Diskursverschiebungen hinsichtlich von Ungleichheiten und Wertigkeiten geprägt. Diese müssen sozialpsychologisch, politisch, ökonomisch, ethisch usw. thematisiert werden, aber es ist ebenso wichtig, deren sprachliche und ideologische Funktionsweisen zu verstehen. Dieser kurze Band soll als Handwerkskasten dazu dienen, den herabsetzenden Charakter von Texten zu erkennen und zu analysieren. Er versteht sich in der Tradition der kritischen Diskursanalyse und legt den Fokus auf die Wirkung von Kollektivsymbolen, der vor allem in ihrem binären Charakter besteht. Die Funktionsweise binärer Codes wird in zehn sehr praktischen Kapiteln mit zahlreichen Beispielen dargestellt.
Autor
Der Autor Jobst Paul ist Sprach – und Literaturwissenschaftler. Er ist Pädagoge und Autor und Mitarbeiter am DISS (Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung, dem für die Entstehung und Praxis der kritischen Diskursanalyse in Deutschland zentralen Ort.
Entstehungshintergrund
Jobst Paul möchte mit diesem Band einen ganz konkreten Beitrag zur Ergänzung des praktischen Instrumentariums der kritischen Diskursanalyse liefern, die sich an Wissenschaft und Bildungsarbeit richtet. Paul hat zu der in diesem Band dargestellten Kollektivsymbolik an anderen Stellen eher theoretisch gearbeitet und will an dieser Stelle einen praktischen Leitfaden vorlegen.
Aufbau
Der Band ist in zehn Kapitel aufgeteilt.
- Die beiden ersten Kapitel stellen eine kurze theoretische Einführung dar, in der ganz kurz auf die kritische Diskursanalyse eingegangen wird und dann vor allem das Konzept der Kollektivsymbole und des Binarismus dargestellt werden.
- Im dritten bis sechsten Kapitel werden verschiedene Elemente der Binarismusanalyse vorgestellt. Dabei wird das sprachliche Instrument der Herabsetzung als eine von drei Ebenen begriffen und der binäre Code – also wertende dichotomische Gegenüberstellungen wie beispielsweise ein Gegensatz von Mensch und Tier als ein Grundelement westlichen Denkens analysiert. Diese Analyse wird mit verschiedenen Charakterisierungen wie beispielsweise die WIR – SIE Gegenüberstellung inhaltlich weiter ausgeführt.
- Im siebten und achten Kapitel werden historische und aktuelle Textbeispiele gegeben und erläutert, wie beispielsweise Jonathan Swifts Yahoo und hate speech.
- Im neunten Kapitel geht es um visuelle Aspekte der Herabsetzung und im zehnten Kapitel befindet sich der eigentliche Leitfaden zur Textanalyse.
Eine Zusammenfassung und ein Anhang mit einem Überblick zu Formen der Herabsetzung verdeutlichen nochmal das Anliegen dieses Bandes.
Inhalt
Wie bereits erwähnt, steht Paul in der Tradition der von Jürgen Link und Siegfried Jäger mitbegründeten kritischen Diskuranalyse und greift aus deren Theoriefundus das Konzept der Kollektivsymbolik heraus. Damit sind rhetorische Bilder, Allegorien und Metaphern gemeint, die in einer Gesellschaft allen bekannt sind und in ihrer Bildhaftigkeit eine suggestive Kraft haben. Ihre Bedeutung besteht in der Bildhaftigkeit, aber ihre Wirkung wird erzielt durch ihre Benutzung in Binäroppositionen – also in sich ausschließenden Gegensätzen wie beispielsweise entweder Mensch oder Tier, zugehörig oder nicht. Diese Gegensätze enthalten Wertungen (gutes WIR und böses SIE) und markieren Positionen der Normalität und der Abweichung. Auf diesem Hintergrund möchte Paul das Wirken verschiedener herabsetzender Ideologien verstehbar machen, denn unabhängig davon, welche sozialen Gruppen in einer Ideologie herabgesetzt werden, Frauen, jüdische Menschen, Ausländer etc. – die Funktionsweisen der Herabsetzung sind dieselben. Pauls Anliegen besteht also darin, ein Instrument dafür zur Verfügung zu stellen, diskriminierende Verhältnisse in ihrer Vielfalt verstehbar und besprechbar zu machen.
Daher untersucht er sowohl rhetorische und sprachliche Mittel wie die binären Gegenübersetzungen als auch den gesellschaftlichen Kontext, in dem sie ihre Kraft entfalten. Macht von Sprache ist ihm zufolge immer gebunden an Macht und Gehorsam, das heißt an gesellschaftliche Machtverhältnisse. So sagt er über den Code der Herabsetzung_ „… seine Macht steht und fällt damit, ob man ihn tabuisiert belässt und ihn somit anerkennt oder ob man ihn enttabuisiert und damit seine Wirkung aufhebt“. (S. 16/17). Der Code der Herabsetzung bezieht sich auf verschiedene soziale Gruppen, somit enthält er austauschbare Vorwände oder scheinbare Begründungen. Der Code bleibt aber derselbe, da sein zentrales Element die Heransetzung darstellt. Dieser wird mit binären Aussagen über entgegengesetzte Kollektivsymbole (beispielweise [nur] Kopf oder [nur] Körper) erzielt. Paul zeigt mit verschiedenen sozialwissenschaftlichen Bezügen (wie beispielsweise das Milgram Experiment) wie Macht und Unterordnung in die westliche Gesellschaft eingeschrieben sind und belegt ebenso mit verschiedenen historischen Beispielen die Verankerung von binären Entgegensetzungen (Geist – Körper, Mensch – Tier etc.) in der abendländischen Geistesgeschichte. Die Aufrechterhaltung hierarchischer Strukturen im Denken ist gebunden an die Konstruktion von Minderheiten von Anderen, deren wesentliche Charakteristik in ihrer behaupteten Minderwertigkeit besteht. Rhetorische Elemente wie Feind, Dummheit/​Unbelehrbarkeit, ein vorzivilisatorisches wildes Fressmotiv sowie sexualisierte Phantasien liefern wichtige Bauteile für die Gegenüberstellung von höherwertigen WIR und minderwertigen Sie Gruppen. Pauls Leitfaden zur Analyse herabsetzender Texte sieht denn auch folgende Fragen vor:
- Haben die Texte herabsetzenden Charakter d.h. sind sie binär strukturiert?
- An welche archaischen Geschichten oder Kollektivsymbole wird angeknüpft?
- Was sind Erzählinhalte
- Mit welchen Erzählmotiven wird gearbeitet, d.h. was ist der Vorwand der Herabsetzung, welches Selbstportrait der Sprechenden spricht aus dem Text, welche Minderheiten oder welche Sie-Gruppen werden wie konstruiert, wie wird die Wir-Gruppe konstruiert und wie soll die WIR-Gruppe mit der SIE-Gruppe umgehen?
Diskussion
Trotz eines fehlenden Theorieteils werden die theoretischen Elemente einer Binarismus Analyse gut verdeutlicht. Aber die Auswahl der Beispiele und der historischen Bezüge wirkt willkürlich und wird nicht eigens erläutert, daher bleibt ihr Status unklar.
Fazit
Der besprochene Band ersetzt eine theoretische Auseinandersetzung mit herabsetzenden Texten nicht und diese bedarf einer guten Fundierung. Der Band liefert aber viele gute Hilfsmittel, das Wirken heransetzender Aussagen zu erkennen und auf das Wesentliche zu reduzieren, nämlich auf den Akt der Herabsetzung und sein Eingebundensein in eine Geschichte kollektiver Machtsymbole. Daher ist der Band in der Bildungsarbeit und als Reflexionsinstrument in den verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen in der Lehre sehr gut einzusetzen.
Rezension von
Prof. Dr. Nausikaa Schirilla
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Es gibt 41 Rezensionen von Nausikaa Schirilla.
Zitiervorschlag
Nausikaa Schirilla. Rezension vom 12.05.2020 zu:
Jobst Paul: Der binäre Code. Leitfaden zur Analyse herabsetzender Texte und Aussagen. Wochenschau Verlag
(Frankfurt am Main) 2018.
ISBN 978-3-7344-0753-6.
Reihe: Politisches Fachbuch.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/25206.php, Datum des Zugriffs 14.12.2024.
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